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die im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen, bereits im Titel direkt auf Freunde verweisen – nicht von ungefähr handelt es sich dabei um die Freunde, die Morgenstern am nächsten gestanden haben dürften, den ebenfalls aus Ostgalizien stammenden Romancier Joseph Roth und den Wiener Komponisten Alban Berg –, zeugt von der zentralen Bedeutung, die den Freunden in den ›autobiographischen Schriften‹ zukommt, selbst wenn er den Titel Ein Leben mit Freunden schließlich verwarf. Diese Signifikanz wird keineswegs durch den Umstand geschmälert, daß die beiden anderen Bände der ›autobiographischen Schriften‹ keinen expliziten Verweis auf Freunde oder Freundschaft im Titel enthalten. Die Titel stammen nicht von Morgenstern, sondern wurden nachträglich vom Herausgeber der Edition, Ingolf Schulte, eingefügt. Daher lassen sich hieraus keine direkten Rückschlüsse auf Morgensterns Intention ziehen.

      Morgenstern hat im Laufe seines Lebens zahlreiche, langjährige Freundschaften gepflegt. In seinen Lebenserinnerungen berichtet er denn auch in erster Linie aus der Perspektive des Freundes. Aber auch in den Darstellungen seiner Zeitgenossen und Freunde wird Morgenstern überwiegend in seiner Eigenschaft als Freund – und hier vor allem als enger Freund und Vertrauter Joseph Roths – geschildert, weniger als Schicksalsgefährte und gleichermaßen ins Exil getriebener Autor. So schreibt die Schauspielerin und Schriftstellerin Hertha Pauli, die Morgenstern im Pariser Exil begegnete, in ihrer Autobiographie Der Riß der Zeit geht durch mein Herz: »Nie fehlten dort [an Joseph Roths Tisch im Café Tournon] Roths Jugendfreund Soma Morgenstern, ein Heimatdichter aus Galizien, von wo sie beide stammten, und eine schöne, dunkelhäutige Frau, die Roth wie ein Schatten durchs Exil begleitete.«12 Offenbar waren nicht nur die Freunde ein zentraler Punkt in seinem Leben. Auch umgekehrt wirkte er auf seine Umgebung besonders in seiner Eigenschaft als Freund. Der amerikanische Karikaturist Al Hirschfeld, mit dem Morgenstern in New York befreundet war, bemerkt: »Er war ein seltsamer, kreativer Mensch, ein wundervoller ›companion‹. Er hatte eine große Kapazität für Freundschaften. Viele Menschen hingen sehr an ihm.«13

      Bei aller verklärenden Stilisierung, die mit dem Titel Ein Leben mit Freunden verbunden ist, trifft dieser offensichtlich einen wesentlichen Charakterzug Morgensterns. Freunde scheinen tatsächlich eine entscheidende Rolle in seinem Leben gespielt, ihm gar als Familienersatz gedient zu haben. Dabei ist es nicht so, daß Morgenstern keine Familie gehabt hätte. Er war verheiratet und Vater eines Sohnes. Die Ehe bestand nach dem Krieg allerdings nur noch auf dem Papier. Das Ehepaar hatte sich auseinandergelebt. Aussagen des Sohnes Dan zufolge hatten sowohl die Mutter als auch der Vater außereheliche Affären. Die Ehe wurde jedoch nie geschieden. Von Morgenstern ist bekannt, daß er mit der Schauspielerin Lotte Andor und mit der Krankenschwester Nora Koster längere Liebesbeziehungen hatte. Näheres über Morgensterns Privatleben ist aus seinen Lebenserinnerungen nicht zu erfahren. Er selbst blendet diesen Bereich seines Lebens nahezu vollständig aus. Lediglich in den Tagebüchern, die nicht im Hinblick auf eine Veröffentlichung entstanden sind, erwähnt Morgenstern einmal »meine Freundin«, mit der er im August 1949 eine Reise nach Kanada unternahm.14 In den weiteren autobiographischen Texten spielen die eigene Familie und das Privatleben eine, wenn überhaupt, untergeordnete Rolle. Der Leser erfährt mehr Einzelheiten und Details über das Privatleben der Freunde Alban Berg und Joseph Roth, über Alban Bergs Frau Helene und die Frauen in Joseph Roths Leben, denen Morgenstern sogar ein gesondertes Kapitel seiner Erinnerungen widmet, als über Morgensterns Familie. Seine Frau Inge und der Sohn Dan erscheinen nur als Randfiguren, wenn es sich im Kontext einer geschilderten Begebenheit ergibt. Die Lebensgefährtinnen werden überhaupt nicht erwähnt.

      Die in Morgensterns autobiographischen Texten zu beobachtende Stilisierung und Idealisierung der Freundschaft ist kein Einzelfall in dieser Generation, die, um die Wende zum 20. Jahrhundert geboren, wesentlich durch die Erfahrung von Exil und Heimatverlust geprägt ist. Auch in den Lebenserinnerungen des deutschen Literaturkritikers und Philosophen Ludwig Marcuse findet sich eine ähnlich verklärende Darstellung der Freunde. Wie Morgenstern definierte auch der vier Jahre jüngere Marcuse seinen Lebens- und Wirkungsraum in erster Linie über seinen Freundeskreis und empfand demzufolge den Verlust der Freunde durch Emigration und Vertreibung als besonders schmerzvoll. In Marcuses ›Weg zu einer Autobiographie‹ Mein zwanzigstes Jahrhundert findet sich folgende Passage, die durchaus auch von Morgenstern stammen könnte: »Ich fühlte, wieviel in wenigen Tagen leergeworden war. Wer alt wird, dem bröckelt die Welt jeden Tag etwas mehr ab. Wir waren erst Mitte Vierzig – und schon war mein kleines All, das nicht so sehr von Sternen als von Freunden gerahmt ist, nur noch eine Ruine.«15 Lotte Andor, Morgensterns zeitweilige Lebensgefährtin, geht in ihren Memoiren einer unbekannten Schauspielerin, in denen ihr Verhältnis mit Morgenstern im übrigen ebenfalls keine Erwähnung findet, sogar noch weiter und schreibt: »Und doch bin ich auch in Deutschland nicht mehr zu Hause. Wie könnte es nach all den grausigen Begebenheiten anders sein? Bin ich also heimatlos? Ich glaube es nicht. Meine Heimat ist da, wo meine Freunde sind. Meine Hymne lautet: Freundschaft, Freundschaft über alles, über alles in der Welt.«16

      Allen drei Autoren ist das Erlebnis von Exil und Vertreibung gemein. Die Häufung der idealisierenden Darstellung von Freundschaft läßt einen Zusammenhang vermuten zwischen der Exilerfahrung und der Tatsache, daß sie den Freunden und der Freundschaft einen besonders hohen Stellenwert beimessen. Offenbar entspringt die Stilisierung der Freundschaft einem inneren Bedürfnis, das durch die Exilerfahrung hervorgerufen wurde. Die Freunde ersetzen die Heimat in der Fremde. Durch die Konzentration auf die Freunde wird der Verlust von Familie und Heimat weniger schmerzlich empfunden. Besonders deutlich wird dies in der zitierten Passage aus Lotte Andors Memoiren, die ihren Heimatbegriff nicht an ein bestimmtes Land knüpft, sondern ihn über die Freunde definiert. Inwieweit die Konzentration auf die Freundschaft nicht auch einer Wunschprojektion und einem stets retrospektiven Verschließen gegenüber der Realität und der Gegenwart entspringt, kann nur schwer nachgeprüft werden. Zumindest impliziert diese Sichtweise auch eine einseitige, ja strategische und selektive Darstellung des eigenen Lebens, denn die Schattenseiten des Lebens wie zum Beispiel die Existenz von Kontrahenten oder Widersachern – oder wie in Morgensterns Fall die gescheiterte Ehe und die außerehelichen Affären – werden ausgeblendet.

      Da Morgensterns ›autobiographische Schriften‹ nicht als ein in sich abgeschlossener Lebensbericht konzipiert sind, sondern als vier einzelne, eigenständige und in sich abgeschlossene Bände, wird der Anspruch einer lückenlosen, chronologischen und detaillierten Darstellung nicht erhoben. In jedem der vier Werke beleuchtet Morgenstern einen besonderen Bereich, eine besondere Phase seines Lebens.

      Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine Typologie von Morgensterns ›autobiographischen Schriften‹. Es geht hierbei nicht um eine detaillierte Textanalyse – diese würde den Rahmen der Untersuchung sprengen und sollte Aufgabe einer weiterführenden Beschäftigung mit diesem Komplex des Morgensternschen Œuvres sein –, sondern um eine Klassifizierung der Texte und um das Herausarbeiten der unterschiedlichen Herangehensweisen und literarischen Techniken, derer sich Morgenstern in den einzelnen Teilen seiner autobiographischen Aufzeichnungen und Veröffentlichungen bedient. Autobiographie, Memoiren, Erinnerungen – keine dieser Bezeichnungen vermag, den besonderen Stil Morgensterns autobiographischer Schriften hinreichend zu charakterisieren. Die unter dem Motto Ein Leben mit Freunden entstandenen Texte nehmen vielmehr eine Zwitterstellung ein zwischen Autobiographie, Lebenserinnerungen, Generationenbild, Biographie und Zeitdokument, die sich nicht eindeutig einer Kategorie zuordnen läßt, was im übrigen zu den formalen Eigenheiten der Autobiographie an sich gehört. So schreibt Georg Misch in seinem Beitrag über ›Begriff und Ursprung der Autobiographie‹: »Die Selbstbiographie ist keine Literaturgattung wie die andern. Ihre Grenzen sind fließender und lassen sich nicht von außen festlegen und nach der Form bestimmen. […] Und keine Form fast ist ihr fremd.«17

      Zur Charakterisierung der unterschiedlichen thematischen Schwerpunkte und literarischen Herangehensweisen, derer sich Morgenstern in den einzelnen Teilen seiner Lebenserinnerungen bedient, werden die Begriffe ›autobiographisch‹, ›chronistisch‹ und ›autofiktiv‹ eingeführt. Sie umreißen schlagwortartig die formale Spannweite, innerhalb derer sich Morgensterns autobiographische Texte bewegen. Die Dopplung des Begriffs ›autobiographisch‹ als generischer Überbegriff für alle vier Werke zum einen und als spezifische Klassifizierungskategorie für die Kindheitserinnerungen

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