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Anstaltskleidung loswerden. Meine Neuerwerbungen brachte ich in einer billigen Sporttasche unter, dann machte ich mich auf den Weg nach Köln. Es war früher Nachmittag, als ich ankam. Als ich den Bahnsteig betrat, spürte ich zum ersten Mal wirklich meine Freiheit. Hier war ich oft gewesen, diesen Bahnhof hatte ich fast so gut gekannt wie meine eigene Wohnung. Das Gewirr der Geräusche, die vielen tausend Schattierungen von Grau unter der permanenten Dämmerung des alten Daches aus Stahl und Glas. Und nun war ich wieder hier. Ich konnte alles tun – ich war frei. Ich ließ mich durch die Menschenmenge auf dem Bahnsteig treiben und genoss es. Kurz vor der Treppe nach unten wurde ich ziemlich rüde angerempelt. Ich fuhr herum. Vor mir stand eine kleine alte Frau, die einen fetten Dackel auf dem Arm trug.

      „Was fällt …“, fing sie an zu keifen.

      Ich lächelte sie an. Sie verstummte. Der Dackel winselte und schob seine Schnauze unter ihre Achsel. Ich hielt das nicht für eine gute Idee.

      „Verzeihung“, sagte ich freundlich, ich war in Gönnerlaune.

      Sie nickte, wandte schnell den Blick ab und trippelte hastig an mir vorbei, die Treppe hinunter. Ich sah ihr nach und wartete darauf, dass sie stolperte und auf das fette Hundevieh fiel, aber sie tat mir den Gefallen nicht. Ich folgte ihr gemächlich und schlenderte an kleinen Geschäften und Aushängen entlang dem Ausgang entgegen. Keiner der Polizisten in der Halle nahm Notiz von mir. Ich verließ den Bahnhof, stieg hoch zur Domplatte und starrte einige Minuten lang den Dom an. Wenn man drei Jahre in immer derselben Umgebung zubringt, stets darauf bedacht, sich weder vom Irrsinn der anderen Patienten noch von dem des Personals anstecken zu lassen, vergisst man einfach ein paar Sachen. Zum Beispiel, wie der Kölner Dom wirklich aussieht.

      In einem Waffengeschäft kaufte ich ein kleines, zweischneidiges Messer, sehr schön, sehr scharf, sehr unauffällig und leider auch nicht billig. Im Pub wartete ich auf Mark. Eine junge Kellnerin kam vorbei, und ich bestellte Laphroaig vom letzten Rest des Geldes. Muss ich erwähnen, dass es in der Anstalt keinen Whisky gegeben hatte? Aber nun war ich frei. Ich nahm einen Schluck und genoss jede einzelne Nuance. Ich wollte gerade zum zweiten Schluck ansetzen, als Mark hastig um die Ecke bog. Ich erkannte ihn sofort. Immer noch dieselbe wirre Frisur, die wunderbar mit dem stets leicht irritierten Blick korrespondierte. Und immer noch dieselbe abgetakelte Lederjacke. Ich hatte ihm vor fünf Jahren zum ersten Mal geraten, sie wegzuschmeißen, und da hatte ich schon mindestens ein Jahr mit mir gerungen, wie ich es ihm beibringen könnte. Ich wusste nicht, ob er sich wirklich nicht verändert hatte oder ob er das alte Outfit angelegt hatte, damit ich ihn sofort erkannte. Er war wahrscheinlich der einzige Freund, den ich auf der Welt hatte, aber als ich ihn sah, wusste ich, dass ich auch keinen anderen brauchen würde. Es war dasselbe warme, glückliche Gefühl, ihn zu sehen, wie früher. Trotzdem löste ich das Messer im Halfter unter meiner Jeans, nur für den Fall, dass seine Gefühle nicht mehr die alten waren.

      Zu meiner Überraschung ging er achtlos an mir vorbei, obwohl ich sicher war, dass er mich gesehen hatte. Er setzte sich an die Bar und bestellte deutlich hörbar Bushmill’s. Irischen Whiskey, den er, wie ich genau wusste, hasste. Er trank ihn zügig, zahlte, ging auf die Toilette und verschwand wieder. Im Gehen rempelte er fast die Kellnerin an, die ihm verwundert nachblickte. Das Ganze hatte keine zehn Minuten gedauert. Verdattert sah ich ihm hinterher, dann kam mir eine Idee. Ich nahm die Treppe hinunter zur Toilette, wartete, bis ich alleine war, und sah mich um. Aber da war nichts, alles war wie immer – also genau wie vor Jahren, als ich zum letzten Mal hier gewesen war. Ich untersuchte die Spülkästen – auch da war nichts, keine Nachricht, keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass Mark etwas für mich hinterlassen haben könnte. Ich war fast schon wieder draußen, als mein Blick auf die gerahmte Replik eines Zeitungsartikels über den Revolutionär Michael Collins fiel, die neben den Waschbecken hing. Den IRISCHEN Revolutionär Michael Collins. Hinter dem Bild fand ich einen braunen DIN-A5-Umschlag.

      In einer der Toilettenkabinen öffnete ich das kleine Paket und schüttelte den Inhalt zwischen meine Beine auf den Klodeckel. Er war erstaunlich. Ein älterer Personalausweis mit meinem Bild – ich erkannte eines der Passphotos, die ich einige Wochen vor Sarahs Ermordung hatte machen lassen. Ich hieß, wie ich verblüfft feststellte, Sergej Hoffrichter, war am 8. März 1970 in Potsdam geboren und wohnte in Hamburg. Ich starrte das Dokument an, drehte es hin und her, befühlte es. Ich untersuchte es auf jedes Detail. Es wirkte absolut echt. Auf dem Klodeckel lagen außerdem ein Schlüssel zu einem Zimmer in einem der Hotels der Altstadt, fünfhundert Euro und ein zusammengefaltetes Stück Papier. Es enthielt eine kurze Notiz:

       „Sergej,

       ich werde wahrscheinlich beobachtet. Wir haben befürchtet oder gehofft, dass so etwas eines Tages passieren würde, und uns darauf vorbereitet. Gehe in das Hotelzimmer, es ist auf deinen Namen gemietet, und warte ab Mitternacht auf Besuch.

       Wir haben nichts vergessen.“

      Wer war „wir“? Egal – Sergej Hoffrichter … klang so schlecht gar nicht. Ich packte die Sachen zusammen und steckte sie ein. Es war noch lange nicht Mitternacht. Genug Zeit für ein paar Kilkennies, etwas Stew, noch einen Laphroaig und vielleicht eine Tasse Tee. Ich verließ den Pub gegen zehn. Zuletzt waren die Blicke der Kellnerin ob meiner anhaltenden Nüchternheit derartig ehrfürchtig gewesen, dass ich ein leichtes Schwanken simulierte, als ich das Lokal verließ. Es war eine schöne, nicht zu warme Sommernacht und ich war schon viel gelaufen an diesem Tag, aber ich genoss es nach den Jahren in Unfreiheit. Ich schlenderte beschwingten Schrittes die Friesenstraße hinauf, die Zeughausstraße entlang und immer Richtung Dom. Kurz vor dem Dom bog ich in die Altstadt ab. Ich kannte das Hotel von früher, als ich, in einem anderen Leben, häufig Kollegen dort einquartiert hatte. Es war eines jener angenehm anonymen Häuser für Geschäftsgäste. Freundlich desinteressierter Service, keine Fragen, sofern man am Ende korrekt zahlte. Ich nahm meinen Schlüssel gut sichtbar in die Hand und simulierte ein – diesmal deutliches – Schwanken, als ich das Foyer betrat. In weitem Bogen auf das Treppenhaus zuwankend orientierte ich mich: Frühstücksraum, Sauna, Schwimmbad, Rezeption, Aufzüge, Etagennummern. Der Nachtportier, ein müder Inder, schenkte mir einen kurzen, professionellen Blick, sah den Schlüssel und wandte sich wieder der Zeitung zu, die vor ihm auf der Rezeption lag. Er hatte garantiert schon Außergewöhnlicheres gesehen. Ich wankte ins Treppenhaus und stieg die Treppen hinauf, in die vierte Etage, ging dort einen kahlen Gang mit Krankenhaus-Charme entlang, bis ich Zimmer Nummer 425 fand. Das Licht ging automatisch an, als ich die Tür öffnete. Unter der blauen Tagesdecke des Doppelbettes lugten leuchtend zwei frische und gewiss duftig-kühle Kopfkissen hervor. Oh ja. Ich trat die Tür hinter mir zu und fiel im nächsten Moment bäuchlings auf das Bett. Ich schaffte es gerade noch, die Tagesdecke beiseitezureißen und das blütenweiße Innere zu entblößen. Ja, es war kühl. Ja, es duftete.

      Ich lag eine ganze Weile einfach so da und atmete diesen feinen Bettgeruch ein, bis mein Körper begann, mir klarzumachen, dass er über zwanzig Stunden gearbeitet hatte. Meine Füße waren schwer, ich roch meinen Schweiß und hatte ein pelziges Gefühl auf der Zunge. Müdigkeit kroch von allen Seiten über mich. Oh, jetzt einfach hier liegen bleiben, endgültig in Kühle, Duft und Weichheit versinken und dann mit neuer Kraft aufwachen.

      Noch nicht. Ich zwang mich zurück in die Welt und riss mir, noch bevor ich die Augen wieder öffnete, das verdammte Kopftuch ab. Es hatte mich schon genervt, fünf Minuten nachdem ich es umgebunden hatte. Ich knüllte es zusammen und wischte mir damit den Schweiß von der Stirn. Besser. Viel besser. Ich schwang mich auf den Bettrand, öffnete die Augen und sah mich zum ersten Mal richtig im Zimmer um. Es war zweckmäßig karg, aber nicht ganz unfreundlich. Dem Bett gegenüber war ein Schreibtisch an der Wand befestigt, auf dem sich neben dem obligatorischen Briefpapier auch der obligatorische Kuli, das obligatorische Telefon und der obligatorische Fernseher mit der obligatorischen Fernbedienung befanden. Links unter der Tischplatte die – obligatorische – Minibar. In der Wand rechts vom Bett ein großes Fenster, links ebenfalls eine Wand mit zwei Türen. Durch die eine war ich hereingestolpert, die andere führte ins Bad. Auf beiden Seiten des Bettes befand sich ein kleiner Nachttisch. Ich öffnete die Schublade. Klar. Das Neue Testament. Deutsch, englisch, französisch. Mir war das Alte lieber. Ich fand in dem Nachttisch außerdem zwei noch eingeschweißte Sandwiches (Truthahn und Schinken), eine Tüte Apfelsaft und einen verschlossenen

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