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meiner Sohnesliebe« Kaddisch zu sagen.26

      Morgensterns Verhältnis zu seinem Glauben blieb dennoch zeit seines Lebens zwiespältig. Obwohl nach jüdisch-orthodoxen Grundsätzen erzogen und in einem strenggläubigen Haushalt aufgewachsen, lebte Morgenstern als Erwachsener in Wien und später in New York assimiliert. Sein Sohn Dan schildert die Religiosität des Vaters folgendermaßen: »Mein Vater hatte eine sehr starke jüdische Identität […]. So sehr mein Vater sich auch mit dem Judentum identifizierte, hielt er sich nicht an die Rituale. […] Mein Vater wurde als Chassid erzogen, später lebte er assimiliert. Aber er blieb immer sehr an der Religion interessiert.«27 Auch Morgensterns Freund Al Hirschfeld bestätigt diesen Eindruck: »In gewisser Weise war er sehr religiös. Ich glaube, er ging nicht in die Synagoge, weil er nicht an organisierte Religion glaubte, aber er war ein bewußter Jude.«28 Morgenstern selbst äußert sich in seinem ›Amerikanischen Tagebuch‹ aus dem Jahr 1949 zu seinem Verhältnis zu Religion und Glauben: »Weil ich den ungeheuren Betrug, der mit ›Glauben‹ und ›Religion‹ getrieben wird –, immer getrieben wurde und immer getrieben werden wird – durchaus verabscheue, ja ich könnte sogar sagen: hasse. Dieser Abscheu ist so stark, daß ich, ein Gläubiger durch und durch, auch das Wort: Religion verabscheue. Gottseidank: in der Sprache der Hebräer gibt es dieses Wort gar nicht. Bei uns heißt es: Emunah = Glauben.«29 Dennoch tun sich Widersprüche auf zwischen Morgensterns tief religiösem Schreiben in einigen seiner Werke – immerhin wurden einige Passagen aus seinem Roman Die Blutsäule in ein jüdisches Gebetbuch für die Hohen Feiertage aufgenommen und zum festen Bestandteil der jüdischen Liturgie am Jom Kippur30 – und seiner assimilierten Lebensweise. Diese Widersprüchlichkeit zwischen Leben und Schreiben ist im Rahmen dieser Arbeit zweitrangig, da Morgensterns Verhältnis zu seinem Judentum in seinen ›autobiographischen Schriften‹ von sekundärer Bedeutung ist. Es wäre jedoch im Rahmen einer eigenständigen wissenschaftlichen Untersuchung und vor allem in bezug auf die Roman-Trilogie Funken im Abgrund und den Roman Die Blutsäule, in denen der jüdische Glaube eine zentrale Rolle spielt, von Interesse, diesem Widerspruch nachzugehen.

      Nach Beendigung des Gymnasiums ging Morgenstern im Herbst 1912 nach Wien und nahm dort, dem Wunsch des Vaters folgend, sein Jurastudium auf. In Wien begegnete er Joseph Roth wieder, den er bereits im Jahr 1909 in Lemberg auf einer Konferenz der zionistischen Mittelschüler Galiziens kennengelernt hatte. Es entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen Morgenstern und dem vier Jahre jüngeren Roth. Die beiden in Wesen und Charakter so unterschiedlichen Männer verband zum einen ihr großes Interesse an Literatur, zum anderen aber auch die Liebe zu ihrer ostgalizischen Heimat. Roth stammte aus Brody, das etwa 50 km nordöstlich von Lemberg und 60 km nordwestlich von Tarnopol, nahe der damaligen österreichisch-russischen Grenze liegt.31 Beider Freundschaft sollte drei Jahrzehnte, bis zu Joseph Roths Tod im Jahr 1939, dauern.

      Im Jahr 1913 wechselte Morgenstern aus unbekannten Gründen die Universität. Er ging nach Lemberg und absolvierte dort das Wintersemester 1913/14 und das Sommersemester 1914. Die politischen Ereignisse vom 28. Juni 1914 zwangen ihn zur Unterbrechung des Studiums. Überstürzt flüchtete er im August 1914 mit seiner Mutter und einer der beiden Schwestern vor den anrükkenden russischen Truppen aus der ostgalizischen Heimat und kehrte nach Wien zurück. Dort sah er sich mit einem Male mit der Situation konfrontiert, zu den Tausenden meist jüdischen Kriegsflüchtlingen aus den östlichen Grenzländern des Kaiserreiches zu gehören, mittel- und heimatlos: die erste Exilerfahrung.

      In Wien schrieb sich Morgenstern erneut an der Juristischen Fakultät ein, konnte das Wintersemester 1914/15 jedoch nicht abschließen. Im Dezember 1914 wurde er zum Kriegsdienst in der österreichischen Infanterie berufen. Sein Regiment, das Tarnopoler Hausregiment I.R. No. 15, war im steiermärkischen Wildon stationiert. Ab August 1915 war das Regiment an der Ostfront im Einsatz. Er überstand den Kriegsdienst in Ungarn und Serbien unversehrt und kehrte im Januar 1918 nach Wien zurück. Drei Jahre später, im Mai 1921, schloß Morgenstern sein Studium mit der Promotion zum doctor juris ab. Von diesem Titel sollte er allerdings keinen Gebrauch machen, hatte er doch niemals ernstlich erwogen, den Beruf des Juristen praktisch auszuüben. Vielmehr hatte er die Studienjahre in Wien dazu genutzt, seinen wahren Interessen nachzugehen. Neben den obligatorischen Juravorlesungen hatte er bereits in den ersten Studiensemestern auch Vorlesungen in Literaturgeschichte und Philosophie besucht. So heißt es in Joseph Roths Flucht und Ende: »Zum Beginn des Wintersemesters 1913 trafen wir uns [Morgenstern und Joseph Roth] bei den Vorlesungen über griechische Philosophie von Professor Heinrich Gomperz, dem berühmten Verfasser des Werks: Griechische Denker.«32

      Der Herausgeber Ingolf Schulte merkt zu dieser Schilderung Morgensterns an: »Im Typoskript steht: Leopold Gomperz. Morgenstern dürfte aber wohl den berühmten Gräzisten und Philosophen Theodor Gomperz, von dem das genannte Werk stammt, im Sinn gehabt haben. Der jedoch war bereits Ende August 1912 gestorben. Roth kam erst im Herbst 1913 nach Wien. So war es wohl Theodor Gomperz’ Sohn, der Philosoph Heinrich Gomperz (1873–1942); er lehrte seit 1904 als Privatdozent an der Wiener Universität und hatte im selben Jahr begonnen, sein dreibändiges Werk Die Lebensauffassung der griechischen Philosophen zu veröffentlichen. Bei ihm hatte Morgenstern schon in seinem ersten Semester, im Winter 1912/13, philosophische Prolektionen zur Ästhetik belegt, wie seine erste ›Nationale‹ (Stammrolle) für ordentliche Hörer der juristischen Fakultät aufweist.«33 Das starke Interesse an den geisteswissenschaftlichen Fächern war bei Morgenstern offensichtlich bereits sehr früh ausgeprägt und das Jurastudium von Anfang an ein eher halbherziges Unterfangen, um dem Wunsch des Vaters zu entsprechen.

      Nach Beendigung des Studiums änderte Morgenstern seinen Vornamen in ›Soma‹. Welche Beweggründe ihn dazu veranlaßt haben, den ursprünglichen Namen Salomo abzulegen, ist nicht überliefert. Morgenstern hat sich in seinen Texten nie dazu geäußert. Da er sich zu diesem Zeitpunkt endgültig dazu entschlossen hatte, eine literarische Laufbahn einzuschlagen, liegt die Vermutung nahe, daß er in der zunehmend antisemitischen Atmosphäre Mitteleuropas Repressalien infolge des jüdischen Vornamens Salomo befürchtet hatte, die ihm den Einstieg in die Literaturbranche erschwert hätten. Dieser Schritt, das Ablegen des jüdischen Vornamens, ist zudem Ausdruck jener assimilierten Lebensweise, die Morgenstern im Wien der zwanziger und dreißiger Jahre und auch später in New York pflegte.

      Morgenstern verdiente sich seinen Lebensunterhalt zunächst als Lehrer für schwerbehinderte Kinder.34 Er lebte zu jener Zeit »das Leben eines gemäßigten Bohémiens«, wie er es selbst in den Erinnerungen an Alban Berg nennt.35 Den fünf Jahre älteren Komponisten und Schönberg-Schüler Alban Berg lernte Morgenstern in eben jenen Jahren des Wiener Bohème-Lebens, im Herbst 1920, kennen. Es entwickelte sich eine enge Freundschaft, die 1935 durch Bergs frühen und unerwarteten Tod ein abruptes Ende fand.

      Morgenstern verkehrte in diesen Jahren in den zahlreichen Kaffeehäusern, die im Wien der Nachkriegsjahre Treffpunkt vieler namhafter Literaten, Musiker und Maler waren, und nahm rege an deren intellektuellen Auseinandersetzungen teil. Durch die Freundschaft mit Alban Berg hatte er zudem im Jahr 1923 die Bekanntschaft mit Alma Mahler gemacht, der Witwe des Komponisten Gustav Mahler und geschiedenen Ehefrau des Architekten und Bauhaus-Begründers Walter Gropius. Alma Mahler pflegte freundschaftlichen Kontakt zu prominenten Größen aus Musik, Literatur, Architektur und bildender Kunst. Ihr Salon in der Elisabethstraße war Treffpunkt zahlloser Künstler und Intellektueller der Wiener Zwischenkriegsjahre. Zu dem Zeitpunkt, als Morgenstern Alma Mahler kennenlernte, war sie mit dem Schriftsteller Franz Werfel liiert, mit dem sie im Jahr 1929 ihre dritte Ehe eingehen sollte. Auch Morgenstern verkehrte in Alma Mahlers Salon und blieb ihr bis zu ihrem Tod im Jahr 1964 in enger Freundschaft verbunden.

      Nach ersten literarischen Versuchen mit der Übersetzung von Stanislav Wyspiańskis Drama Sȩdziowie – Die Richter aus dem Polnischen ins Deutsche versuchte sich Morgenstern schließlich als Bühnenautor. Er verfaßte zwei Theaterstücke, für die sich allerdings keine Bühne fand und die beide unveröffentlicht blieben. Die Liebe zum Theater war bei Morgenstern bereits sehr früh geweckt worden. In den Kindheitserinnerungen beschreibt er den fahrenden Händler Jukel, der den Kindern im Dorf chassidische Geschichten vorlas. »Er [Jukel] war der erste Schauspieler, den ich als Kind erlebt habe. Er erzählte keine Geschichte. Er spielte Szenen. […]

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