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Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit. Группа авторов
Читать онлайн.Название Sprachkontrast und Mehrsprachigkeit
Год выпуска 0
isbn 9783823302544
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия Multilingualism and Language Teaching
Издательство Bookwire
Zumindest aus Sicht des Deutschunterrichts sprechen vier Argumente für einen herkunftssprachenberücksichtigenden Fachunterricht. Erstens eignen sich nicht-deutsche Herkunftssprachen für distanzdidaktische Ansätze in besonderem Maße, indem durch den Vergleich zweier Sprachen der Blick auf grammatische Strukturen des Deutschen distanziert in Kontrast zu einer anderen Sprache erfolgen kann. Aus diesem Grund profitieren auch monolinguale Schülerinnen und Schüler von der unterrichtlichen Einbindung der Herkunftssprachen, indem auch ihnen eine Distanzgewinnung zum Deutschen ermöglicht wird. Zweitens erlaubt der Einbezug nicht-deutscher Herkunftssprachen in den Deutschunterricht eine soziale Wertschätzung derjenigen, die mit einer nicht-deutschen Herkunftssprache sozialisiert wurden. Sie können als Expertinnen und Experten Auskunft zu sprachlichen und kulturellen Sachverhalten geben, die ihren Mitschülerinnen und Mitschülern nicht gleichermaßen zugänglich sind (Oomen-Welke 2011). Drittens kann der Einbezug nicht-deutscher Herkunftssprachen zu unterrichtlichen Ergebnissen führen, die ohne ihn nicht möglich wären: Der Vergleich bietet Einsichten in den Bau der Sprache, die bei einer rein einzelsprachlichen Fokussierung auf das Deutsche verborgen blieben (Rothstein 2010). Viertens kann der Einbezug der Herkunftssprache auch eine Lernhilfe darstellen, indem auf sie an relevanten unterrichtlichen Stellen zur Klärung von Unterrichtsthemen zurückgegriffen wird.
Demnach gibt es gute Gründe für das Angebot eines herkunftssprachenberücksichtigenden (Deutsch-)Unterrichts, doch birgt ein solcher Unterricht durch eine fehlgeleitete, unreflektierte Ansprache auch die Gefahr, die betreffenden am Unterricht teilnehmenden Herkunftssprachensprecherinnen und -sprecher zu überfordern, zu blamieren und/ oder zu stigmatisieren. Es sind daher inhaltlich gewinnbringende, für die Befragten erfolgreiche und wertschätzende Strategien der unterrichtlichen Einbindung von Herkunftssprachen erforderlich. Bisher liegen hierzu jedoch weder auf der Ebene von Plausibilitätsdidaktiken noch durch empirische Studien (kaum/nur wenige) Vorschläge vor.
Im Folgenden werde ich Bedingungen für die deutschunterrichtliche Einbindung von Herkunftssprachen diskutieren. Dazu stelle ich im zweiten Abschnitt zunächst den forschungsmethodischen Zugriff, die Kasuistik, vor, um im dritten Abschnitt fallbasiert sieben Bedingungen zu formulieren, denen die deutschunterrichtliche Einbindung der Herkunftssprachen unterliegt. Im vierten Abschnitt systematisiere ich diese Bedingungen anhand des didaktischen Dreiecks.
2 Kasuistik als hier notwendiger methodologischer Zugriff
Allgemein ist die empirische sprachdidaktische Forschung zum Deutschunterricht noch recht überschaubar (Stahns 2013, Jost 2019), wobei sich die Lage zu den einzelnen sprachdidaktischen Kompetenzbereichen unterscheidet: Während die Schreib- und die Lesedidaktik auf zahlreiche Studien und Modellierungen zurückblicken können (vgl. den Überblick in Becker-Mrotzek, Grabowski / Steinhoff 2017), ist die Anzahl empirischer Arbeiten in den Bereichen Grammatikdidaktik bzw. Sprachreflexion noch relativ gering (Binanzer / Langlotz 2018, Funke 2018). Die bisher weitgehend fehlende empirische Erforschung der unterrichtlichen Einbeziehung von Herkunftssprachen lässt sich jedoch nur zum Teil durch diesen die Empirie marginalisierenden Trend erklären. Vielmehr scheint es der Fall zu sein, dass aufgrund der Fragestellung und den vielen verschiedenen daraus resultierenden Einflussfaktoren ein kontrolliertes Design in der Gesamtperspektive nur schwierig durchführbar ist. Wie ich weiter unten argumentiere, spielen für eine erfolgreiche unterrichtliche Einbindung von Herkunftssprachen u.a. die schülerseitigen herkunftssprachlichen Wissensbestände und die jeweiligen typologischen Merkmale der Herkunftssprache eine bedeutsame Rolle. Bedenkt man nur, dass sprachliches Wissen u.a. von Aspekten der Sprachbiografie, des Erwerbsverlaufs, der Literalisierung, des Schriftspracherwerbs, der Ein-, Zwei- oder Mehrsprachigkeit, des Sprachkontakts, der Inputfrequenz etc. abhängt und dass die Liste sprachtypologischer Merkmale relativ groß ist, so wird deutlich, dass zumindest mittelgroße empirische Vorhaben durch die Komplexität relevanter, miteinander interagierender Einflussfaktoren überfordert wären. Um dennoch meine folgenden Überlegungen plausibilisieren zu können, fahre ich daher einen kasuistischen Ansatz.
Kasuistische Ansätze haben in der Geschichte der Wissenschaften, insbesondere in der Medizin und Jura, aber auch in der Pädagogik und Didaktik eine bemerkenswert lange Tradition (vgl. die Darstellung in Düwell / Pethes 2014). In Anlehnung an Steiner (2014) verstehe ich unter Fallarbeit bzw. Kasuistik „eine an Fällen orientierte Vorgehensweise des Lernens, Lehrens, Untersuchens und Forschens, die auf Erziehungs- und Bildungsprozesse im Kontext von Schule und Unterricht fokussiert ist und zum Zwecke der Veranschaulichung, Analyse, Rekonstruktion, Entscheidungsfindung, Planung, Entwicklung, Reflexion oder ästhetischen Rezeption eingesetzt wird“ (Steiner 2014: 8). In den Bildungswissenschaften und der Pädagogik ist die Kasuistik als Lehr-Lern-Methode beispielsweise in Konzepten wie dem gedächtnispsychologischen Case-based-reasoning-Ansatz (Zumbach / Haider / Mandl 2008), im situierten Lernen (Fölling-Albers et al. 2004), im problemorientierten Lernen (Reusser 2005) oder im pragmatisch-semiotischen Ansatz (Steiner 2004) aufgegriffen worden. Der einzelne Fall und allgemeine Gesetzmäßigkeiten stehen dabei in einem Wechselverhältnis, in dem das Allgemeine über den Einzelfall hinausgehen und an andere Fälle transferierbar anschließen kann und/ oder der Einzelfall über das Allgemeine hinausgehen kann (Forrester 2014).
Auch in der Deutschdidaktik hat die Kasuistik als Form der gegenstandsorientierten Hermeneutik eine lange Tradition, die mit der Orientierung an „didaktischem Brauchtum, am Rezeptwissen“ von Ausbildern und Unterrichtspraktikern beginnt (Rothstein / Rupp 2017: 34) und erst durch die PISA-Studie in den 2000er Jahren durch neue deutschdidaktische, von den empirischen Sozial- und Bildungswissenschaften beeinflusste Forschungstraditionen (in einem heftigen Streit) Konkurrenz erhält (vgl. die Beiträge in Abraham et al. 2003). Noch heute dauert die Kontroverse an:
Holzschnittartig könnte man folglich von einem – im Vergleich zu früheren, eher homogen strukturierten Epochen der germanistischen Sprach- und Literaturdidaktik – deutlich wahrnehmbaren Schisma zwischen Gegenstands- und Kompetenzorientierung sprechen. (Rothstein / Rupp 2017: 35)
Die kompetenzorientierte deutschdidaktische Unterrichtsforschung orientiert sich zumeist an empirischen Methoden der Sozial- und Bildungswissenschaften, deren Anwendung zu Ausmessungen von Lerneffekten führt. Die Messbarkeit und Modellierung entsprechender unterrichtlich bedingter Effekte wird durchaus kontrovers diskutiert (Bredel 2014, Bremerich-Vos 2014), was zu ihrer teilweise massiven Ablehnung führt. Die Kasuistik ist prinzipiell kein Widerspruch zur Kompetenzorientierung, sie kann sich durchaus auf messbare Lerneffekte beziehen, indem an exemplarischen Einzelstudien Lernzuwächse gemessen werden: Das ist beispielsweise bei qualitativen introspektiven nicht-verallgemeinerbaren Studien der Fall. Zu einem beträchtlichen Teil spielen schülerseitige Lernzuwächse bei kasuistischen Studien jedoch keine sonderliche Rolle, stattdessen:
Sachhaltig wird an spezifischen Fällen gezeigt, nach welchen Regeln sich alltäglicher Unterricht gestaltet, welche Prozesslogik ihn bestimmt und welche Handlungsalternativen sich bei jeder Entscheidungsstelle potenziell ergeben. (Pflugmacher et al. 2009: 373)
Prinzipiell schließen sich die empirische quantitative oder qualitative Forschung und die gegenstandsorientierte Hermeneutik nicht aus (Rothstein / Rupp 2017), sondern können einander ergänzen, insbesondere in Fällen wie unserem, in denen Lernzuwächse nicht ohne Weiteres kontrollier- und messbar sind und in denen es zunächst um lehrerseitiges unterrichtliches Verhalten geht, wofür „Handlungs- und Deutungspraktiken zu rekonstruieren und zu prüfen“ (Pieper 2014: 9) sind. Die im Folgenden kasuistisch angelegte Vorgehensweise lehnt eine kompetenzorientierte, empirische Messung nicht ab, sondern lädt geradezu ein.
Wie ich oben bereits diskutiert habe, eignet sich die Kasuistik in besonderem Maße zur Ermittlung von herkunftssprachlichen Einbindungsmöglichkeiten in den Deutschunterricht. Es stellt sich jedoch berechtigterweise die Frage, welche Art von Kasuistik der Fragestellung gerecht wird.