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Lerner rekurriert (Wildemann 2010a; 2010b; Roth 2006).

       Die Diskussion und Entwicklung von Sprachförderung zielt vornehmlich zu einseitig auf die Beherrschung der Mehrheitssprache ab und ist damit primär defizitorientiert konzeptualisiert (dazu auch Ehlich 2009; Maas 2008; Wildemann 2010a).

       Dies alles geschieht auf einer noch unzureichend empirisch erschlossenen Grundlage im Hinblick auf Sprachaneignung, Sprachdiagnostik und Sprachfördermaßnahmen (dazu Redder 2011).

      Mit der Frage, inwiefern sich der Deutschunterricht an Schulen tatsächlich für die Idee einer Mehrsprachigkeitsdidaktik geöffnet hat, beschäftigte Marx. Unter Berücksichtigung des niedersächsischen Kerncurriculums sichtete sie Lehrwerke für den Deutschunterricht und unterzog diese einer genauen Analyse (Marx 2014, 12sqq.). Zwei der Ergebnisse wurden zur Darstellung herausgegriffen: „Erstens wird häufiger auf die kulturelle Diversität eingegangen als auf die sprachliche, und zweitens besteht schon bei dieser Erstanalyse ein deutliches Übergewicht des Englischen“ (Marx 2014, 14). Auf qualitativer und quantitativer Ebene beobachtete Marx viele Leerstellen. Es ist zunächst festzuhalten, dass die gesichteten Lehrwerke einige Anknüpfungspunkte für eine Didaktik der Mehrsprachigkeit anbieten, jedoch die Hinführung zu einer Sprachenbewusstheit nur schwach ausgeprägt ist. Ebenso inkonsequent aufbereitet ist die sprachreflektierende Arbeit (bspw. Reflektion von Lexemen, sprachvergleichende Übungen, sprachübergreifende Lern-, Schreib- oder Erschließungsstrategien) (Marx 2014, 17sqq.). Diese ersten Ergebnisse Verweisen auf den Umstand, dass mehrsprachigkeitsfördernde Konzepte die schulische Alltagsrealität noch lange nicht erreicht haben, auch wenn bereits sprachvergleichendes Material für den didaktischen Einsatz entwickelt worden ist.2 Aus der Perspektive von lehrpraktischen Überlegungen bedarf es aber einer Didaktik, die sich dem Wandel der Zeit zuwendet und die mehrsprachige Lebenswelt von Menschen stärker berücksichtigt bzw. ihre individuelle Mehrsprachigkeit nicht aus dem Blick verliert. Die Hinwendung zu allen Schülerinnen und Schülern unterstreicht die Idee einer Mehrsprachigkeitsdidaktik. Als weiteres Argument kann die Spracherwerbsforschung herangezogen werden, die unlängst durch zahlreiche empirische Studien die Bedeutung der Erstsprache für den Erwerb weiterer Sprachen belegen konnte (bspw. Cummins 1981; Brizić 2007). Diese Ressource nutzt mehrsprachigen Lernern „zum Erwerb einer Zweit- und Drittsprache, ganz im Sinne der Sprachbewusstheit (‚language awareness‘), um Verbindungen zwischen den Sprachen herzustellen und Gemeinsamkeiten oder Unterschiede transparenter werden zu lassen“ (Wiater 2006, 64). Die Rückbindung auf erworbene oder erlernte Sprachen entwickelt nicht nur das Sprachenbewusstsein, sie führt zudem „zu vertiefter Sprach(en)kompetenz (aller Sprachen, ob Erst-, Zweit-, Herkunfts- oder Fremdsprachen), zur Vorbereitung auf das Lernen weiterer Sprachen und zur Erhöhung der Sprachlernmotivation“ (Marx 2014, 9). Mehrsprachigkeit zielt darauf ab, individuelle Sprachbiographien ernstzunehmen und ein Bewusstsein für andere Sprachen und Kulturen zu entwickeln. Die Mehrsprachigkeitsdidaktik sucht nach Wegen, dieses Ziel zu erreichen. Die Frage nach adäquaten Unterrichtsmaterialien (u.a.) stellt weiterhin ein Desiderat dar, das im wissenschaftlichen Diskurs hochaktuell behandelt wird (Bredthauer 2019, 129), obschon es bereits erste Vorstöße in diese Richtung gibt.3 Die Sprachbiographie und Sprachlernerfahrung von neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler – dies gilt es zusätzlich zu bedenken – offenbart eine stärkere sprachliche und kulturelle Diversität als bisher berücksichtigt und die Frage nach didaktisch wirksamen Materialien ist auch mit Blick auf diese Schülergruppe virulenter denn je.

      4.1 Mehrsprachigkeitsdidaktische Ansätze am Beispiel der Interkomprehension

      Im Kern bedient sich die Mehrsprachigkeitsdidaktik des Mittels der Bewusstmachung bezogen auf das bereits vorhandene Wissen über die eigene Sprache und Kultur, wobei der Vergleich „eine Verbindung sprachlicher Wissensbestände“ herstellt (Wildenauer-Józsa 2005, 239; Brdar-Szabó 2010). Konzepte wie die Interkomprehension (Bär 2009), Translanguaging (bspw. García / Wei 2014) und Language Awareness (bspw. Neuland 2002, 5; Luchtenberg 1997; 2010) setzen eine Bewusstheit für Muster, Kontraste, Kategorien, Regeln und Systeme voraus bzw. werden durch sprachsensible Zugänge erst bewusstgemacht. Am Beispiel der Methode Interkomprehension soll dies näher expliziert werden. Der Terminus Interkomprehension, auch als Tandemkommunikation bekannt (Tafel 2009, 6), ist nicht leicht zu definieren (bspw. Meißner 1995). Tafel formuliert: „Unter Interkomprehension ‚gegenseitige Verständlichkeit‘ (frz. intercompréhension, engl. Mutual intelligibility, intercomprehension), versteht man eine Kommunikationstechnik, die es gestattet, in der eigenen Muttersprache mit einem Sprecher einer anderen Sprache zu sprechen. Sprecher A spricht bspw. Russisch und versteht Ukrainisch, Sprecher B spricht Ukrainisch und versteht Russisch“ (2011, 5, Hervorhebungen durch die Autorin). Das Konzept sieht also weniger die Vermittlung neuer Sprachstrukturen im Sinne des traditionellen Grammatikunterrichts vor als vielmehr die Aktivierung individueller Vorerfahrungen (sprachliches Wissen und Weltwissen), die durch die Sprecher und Sprecherinnen ins Spiel gebracht werden. In Verbindung mit dem Wissen über sprachliche Beziehungsgeflechte, die eine Zuordnung in eine Sprachfamilie erlauben, ergeben sich Synergieeffekte und somit auch eine mögliche Transferbasis. Im Falle des o.g. Beispiels ist die slawische Sprachfamilie der gemeinsame Nenner, auf den sich die beiden Kommunikationspartner stützen. Sofern also Schüler und Schülerinnen bereits eine Sprache der Sprachfamilie beherrschen, kann diese bezüglich der zu erlernenden Zielsprache die Funktion einer Brücken- oder Transfersprache einnehmen (bspw. Meißner 2007; Doyé 2010; Zybatow 2010). Die Förderung der Sprachenbewusstheit und der Sprachlernbewusstheit sind Merkmale von Interkomprehension, die sich erst entfalten kann, wenn der Lerner sich auf eine sprachliche Entdeckungsreise begibt (intrinsische Motivation als Voraussetzung) und selbstbestimmt bedeutsame Inhalte ins Gespräch bringt. Diese und weitere Merkmale bezeichnet Bär als Prinzipien interkomprehensiver Arbeit. Diese sind:

      1 das Prinzip der Bewusstmachung (kognitives Lernen)

      2 das Prinzip der Lernerautonomisierung (entdeckendes Lernen)

      3 das Prinzip der Authentizität (inhaltsorientiertes Lernen)

      4 das Prinzip der Rezeptivität (verstehensorientiertes Lernen). (2009, 33sqq.)

      Vorrangig werden „die rezeptiven Kompetenzen des Lese- und Hörverstehens sowie die Erarbeitung transferbasierter Erschließungsstrategien“ anvisiert (Wiater 2006, 61). Das didaktische Vorgehen folgt den sog. sieben Siebe. Diese Analyseschritte werden nach der Vorlage von Wiater (2006, 62sq.) vorgestellt. Sie sehen folgende Vorgehensweise vor:

      1 Absuchen des Textes auf enthaltenen internationalen Wortschatz.

      2 Suche im Text nach dem Wortschatz, der in der ganzen Sprachgruppe gemeinsam vorhanden ist.

      3 Ermitteln der für die Sprachgruppe charakteristischen Lautentsprechungsformen mit Hilfe von vorher erworbenen Kenntnissen über den Lautwechsel (historische Philologie).

      4 Untersuchen der Schreibweise (Grafie) und der Aussprachkonventionen.

      5 Analyse der Morphosyntax auf relevante grammatische Phänomene.

      6 Erfassung der Wortstellung und des Satzbaus.

      7 Beobachtung zu Präfixen und Suffixen anstellen.

      Neben diesen Teilfertigkeiten empfehlen Zybatow / Zybatow (2002, 89) die Aneignung von Wissen über die geographische Verbreitung von Sprache(n) sowie über ihre historische Entwicklung. Mit diesem Analyseverfahren ist somit ein Abgleich und das Feststellen von Besonderheiten zwischen der Erstsprache und weiterer Sprachen (Suchen nach internationalem Wortschatz in Texten, Ermitteln von Lautentsprechungen, Analyse von morphosyntaktischen Phänomenen, Syntax und von Präfix und Suffixen) (Wiater 2006, 62) umsetzbar.1 Ollivier / Strasser unterzogen das Konzept der Interkomprehension (IK) unter Berücksichtigung der Frage nach den hierfür notwendigen spezifischen Kompetenzen einer ausführlichen und kritischen Analyse. Das Ergebnis stellt sich wie folgt dar:

      Unsere Arbeit hat gezeigt, dass der IK eine komplexe plurilinguale Kompetenz zu Grunde liegt. Wichtige Komponenten einer solchen Kompetenz sind linguistische Kenntnisse und kognitive Fähigkeiten und Fertigkeiten. Diese sind als übergeordnete Kompetenzbereiche zu betrachten, die für jegliche Form der IK für besonders wichtig erachtet

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