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      Er kicherte und hielt mich mit einer Geste zurück. Sogleich bedauerte ich mein ungestümes Wesen. Was hatte ich tun wollen? Ihn zum Kampf fordern? Einen alten Mann wie ihn?

      »Verzeiht«, bat ich und setzte mich wieder.

      »In meiner Jugend war ich ebenso wie Ihr, Robert von Thalstein. Aufbrausend, stets bereit, meine Kraft mit dem Schwert zu messen. Doch das ist lange her. Die Zeit der hohen Ritterschule ist längst vorbei. Wir kämpften einst um die Gunst der Damen, um Ehre und Ansehen, um die Liebe unseres Königs. Doch was ist davon geblieben? Sagt, wie wurdet Ihr in Hameln empfangen?«

      Ich zögerte, ihm die Wahrheit zu sagen, besann mich aber dann eines Besseren. »Ein Knecht des Bischofs erdreistete sich, mich zu maßregeln.«

      »Und, habt Ihr ihn erschlagen?«

      »Das war nicht nötig. Sicher hätte ich ihn –«

      Wieder unterbrach er mich. »Ja, ganz sicher. Ihr tatet es aber nicht. Glaubt mir, zu meiner Zeit wäre der Kopf des Narren gefallen wie das Laub im Herbst, noch ehe er begriffe, was mit ihm geschähe. Doch Ihr jungen Recken denkt, bevor Ihr handelt, und das ist recht so. Viel Leid bleibt dem Volk dadurch erspart. Doch mit der Unberechenbarkeit und Willkür der ritterlichen Macht ist auch ihr Ansehen geschwunden. Hinter vorgehaltener Hand spottet das Volk über Euch, im Geheimen treibt es Späße auf Eure Kosten – und auf die meinen, natürlich. Doch Ihr seid nicht gekommen, um einen alten Mann über Vergangenes faseln zu hören.«

      Seine Offenheit hatte mich überrascht, und nun tat es wiederum die Abruptheit, mit der er den Gegenstand seiner Rede wechselte. Ich räusperte mich und griff unter mein Wams. Aus dem Futter zog ich das Schreiben hervor, das man mir für den Grafen gegeben hatte. Es trug das Siegel des Herzogs und sollte ihn von Anstand und Ehre meines Trachtens überzeugen.

      Er zerbrach das Siegel und las den Brief langsam, schweigend und sehr genau. Seine Miene änderte sich nicht, sie blieb beinahe ausdruckslos; nur ein schwaches Flimmern wie von Erstaunen oder auch Ablehnung spielte um seine Augen.

      Schließlich lehnte er sich zurück, steckte den Brief ein und musterte mich mit verblüffender Schärfe. »Ihr wollt also wissen, was mit den Kindern geschah.«

      »So ist es.«

      »Ich glaube nicht, dass ich Euch dabei helfen kann.«

      »Ihr verwirrt mich«, sagte ich erstaunt, nur um gleich hinzuzufügen: »Es ist der ausdrückliche Wunsch des Herzogs, dass Ihr mich bei der Wahrheitsfindung unterstützt.«

      Der Graf erhob sich von seinem Stuhl. »Folgt mir.«

      Ich fürchtete, er wolle mich hinauswerfen, doch stattdessen trat er vor eine niedrige Holztür an der Südseite des Saales und öffnete sie. Dahinter waren in der Dunkelheit Stufen zu erkennen. Der Turm, dachte ich.

      Ich ging hinter ihm her, während er schweigend die schmale Wendeltreppe hinaufstieg. Das kühle Innere des Turms war stockfinster. Erst als der Graf oben eine weitere Tür öffnete, strömte graues Herbstlicht in die Schatten. Wir traten ins Freie.

      Sogleich umfingen uns wieder Regen und der Brandgeruch vom Marktplatz. Das Feuer musste längst gelöscht sein, und auch der Rauch löste sich allmählich auf, trotzdem klebte der rußige Gestank an den Dächern wie verbrannter Zuckerguss. Ein durchdringender Wind pfiff um die Zinnen. Nach Norden hin sah ich die weit hingestreckte Bauwüste, die von hier aus noch gewaltiger wirkte. Sie nahm in der Tat weit mehr als die Hälfte der ummauerten Stadt ein. Auch Marktkirche und Rathaus waren zu erkennen. Neben ihnen ragte die Mysterienbühne aus dem Dunst wie das Gerippe eines Ungeheuers. Die Dächer des Urdorfes lagen verborgen hinter Schwaden.

      Nach Westen hin blickten wir direkt auf den Stiftsbezirk. Eine klotzige Kirche hockte in seiner Mitte, um sie herum standen die Häuser der Stiftsherren, allen voran die Anwesen des Vogts und seiner Lakaien. Auch das Händlerviertel mit seiner geschwungenen Marktstraße bot sich meinen Blicken dar wie eine lockende Hure, prahlend mit billigem Tand.

      Gleich vor uns, im Zentrum der Plattform, stand eine merkwürdige Konstruktion aus hölzernem Gestänge, von der sich rechts und links lederne Schwingen abspreizten. In der Mitte befand sich ein Sitz.

      »Gütiger Himmel«, entfuhr es mir in plötzlicher Erkenntnis, »Ihr wollt doch nicht etwa versuchen, damit zu fliegen?«

      »Warum nicht?«, erwiderte der Graf fast trotzig.

      »Ihr seid der Statthalter des Herzogs«, entgegnete ich mit bebender Stimme. Bei Gott, wen mochte es wundern, dass niemand in die Dienste dieses Irren trat.

      »Euer Vorhaben ist das Tun eines Ketzers. Ist dies die Art und Weise, wie Ihr das Ansehen des Herzogs wahrt? Mit gottloser Blasphemie?«

      Da erschien brodelnder Zorn im Blick des Grafen.

      »Mein Junge, Ihr verkennt die Lage. Niemand hat hier in Hameln das Sagen außer dem Vogt.« Dabei fuhr seine Hand in einem ungelenken Wink über den Stiftsbezirk. »Meine Anwesenheit ist ein schlechter Witz, über den keiner mehr lacht. Die Stadt ist für den Herzog längst verloren, nur weiß er es noch nicht. Außer mir, einem schwachsinnigen Henker und zwei, drei Getreuen gibt es niemanden in Hameln, der auch nur einen Gedanken an den edlen Herzog im fernen Braunschweig verschwendet. Das solltet Ihr wissen, bevor Ihr Euch daranmacht, in dieser Stadt herumzuschnüffeln.«

      Ich erkannte, dass es keinen Sinn hatte, mit ihm zu streiten. Sein Geist war verwirrt, nichts würde ihn von seinem Irrsinn abhalten. So besann ich mich auf den eigentlichen Grund meines Kommens.

      »Was geschah mit den Kinder?«, fragte ich und stemmte mich gegen den Regen. Der Wind riss mir die Worte von den Lippen. »In Braunschweig hört man Gerüchte über hundertdreißig Jungen und Mädchen, die vor drei Monaten spurlos aus Hameln verschwanden. Sagt Ihr mir, wohin!«

      Der Graf blinzelte mich einen Augenblick lang an, dann wandte er sich wortlos um und stieg hinab in den Turm. Ich folgte ihm aufgebracht. »Ihr müsst es mir sagen, nur deshalb bin ich hier.«

      Graf Schwalenberg durchschritt den Saal im ersten Stock, eilte hinab ins Erdgeschoss und erwartete mich mit steinernem Gesicht an der Haustür. »Geht!«, sagte er, und es war viel mehr als eine Bitte. »Geht, und lauft in Euer Unglück. Oder reitet zurück zu Eurem Herrn und sagt ihm, Ihr hättet nichts erfahren können.«

      Ich bebte vor Entrüstung. »Er ist auch Euer Herr. Und seid versichert, dass er erfahren wird, wie Eure Antwort aussah.«

      Der Graf schnaubte gleichgültig. »Wie Ihr wollt, edler Ritter. Hameln hält mich längst gefangen, und wenn Ihr nicht eilt, wird es Euch bald ebenso ergehen.« Damit riss er die Tür auf und drängte mich ins Freie. »Reitet fort und fragt nicht mehr nach den Kindern. Vor allem aber kehrt niemals zu mir zurück. Ich werde Euch nicht einlassen.«

      Damit schlug er die Tür zu, und wieder stand ich im Regen. Doch diesmal spürte ich die Nässe nicht. Mein Körper loderte vor Hitze. Noch einmal fuhr mein Blick über die widernatürlichen Bildnisse auf der Vorderseite des Hauses, dann schritt ich erhobenen Hauptes zu meinem Pferd und stieg auf.

      Ein letztes Mal drehte ich mich um. »So handelt kein Ritter, Herr Graf. Hört Ihr? Ihr seid kein Ritter mehr!«

      Doch meine Wut wurde niedergedrückt vom Regendunkel, und jedes Wort verhallte ungehört.

      2. KAPITEL

      Das alte Dorf, jetzt fester Bestandteil der ummauerten Stadt, glitt mir durch Schleier aus Halblicht entgegen, als ich entlang des Weserufers nach Norden ritt. Ein einsamer Kahn schien herrenlos über den fahlen Spiegel des Flusses zu treiben. Weiter südlich sah ich die mächtige Steinbrücke, die das Wasser überspannte und hinüber zu den buckligen Wäldern auf der anderen Seite führte. Genau auf Höhe der Stadt teilte sich der Fluss und umschloss ein schmales, lang gestrecktes Eiland, öde und leer, wie der Kadaver eines Lindwurms, dessen aufgeblähter Rücken leblos auf den Wellen trieb. Zwischen Insel und Stadt hatten die Bürger Hamelns eine Reihe mächtiger Baumstämme in den Grund der Weser getrieben, um den Fluss aufzustauen und Boote aufzuhalten, die ohne Wegezoll vorüberfahren wollten. Nur durch einen schmalen

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