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      Doch war seine Aufforderung, aus Hameln zu verschwinden, ein Befehl gewesen? Keineswegs, denn er hatte mir die Wahl gelassen. Daher beschloss ich, meine Nachforschungen ungebrochen weiter zu betreiben und dem Grafen dabei aus dem Weg zu gehen. So mochte ich den Willen des Herzogs erfüllen und mehr über das Verschwinden der Kinder erfahren, ohne mich den Anordnungen seines wirrköpfigen Statthalters auszuliefern.

      Von so klugem Entschluss erleichtert, machte ich mich auf, in der Schankstube eine Mahlzeit einzunehmen. Ich hatte seit dem Abend des vergangenen Tages nichts mehr gegessen, und mein Magen meldete sich mit allerlei Getöse.

      Ein einziger weiterer Gast saß an einem der langen Tische, ein junger Mann in der feinen Kleidung eines Höflings oder Ehrenmannes. Seine Anwesenheit überraschte mich, und ich konnte meine Neugier kaum bezähmen.

      »Verzeiht«, sagte ich, »ist es erlaubt, sich zu Euch zu setzen, mein Herr?«

      Er blickte erstaunt von seinem Bierkrug auf. Sein Gesicht war schmal, die Stirn auffallend hoch. Inmitten dieser Züge prangte eine scharf geschnittene Nase wie der Schnabel eines Raubvogels. Darüber blickten mir dunkle Augen aus tiefen Höhlen entgegen. Er war kein schöner Mann, nicht im Entferntesten, zumal sein Unterkiefer um einiges vorstand, gekrönt von einer wulstigen Unterlippe. Als er lächelte, machte ihn dies nicht hübscher, wenngleich höfliche Wärme aus seinem Mienenspiel sprach.

      »Natürlich«, sagt er, »setzt Euch nur.« Er sprach mit einem schweren südländischen Akzent, anders als Althea, die arabische Astrologin meines Herzogs, und dennoch vertraut in seinem merkwürdigen Klang. Da fiel es mir ein: Ein Schneider aus dem fernen Mailand hatte einst zu Hofe Halt gemacht und für einige der älteren, wohlhabenderen Ritter neue Gewänder angefertigt; seine Aussprache hatte ganz ähnlich geklungen.

      Ich stellte mich in aller Form vor, erwähnte auch, dass ich in einer Mission des Herzogs zugegen sei, und setzte mich ihm gegenüber auf eine der Bänke.

      Er sprang auf, verneigte sich tief und sagte mit gewinnendem Lächeln »Gestattet, Dante da Alighiero di Bellincione d’Alighiero. Ein langer Weg hat mich aus meiner Heimat Florenz hierher geführt.«

      »Dann seid Ihr ein Händler?«, fragte ich.

      Er schüttelte geschwind den Kopf. »Keineswegs. Nur ein Student und gelegentlicher Dichter.«

      »Ein Minnesänger«, entfuhr es mir erfreut.

      »Nicht ganz, edler Ritter. Meine Verse eignen sich schlecht zu melodischem Vortrag, und ein Instrument habe ich nie spielen gelernt.«

      Ehe ich etwas entgegnen konnte, trat Maria an unseren Tisch. Sie hatte die schmutzige Schürze abgelegt und das Kleid mit einem Band über den schlanken Hüften zusammengezurrt. Mehr noch als mir selbst schien dem jungen Florentiner ihr lieblicher Wuchs zu gefallen, denn er schenkte ihr ein Lächeln wie einer, dem die Freuden des holden Geschlechts nicht unbekannt waren.

      »Was darf ich Euch bringen, edler Herr?«, fragte sie an mich gewandt, den Blick fest auf die Tischplatte gerichtet.

      »Auch für mich ein Bier und eine Speise, die mich stärkt.«

      Sie nickte beflissen und wirbelte herum. Dabei streiften die Spitzen ihres langen Haars meinen Nacken. Eilig verschwand sie in der Küche.

      »Ein hübsches Ding«, bemerkte Dante.

      Ich zuckte mit den Schultern. »Es gibt viele wie sie.«

      »Schenken sie Euch alle so viel Aufmerksamkeit wie diese hier?«

      »Wie meint Ihr das?«

      Dante lächelte. »Ihr wollt behaupten, Ihr habt nicht bemerkt, wie sie Euch anschaut?«

      »Da müsst Ihr Euch irren, denn sie meidet es, mich anzusehen, wo sie nur kann.«

      »Natürlich, wenn Ihr es bemerken könntet. Doch hinter Eurem Rücken hängt sie mit feurigen Blicken an Euch.«

      Dies verstimmte mich ein wenig. »Ihr treibt Eure Scherze mit mir, Herr Dante.«

      »Weshalb sollte ich? Ihr seid ein Ritter des Herzogs, und einen besseren Verbündeten mag man sich an einem Ort wie diesem nicht wünschen.«

      Ich schüttelte unwirsch den Kopf. »Verratet mir lieber, was Euch an diesen Ort verschlug.«

      Maria brachte mein Bier, und ich gab mir alle Mühe, so gleichgültig wie nur möglich zu erscheinen. Dante bemerkte es sofort und schien sich ein Lachen zu verkneifen. Dann, nachdem das Mädchen fort war, sagte er vage: »Ich bin hier, um im Rahmen meiner Studien einige Forschungen zu betreiben. Und Ihr selbst?«

      Ich zögerte einen Augenblick und überlegte, ob es ratsam sei, ihm die Wahrheit zu sagen. Doch bei irgendwem musste ich mit meinen Fragen beginnen, und da war Dante so gut wie jeder andere. Zumal er nicht von hier war und ihm Dinge auffallen mochten, die Einheimischen entgingen.

      »Wie schon erwähnt, bin ich im Auftrag des Herzogs von Braunschweig hier«, begann ich. »Meinem Herrn kam ein Gerücht zu Ohren, dass in dieser Stadt vor drei Monaten, am 26. Tag des sechsten Monats, eine große Anzahl Kinder spurlos verschwunden sei.«

      »Einhundertunddreißig«, sagte Dante.

      »Ihr wisst davon?«, fragte ich verblüfft.

      »Die Gerüchte sind nicht nur bis an Euren Hof gedrungen. Doch sprecht erst zu Ende, dann werde ich mich erklären.«

      Trotz aller Verwunderung fuhr ich fort: »Nun, man spricht wirklich von hundertdreißig Kindern, die sich an einem einzigen Tag schier in Luft auflösten. Und mein bisheriger Weg durch die Stadt scheint das Gerücht zu bestätigen. Ich sah nicht ein einziges Kind in Hameln.« »Und Euer Herzog sandte Euch hierher, um herauszufinden, was mit diesen Mädchen und Jungen geschah?«

      »Allerdings«, entgegnete ich nicht ohne Stolz, »was mit ihnen geschah, und warum niemand eine Meldung darüber machte.« Denn so war es in der Tat: Nicht einmal der Graf von Schwalenberg als Statthalter des Herzogs hatte eine entsprechende Botschaft gesandt – worüber ich mich freilich nach der Begegnung mit ihm kaum noch wunderte.

      Dante nahm einen Schluck aus seinem Krug, ich tat es ihm gleich. »Dann wisst Ihr auch, was man sich über die Kinder erzählt?«, fragte er.

      »Ihr meint diesen Unfug über den Spielmann?«

      »Kein Spielmann«, verbesserte er mich. »Ein Rattenfänger. Die Hamelner Stadtväter beauftragten ihn, sie von der Rattenseuche zu befreien, welche die Stadt vor geraumer Zeit befiel. Mit seinem Flötenspiel führte er die Tiere in den Fluss, wo sie ertranken. Doch als er zurückkehrte, um seinen Lohn zu verlangen, jagten die Hamelner ihn davon. Im Schutz der Nacht aber kam er ein zweites Mal zurück, und diesmal lockte er die Kinder mit seinem Spiel aus den Häusern und führte sie durch einen Schlund im Kopfelberg, östlich der Stadt, direkt hinab in den Schlund der Hölle.«

      Ich konnte mich eines Lachens nicht erwehren. »Kein Wunder, dass man ihm die Bezahlung verweigerte. Fielen Euch nicht die zahllosen Ratten auf, die sich noch immer in den Gassen tummeln? Er kann seine Arbeit schwerlich gut gemacht haben.«

      Dante blieb zu meinem Erstaunen völlig ernst. »Ich bin nicht sicher, was von der Sache zu halten ist.«

      »Aber, guter Mann, wie könnt Ihr eine Mär wie diese ernsthaft in Betracht ziehen? Ich meine, das Volk ist schneller mit solchen Schauergeschichten zur Hand als mancher Räuber mit dem Messer.«

      »Sicher. Doch bedenkt, es ist kaum drei Monde her, dass die Kinder verschwanden. Weshalb sollte man in so kurzer Zeit ein solches Ammenmärchen erfinden? Weshalb sagt einem keiner die Wahrheit, falls es eine gibt?«

      »Ihr habt es versucht?«

      »Natürlich. Deshalb bin ich hier.«

      Meine Verwirrung mehrte sich mit jedem seiner Worte.

      »Ich fürchte, Herr Dante, Ihr müsst mir nun doch ein wenig mehr über Euch selbst berichten.«

      Dante lachte. »Ich bin nur ein Student, nicht mehr.«

      »Ihr

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