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Wer als Lehrkraft in einer deutschunterrichtlichen Behandlung das Modussystem anderer Sprachen reflexiv einbeziehen möchte, muss mindestens wissen, dass es Sprachen mit und ohne morphologisch distinkten Konjunktiv gibt (vgl. die Beiträge in Rothstein / Thieroff 2010). Eine Frage des Typs „Was drückt der Konjunktiv im Italienischen aus?“ verbietet sich aufgrund des dort fehlenden morphologisch distinktiven Konjunktivs. Italienisch bedient sich der Consecutio Temporum, der syntaktisch geregelten Distribution von Verbformen in bestimmten Kontexten, die ihm modale Lesarten erlauben (Squartini 2010). Anders gesagt: Im Italienischen besorgen Tempora in bestimmten Verwendungen den Job, den der Konjunktiv im Deutschen hat. Ein reflektierender Vergleich zwischen dem italienischen und dem deutschen Modussystem kann also nicht einen morphologisch distinktiven Konjunktiv zum Gegenstand haben, sondern muss bei den (relevanten) Funktionen ansetzen, die übereinzelsprachlich belegbar sind und diejenigen Formen identifizieren, die sie bedienen (vgl. Rothstein 2010 für ein entsprechendes Vorgehen beim deutsch-französischen Vergleich). Die Einbindung des Italienischen gelänge, wenn Consecutio Temporum und der deutsche Konjunktiv verglichen würden. Dass ein solches Vorgehen auch hohe schülerseitig zu erbringende Vorkenntnisse erfordert, sollte deutlich sein. In diesem Zusammenhang sollte die schülerseitige herkunftssprachliche Sozialisation sehr differenziert betrachtet werden, z.B. kann nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass die Herkunftssprache auch in der dritten Generation nach der Einwanderung weitergegeben wurde und ob sie daher schülerseitig „vollständig“ beherrscht wird bzw. ob eine Identifikation mit ihr besteht.

      Bedingung 4: Personenbezogene, schüler- wie lehrerseitige Hintergrundmerkmale bedingen die Möglichkeiten der Einbindung von Herkunftssprachen in den Deutschunterricht.

      Wurden die Schülerinnen und Schüler nicht oder nicht ausreichend schriftsprachlich in ihren Herkunftssprachen sozialisiert, so kann die schriftliche Einbindung ihrer Sprachen nicht gelingen. Sind sie wie im Fall (vii) nicht in der Lage, in ihrer Sprache zu lesen, so sind alle Versuche, sie zur Dekodierung relevanter schriftlicher Strukturen zu bringen, zum Scheitern verurteilt. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das herkunftssprachliche Schriftsystem stark vom deutschen Schriftsystem abweicht. Haben die Herkunftssprache und das Deutsche das gleiche Buchstabeninventar und ähneln sich die Graphem-Phonem-Korrespondenz-Regeln stark, so sind schülerseitige selbständige Transferleistungen aus dem Deutschen auf das herkunftssprachliche Schriftsystem eher möglich als in Fällen mit geringer Übereinstimmung (vgl. etwa Harweg 1989 für schriftsystematische Zusammenhänge zwischen verschiedenen europäischen Sprachen). Im Fall (viii) könnte sich folglich ein Schüler selbst eher das Lesen in seiner finnischen Herkunftssprache in Form von Transfer durch seine Lesekompetenzen des Deutschen beibringen als ein Schüler mit Russisch als Herkunftssprache, das eine andere Alphabetschrift als das Deutsche hat (vgl. Harweg 1989). In diesem Fall (ix) bedürfte es einer familiären, privaten oder institutionellen Unterstützung bzw. Anleitung, um herkunftssprachliche Lesekompetenzen zu entwickeln, oder zumindest der Bereitstellung von Materialien, um selbständig lesen zu können. Folglich muss gelten:

      Bedingung 5: Die mediale Präsentation der Herkunftssprachen (schriftlich vs. mündlich) regelt ihre Einbindungsmöglichkeiten in den Deutschunterricht.

      Ein weiterer relevanter Faktor ist die Art der schülerbezogenen Adressierung und das damit verbundene kommunikative Ziel der Einbindung der Herkunftssprachen: Werden die betreffenden Schülerinnen und Schüler als Expertinnen und Experten, lediglich als Informantinnen und Informanten oder gar als „Abweichlerinnen und Abweichler“ befragt?

      Die Rolle als „Abweichlerin und Abweichler“ ist stigmatisierend und kann durch Bemerkungen des Typs „bei Euch in eurer Sprache ist eh alles anders“ entstehen. Sie sollte nicht nur aus pädagogischen Gründen vermieden werden und scheint besonders in Fällen stigmatisierter Sprachen und Sprechergruppen der Fall zu sein. Brizić / Lo Hufnagl (2018) diskutieren beispielsweise Aussagen von österreichischen Lehrkräften zu Schülerinnen und Schülern mit Kurdisch und Romani, zwei Sprachen, die „lange Phasen der Verfolgung und Stigmatisierung durchliefen: das Kurdische u.a. in der Türkei, das Romani u.a. im ehemaligen Jugoslawien und Nachfolgestaaten“ (Brizić / Lo Hufnagl 2018: 224). Deutlich wird, dass die interviewten Lehrkräfte Herkunftssprachen nur in bestimmten Konstellationen positiver betrachten.

      Die Unterscheidung zwischen Expertin bzw. Experte und Informatin bzw. Informant hängt von der Art des schülerseitigen Zugriffs auf sprachliches Wissen ab. Sprachliches Wissen ist das „Ausmaß an Zugänglichkeit von sprachlichen Kenntnissen“ (Funke / Andresen 2003: 439), das je nach Verbalisierungsgrad unterschieden wird (u.a. Stude 2013, Krebs 2013): Explizites sprachliches Wissen ist „dasjenige Wissen, welches (im Gegensatz zum impliziten) bewusst zugänglich und verbalisierbar ist“ (Thißen 2017: 14). Seine Verbalisierung ist auf mindestens zwei Arten möglich (Schuttkowski et al. 2015): Das nicht-fachsprachlich realisierte explizite sprachliche Wissen wird ohne linguistische Fachsprache verbalisiert (z.B. „Hüpferung hört sich komisch an“). Entsprechend wird fachsprachlich verbalisiertes explizites sprachliches Wissen unter Rückgriff auf Ausdrucksweisen und Termini der Sprachwissenschaft realisiert (z.B. „Die Nominalisierung Hüpferung verstößt gegen die deutschen Wortbildungsregeln“). Schülerinnen und Schüler, die unterrichtlich auf explizites bzw. implizites herkunftssprachliches Wissen zurückgreifen können, fungieren im Fall (x) als Expertinnen und Experten bzw. Informantinnen und Informanten: Bekanntermaßen hat das Russische keine Kopula im Präsens (Gagarina 2014:232). Schülerinnen und Schüler mit russischer Herkunftssprache können durch den Vergleich mit dem Deutschen erkennen, dass in Sätzen wie „Peter wird Lehrer“ im Russischen kein Verb und folglich keine Kopula verwendet wird. Wenn sie dieses Wissen verbalisieren, kann dies fachsprachlich (z.B. im Russischen gibt es kein entsprechendes Verb) oder nicht-fachsprachlich („so was wie ‚wird‘ gibt es im Russischen nicht“) erfolgen. Als Expertinnen und Experten können auch solche Schülerinnen und Schüler im Fall (xi) fungieren, die über kein implizites herkunftssprachliches Wissen verfügen, aber in der Lage sind, fachsprachlich sprachliche Strukturen einer Herkunftssprache zu beschreiben, wenn ihnen das notwendige Datenmaterial zur Analyse der ausbleibenden Kopula „werden“ im Präsens in Form von Arbeitsblättern o.ä. zur Verfügung gestellt wird.

herkunftssprachl. Wissen nicht-verbalisierbar → implizit → InformantIn
verbalisierbar → explizit fachsprachlich → ExpertIn
nicht-fachsprachlich

      Tab. 1: Arten des herkunftssprachlichen Wissens und unterrichtliche Rolle

      Als Expertinnen und Experten befragte Schülerinnen und Schüler verfügen folglich über ein ausreichendes explizites sprachliches Wissen, um die erfragten Strukturen bzw. Einheiten adäquat beschreiben bzw. ggf. erklären zu können. Wenn das Ziel die Zuweisung einer Expertenrolle ist, muss darauf geachtet werden, dass ein entsprechendes schülerseitiges Verhalten möglich wird und dass es nicht an Überforderung scheitert. Ähnliches gilt auch für ihre Rolle als Informantin und Informant: Wer nicht in seiner Herkunftssprache lesen kann, kommt nicht als Informantin und Informant für zu lesende Einheiten in Frage.

      Bedingung 6: Die Adressierung der Herkunftssprachensprecherinnen und -sprecher als Expertinnen und Experten, Informantinnen und Informanten bzw. „Abweichlerinnen und Abweichler“ bestimmt die Möglichkeiten der herkunftssprachlichen Einbindung in den Deutschunterricht.

      Bei den Informantinnen und Informanten und denjenigen Expertinnen und Experten, die über ein implizites herkunftssprachliches Wissen verfügen, kann der unterrichtliche Zugriff auf ihre Herkunftssprachen zu schülerseitig rezeptiven und/oder produktiven herkunftssprachlichen Beiträgen seitens der Schülerinnen und Schüler führen: Sie können sich mit eigenen Beispielen einbringen bzw. unterrichtlich vorgegebene, d.h. von der Lehrperson mitgebrachte Beispiele vorlesen, nachsprechen oder erläutern. In einem rezeptiven

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