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in der Frage um eine adäquate Vergleichsbasis in der Kontrastiven Linguistik und kann daher nicht ganz außer Acht gelassen werden und muss demnach zumindest angerissen werden.

      3 Mehrsprachigkeit – Versuch einer begrifflichen Einordnung

      Die Bildungs- und Schulpolitik hat ein besonderes Interesse daran, das Bewusstsein für Mehrsprachigkeit in allen Schulformen und Schulstufen (cf. Abschnitt 1) zu schärfen. In der terminologischen Auseinandersetzung mit dem Begriff Mehrsprachigkeit und den damit verbundenen Vorstellungen stellt sich bei Durchsicht der Fachliteratur bald heraus, dass die begriffliche Einordnung durchaus variiert, was damit zu begründen ist, dass die Forschung zur Mehrsprachigkeit aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen schöpft (bspw. aus der Spracherwerbsforschung, der Sprachlernforschung, der Psycholinguistik, der Soziolinguistik, der Erziehungswissenschaft, der Schulentwicklungsforschung, der interkulturellen Pädagogik, der Didaktik).

      Was genau wird mit „Mehrsprachigkeit“ assoziiert? Der weite Begriff von Mehrsprachigkeit geht auf Mario Wandruszka (1979) zurück, der in jedem Kind ein mehr oder weniger mehrsprachiges Individuum mit eigenem Idiolekt erkennt. Videsott formuliert allgemeiner und erläutert: “Der Terminus Mehrsprachigkeit bezieht sich in der Regel auf die menschliche Fähigkeit, in mehreren verbalen Sprachen zu kommunizieren und impliziert die Koexistenz mehrerer Sprachen innerhalb eines individuellen oder sozialen Systems“ (2006, 51). Beide Autoren tragen der weltweiten sprachlichen Vielfalt Rechnung, und betonen die kommunikative Fähigkeit eines jeden Individuums in mehr als nur einer Sprache. In der Auseinandersetzung mit der individuellen Mehrsprachigkeit (Fürstenau / Gomolla 2011) haben sich für die Forschung hinsichtlich der Quantität und Qualität von sprachlicher Kompetenz zahlreiche Leerstellen ergeben, woraus sich anhängende Fragen entwickelt haben. So bspw. die Frage nach der sprachlichen Qualifizierung, deren Beantwortung in der Forschung durchaus diametral entgegengesetzte Antworten zu Tage gefördert hat. Ist ein Sprecher dann mehrsprachig, wenn sich die Lesefähigkeit in einer zweiten Fremdsprache dem muttersprachlichen Niveau angenähert hat und somit balanced bilingual (balanciert zweisprachig) ist (Macnamara 1969), oder genügen nur wenige sprachliche Äußerungen (Edwards 2004), um als mehrsprachig zu gelten? Für Bertrand und Christ gilt jemand als mehrsprachig, wenn er „auf der Basis der Kenntnisse seiner Muttersprache eingeschränkte Kenntnisse in wenigstens zwei weiteren Sprachen entweder in gleichen oder in unterschiedlichen Diskursbereichen hat (um z.B. soziale Kontakte in gesprochener oder geschriebener Sprache aufnehmen oder Texte lesen oder Fachgespräche führen zu können)“ (1990, 208).

      In den Diskurs fließen weitere Forschungsthemen ein, so zum Erstspracherwerb, der sowohl monolingual wie auch bilingual (L1, 2L1) verlaufen kann, zur Zweitspracherwerbs- und Tertiärsprachenforschung sowie lerntheoretische Überlegungen (bspw. Behaviorismus, Nativismus). Es schließt sich auch die Frage nach der chronologischen Entwicklung von individueller Mehrsprachigkeit an. Der Sprachaneignungsprozess verläuft simultan oder sukzessiv, gesteuert in Lehr-Lernkontexten (bspw. Schule) oder ungesteuert im Rahmen alltagssprachlicher Kommunikationssituationen (Ahrenholz 2014, 5; Müller et al. 2011, 13sq.). Im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit fällt auch der Begriff „Migrationshintergrund“, dem eine Gruppe von Menschen zugeordnet wird, die eine andere Erstsprache als Deutsch sprechen. Allerdings sollte der Blick für jenen Umstand geschärft werden, der aufgrund dieser Zuordnung Lerner mit einer anderen Erstsprache als Deutsch irrtümlich als eine homogene Gruppe betrachtet. Chlosta und Ostermann weisen in ihrem Beitrag mit der Frage „Mehrsprachigkeit, Migrationshintergrund – Wer ist gemeint?“ auf diverse Schwierigkeiten hin, die dazu geführt haben, dass diese Zuordnung „Migrationshintergrund“ in eine Schieflage geraten ist, denn „die verschiedenen Untersuchungen orientieren sich nicht immer am Merkmal der Mehrsprachigkeit“ (2012, 17).

      Dies wurde zum Anlass genommen, um im Jahre 2002 eine erste Sprachenerhebung an Essener Grundschulen durchzuführen. Das im Bereich Deutsch als Zweitsprache/Deutsch als Fremdsprache an der Universität Duisburg-Essen verortete Projekt hatte zum Ziel, die bisher bekannten statistischen Angaben zum Migrationshintergrund um Daten hinsichtlich der in Schulen vorkommenden tatsächlichen sprachlichen Präsenz zu erweitern. Die Auswertung der Studie führte u.a. zu folgender Erkenntnis: „Die Zahl der Sprachnennungen übersteigt die Zahl der mehrsprachigen Schüler, da einige außer Deutsch zwei oder mehr andere Sprachen sprechen“ (ibid. 19). Ähnliche Ergebnisse erzielte auch eine in Hamburg angelegte Studie im Jahre 2003 (Fürstenau / Gogolin / Yağmur 2003). Auch wenn es sich um eine nicht auf Gesamtdeutschland übertragbare Studie handelte, so machten die Ergebnisse auf eine breite sprachliche Vielfalt von Herkunfts- und Familiensprachen aufmerksam und schärften das Bewusstsein für die individuellen Sprachbiographien. Im Sinne von Diversität und Inklusion ist ein verändertes Unterrichtsgeschehen nur konsequent. Mitzudenken sind in diesem Zusammenhang auch jene neu zugewanderten Schülerinnen und Schüler mit ihren sehr spezifischen biographischen und sprachbiographischen Verläufen, deren Teilhabe am schulischen Unterricht durch zusätzliche Faktoren (bspw. vorangegangene Alphabetisierung, bereits erfolgte oder nicht erfolgte Beschulung in den Heimatländern, Fremdsprachenkenntnisse) bestimmt werden. Die gesellschaftliche Realität zeichnet sich durch eine biographische und sprachliche Variationsbreite aus. Diese spiegelt sich in der 2005 verfassten Charta des „Europäischen Forums für Mehrsprachigkeit“, in der die Bedeutung von Mehrsprachigkeit für politische sowie wirtschaftliche Verflechtungen ebenso hervorgehoben wird wie für die Zivilgesellschaft. Mehrsprachigkeit gilt als Ausdruck demokratischer Werte und als „das wünschenswerteste und wirkungsvollste Kommunikationsmittel für den öffentlichen Meinungsaustausch. Es steht für Toleranz und Achtung vor Minderheiten und unterschiedlichen Lebensauffassungen. Sprachliche und kulturelle Vielfalt sind die Voraussetzung für ein europäisches Bürgerbewusstsein; sie sind wesentliche Bestandteile einer europäischen Identität“1.

      3.1 Mehrsprachigkeit und (Sprach)bewusstsein1

      Innerhalb der Mehrsprachigkeitsdebatte stellt der Begriff „(Sprach)bewusstsein“ (bspw. Wolff 2006, 51sqq.) eine nicht mehr wegzudenkende prominente Bezugsgröße dar, die als stabiler Faktor für die Entwicklung eines sensiblen und (sprach)bewussten Umgangs mit der eigenen sowie mit fremden Sprachen und Kulturen betrachtet wird. In einer gesellschaftlichen Konstellation mit demographischen Verschiebungen aufgrund von Zuwanderung, wie sie in vielen Ländern Europas, darunter auch Deutschland, Realität ist, gilt es, Sprachideologien abzubauen und im Gegenzug kontinuierlich Brücken zu fremden Sprachen und ihren unverwechselbaren kulturellen Nuancen aufzubauen. Unlängst hat die Europäische Union im Jahr 2000 in ihrer Charta (Artikel 21 und 22) zur Selbstverpflichtung auf Achtung der Kulturen, Religionen und Sprachen aufgerufen. Einige Jahre zuvor wurde im Weißbuch der Europäischen Union (1995) die Vielfalt der Sprachen hervorgehoben und zum Erlernen von Sprachen ermutigt. Der Blick auf den Begriff „Sprachbewusstsein“ aus soziolinguistischer und ideologiekritischer Perspektive sollte an dieser Stelle kurz angeschnitten werden. Aus soziolinguistischer Perspektive betrachtet, definiert Cornelia Stroh den Begriff wie folgt: „Darunter wird allgemein das Wissen gefaßt, eine bestimmte Sprache zu sprechen, das Wissen um ihre korrekte grammatikalische und soziale Verwendung und das Verfügen über Einstellungen und Bewertungen bezüglich Sprache“ (1993, 15).

      Die Linguistin hebt die subjektiven Erkenntnismöglichkeiten eines Individuums deutlich hervor, die aus den unterschiedlichsten Wissensbeständen resultieren, und ergänzt, dass eine direkte sowie indirekte Einflussnahme durch Aussagen und Meinungen von Sprechern und Sprecherinnen einer Gesellschaft bezüglich der Beurteilung von Sprache(n) das Sprachbewusstsein mitprägen (Stroh 1993, 16). Es handelt sich somit um ein soziales Phänomen, „das in Abhängigkeit von gesellschaftlichen und historischen Faktoren unterschiedliche inhaltliche Ausprägungen aufweisen kann“ (Stroh 1993, 17). Ihre Ausführungen untermauert sie mit dem mehrmehrdimensional ausgrichteten Modell zu Language Awareness, das auf James und Garrett (1992) zurückgeht. Das sind die Dimensionen:

      1 „Die kognitive Domäne, in der es um die Entwicklung von Bewusstheit für Muster, Kontraste, Kategorien, Regeln und Systeme geht.

      2 Die Domäne der Performanz, in der es um die Herausbildung einer Bewusstheit für die Verarbeitung von Sprache, aber auch um die Herausbildung einer Bewusstheit für das Lernen im Allgemeinen und das Sprachlernen im Besonderen geht. Für Letztere

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