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war ein Anflug eines Gefühls zu erkennen. Befriedigung.

      „Das war nicht schwer.“

      Hand in Hand verließen die Kinder die Stätte des Brandes.

       Notiz Erin Simpsons für Christian Gerricke, 17. Juli

       (gefunden auf der leeren Seite des Bettes)

      Chris

      Doch, es ist aus. Während du neben mir geschnarcht hast, habe ich mal wieder nicht geschlafen, aber über die letzten sieben Monate nachgedacht.

      Tut mir leid, ich habe keine Lust, mir deinen ganzen Mist noch mal anzuhören.

      Deshalb haue ich jetzt ab. Du wirst finden, dass ich nicht mehr in meiner Wohnung bin. Ich gehe zu einer Freundin (nein, du kennst sie nicht, du kennst ja keine von meinen Freundinnen). Und dann gehe ich zurück nach Hause.

      Hast du gewusst, dass du grinst, wenn du schnarchst?

      FUCK YOU

      Erin

      Er erwachte mitten in der Nacht.

      Viele Kilometer von dem Ort entfernt, an dem ein zu Tode geängstigter Arzt gerade in Augen blickte, in denen er Wahnsinn zu sehen glaubte.

      Viele Kilometer von einem anderen Ort entfernt, an dem eine junge Frau gerade mit grimmiger Entschlossenheit im Blick und einer Sporttasche über der Schulter die Tür eines Mietshauses hinter sich zufallen ließ.

      Etwas war anders. Etwas beunruhigte ihn. Er versuchte zu ergründen, was es war, sandte seine Gedanken aus und fand nichts. Aber etwas stimmte nicht. Er erhob sich. War er zu träge gewesen?

      Er hatte geglaubt, er habe Zeit. Aber jetzt hatte er das Gefühl, dass er womöglich einen Fehler gemacht hatte. Wieder. Er zögerte eine Weile, aber er wusste, was er zu tun hatte. Wenn er nur gewusst hätte, warum.

      Er wühlte in einer Kiste, und jeder, der einen zufälligen Blick durch das Fenster des Wohnwagens geworfen hätte, hätte geglaubt, dort einen arg heruntergekommenen Mann zu sehen, der planlos suchte. Die Tarnung war so sehr seine zweite Natur geworden, dass er nie davon abließ. Aber auch daran würde sich etwas ändern müssen. Wenn seine Befürchtung zutraf. Er holte die Kugel aus der Kiste und rieb einmal behutsam mit einem Zipfel seines T-Shirts darüber. Nicht, dass das irgendwie nötig oder von Bedeutung gewesen wäre, er hatte es sich nur im Laufe der Zeit angewöhnt. Es half ihm, sich zu konzentrieren.

      Er setzte sich auf die schmutzige Matratze, schlug die Beine unter und legte die Kugel vorsichtig vor sich ab. Er versenkte sich in ihre Dunkelheit. Nach einer Weile glaubte er, das Heer zu sehen, viele Männer, die stumm und reglos seinen Blick erwiderten. Dann erschien hinter den Reihen etwas anderes. Etwas Rotes.

      Er beugte sein Haupt und betete es an.

      „Meister.“

      Dann lauschte er. Antwortete. Lauschte wieder. Antwortete. Lauschte. Antwortete.

      Später legte er die Kugel – nun wieder eine völlig klare Glaskugel – zurück in die Kiste. Dann zog er das schmuddelige T-Shirt und die fleckige Unterhose aus, ging in die Duschkabine des Wohnwagens und duschte zum ersten Mal seit Monaten. Er duschte lange. Er verließ die Kabine. Und während das Wasser schnell an seinem Körper trocknete, begann er sich zu rasieren, und das dauerte lange. Aber danach sah er so glatt und rosig aus und duftete so angenehm dezent nach Aftershave, dass niemand sich den struppigen Bart hätte vorstellen können, der noch vor kurzer Zeit in seinem Gesicht gewuchert hatte. Mit geschlossenen Augen, eine einfache Melodie summend, schnitt er freihändig seine üppige Haarpracht, bis aus der wilden Mähne eine gefällige Kurzhaarfrisur geworden war. Dann griff er in den Schrank und förderte neben weißer, frischer Unterwäsche eine sportliche, graue Baumwollhose, ein ebenfalls graues Polohemd, einen blauen Blazer, ein paar blaue Socken und helle Leinenschuhe zutage. Er zog sich rasch, aber ohne Hast, an. Aus einer Schublade kramte er eine Brieftasche und mehrere Kreditkarten, dazu etwa zehntausend Euro in bar und einen Autoschlüssel. Nach einem kurzen Moment des Überlegens legte er den Autoschlüssel wieder zurück, kramte noch ein wenig und wählte einen anderen. Er zog eine Reisetasche aus weichem Leder aus dem Schrank und füllte sie schnell mit Kleidungsstücken. Zuletzt nahm er die Kugel aus der Kiste, legte sie obenauf, schloss die Tasche und verließ den Wohnwagen, ohne sich umzublicken. Immer noch die Melodie summend ließ er den heruntergekommenen Campingplatz hinter sich, ging eine Zeitlang über Waldwege und kam dann zu einer Straße, der er folgte, bis er einen Parkplatz erreichte. Inzwischen dämmerte es. Er stieg in einen nachtblauen Volvo und fuhr davon.

      In dem Moment, in dem er den Parkplatz verließ, ging der Wohnwagen in Flammen auf und verbrannte gänzlich, mit allem, was darin war.

      Der Morgen fand mich am Rande der Landstraße. Ich ging zügig einem Ziel entgegen, das ich nicht kannte, einer Stadt namens Langenrath. Nach meinem glücklichen Entkommen aus der Klapse hatte ich aus einem überfüllten Container für Kleider- und Schuhspenden einige Säcke herausgerissen und mich notdürftig eingekleidet. Jeans zu groß, Schuhe leicht verschlissen und widerlich anzusehen, aber beides sauber. Es liegt dem Deutschen wohl im Blute, selbst seine Altkleider zu waschen, bevor er sie spendet, und dafür sind arme Flüchtlinge doch immer dankbar. Dann war ich mit Nachtzügen durch Nordrhein-Westfalen gefahren, planlos, um von vorneherein keine logische Spur zu hinterlassen. Ich war draußen, aber was nun? Es würde nicht lange dauern, bis man bemerkte, dass das Paradepferd im Stall fehlte. Dann würden ein paar Leute einige unangenehme Fragen beantworten müssen. Wie zum Beispiel: „Warum zum Teufel habt ihr den Irren nicht chemisch ausgeknockt und rausgeschleift?“

      Nun, ich kannte die Antwort, aber die würde denen, die sie geben mussten, wohl erst mal keiner glauben. Tatsache ist, dass man meinem Körper so ziemlich jede gebräuchliche Chemikalie ohne nennenswerte Wirkung zuführen kann. Ich hatte schon die tollsten Dinge geschluckt, ohne high zu werden, k. o. zu gehen oder zu sterben. Irgendwann würde ich mir vielleicht Abflussreiniger spritzen müssen, um einen kleinen Schwips zu bekommen. Diese Antwort würde also niemanden glücklich machen. Meine Freunde hatten ein Problem. Und ich natürlich auch, was das betraf. Allerspätestens heute Abend, vermutlich aber schon gegen Mittag, würde ich gehetzt werden, mit Bild in allen Medien. Ich musste schleunigst einen Weg finden, abzutauchen, sonst würde ich in 48 Stunden entweder wieder im Land des milden Lächelns oder in einem Sarg sein. Und ich hatte nicht mal eine Ahnung, den Wievielten wir hatten, geschweige denn, welchen Wochentag, für solche Dinge hatte ich mich zuletzt wenig interessiert. Ich wusste so gut wie nichts mehr von der Welt hier draußen, ein sehr dummer Fehler. Es nutzte nichts, Körper, Geist und Reflexe gesund zu halten und dabei den Kontakt zum wirklichen Leben zu verlieren. Ich kam mir vor wie ein Tourist in einer anderen Zeit. Ein Tourist, dessen Hose ständig rutschte und der scheußliche gelbe Schuhe trug. Auch daran musste sich schnellstens etwas ändern, andernfalls konnte ich mir genauso gut ein Schild umhängen: ACHTUNG! ENTSPRUNGENER IRRER!

      Zu allem Überfluss ging auch mein Geld zur Neige, da ich darauf geachtet hatte, bei meiner ziellosen Fahrt gültige Fahrscheine bei mir zu haben. Ich hatte überhaupt keine Lust, unverschämten Schaffnern heimleuchten zu müssen, weil sie meine Personalien wegen Schwarzfahrerei aufnehmen wollten.

      Ein Name tauchte aus der Erinnerung auf: Mark. Mark, der mich als Letzter und am längsten besucht hatte. Mark, mein Freund. Mark, der mir etwas schuldete. Er würde mir helfen.

      Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, es sei an der Zeit, auszusteigen. Es dämmerte. Der Bahnhof war winzig, ein Bahnsteig, zwei Gleise, ein paar Bänke, in der Mitte der Plattform führten zwei Treppen nach unten und das war’s. Ich sah auf das Schild. „Langenrath“. Ganz hinten im Kopf klingelte etwas. Vielleicht gab es eine Autobahnausfahrt, an der ich mal vorbeigefahren war, oder so etwas. Die Treppe führte in eine kurze und mit sinnreichen Graffiti („Achmed hat keine Eier“, „Ich will Tina B. figgen“)

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