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      Judith ist Zahnärztin und lebt auf einer norddeutschen Insel mit ihrem Ehemann, einem Psychiater. Sie führen eine offene Ehe, was ihn aber nicht davon abhält, ihre wechselnden Liebschaften zu analysieren. Die Insel ist klein, neun Zwölftel des Jahres ist Nebensaison. Aber zweimal im Jahr fallen die Reichen ein, in der Hochsaison kommt Judith auch privat auf ihre Kosten: Sie ist Erotomanin, stets auf der Suche nach einer freien Sexualität, Männer warten bei ihr vergeblich auf Erlösung oder gar Liebe. Jetzt sind die Weihnachtsgäste abgereist, und ein vom Wintersturm angeschwemmter Eisblock treibt auf das an der Wattseite gelegene Warfthaus der Eheleute zu. So wie sich die Eismasse bedrohlich nähert, nimmt die Erzählung eine immer dramatischere Wendung, als sich ein von Judith präzis geplantes erotisches Rendezvous gegen ihre Erwartungen entwickelt.

      Ebenso mutig wie ironisch verhandelt Corinna T. Sievers das traditionelle Konzept von Liebe und weiblicher Sexualität, treibt ein Spiel mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen – »Vor der Flut« ist originell und spannend bis zum Schluss.

      »Ein mutiger Text, der explizit das Begehren einer Frau in einer so radikalen Perspektive benennt, wie man es eigentlich nur von Männern kennt, ein Text, der von Überschreitung handelt, einem Abweichen von der Norm, und der eine enorme Spannung erzeugt.« Hubert Winkels beim Bachmann-Bewerb 2018

      Inhalt

       Freitag

       Samstagmorgen

       Montag

       Dienstag

       Donnerstag

       Freitag

       Samstagmorgen

       Sonntagmorgen

      Freitag

      Die Praxis liegt in der Nebenstraße einer Fußgängerzone. Das Städtchen ist klein, nicht einmal zweitausend Einwohner, von Interesse: die Männer. Es dürften achthundert sein, Minderjährige abgezogen.

      Die Fußgängerzone ist klein, mein Arbeitsort ist klein. Ersetzt man das Wort klein durch armselig, es trifft in vollem Umfang zu. Immerzu windig, die Fenster stumpf von Salz.

      Aber die Insel, an deren Weststrand die kleine Stadt liegt, hat einen Ruf. Zweimal im Jahr fallen die Reichen ein, mit dem Flugzeug, mit der Bahn, mit der eigenen Karosse. Auch Reiche haben schlechte Zähne, die Fäulnis verborgen unter teurem Zahnersatz, je größer und weißer, desto besser.

      Zweimal im Jahr ist Hochsaison, sie währt ein paar Wochen, dann bohre ich im Akkord. Mir zur Seite eine Schar Gehilfinnen, angeheuert vom Festland. Einstellungsvoraussetzung: Unscheinbarkeit. Ein Großteil der Kundschaft sind Männer, ich teile nicht gern.

      Ich bin einundfünfzig Jahre, Zahnärztin und Nymphomanin.

      Meine Geschichte zu erzählen erfordert schonungslose Ehrlichkeit und Offenheit, mein Ich ebenso Studienobjekt wie dasjenige der gevögelten Männer, und auch der ungevögelten. Nur eine sorgfältige Untersuchung aller Beteiligten wird zur Auflösung führen, sei sie Versöhnung, Trennung oder Tod.

      Meine Krankheit: die Nymphomanie mit ihren unausrottbaren Wurzeln, ihren verschlingenden Trieben, ihrem alles verdunkelnden Schattenwurf und ihren Freuden.

      Aber es geht um mehr, um das Ringen der Geschlechter miteinander, um den Triumph des einen und den Untergang des anderen.

      Judith schlug Holofernes den Kopf ab, nachdem er sie gefickt hatte.

      Sie betrachtete die Liebe als Gefangenschaft.

      Es ist die Geschichte vom Ende meiner Ehe.

      Neun Zwölftel des Jahres sind Nebensaison, Nebensaison beschönigender Ausdruck für Unterbeschäftigung, Arbeit bestenfalls für zwei: mich selbst, zur Erscheinung später, zweitens Frau Peters, dreiundsechzig, kurzes graues Haar. Das schneidet sie selbst, ebenso die Nägel, dickwandiges Horn. Neben der Bürotätigkeit entfernt sie Zahnstein, saugt Speichel, fertigt Provisorien. Wir putzen gemeinsam, zweimal wöchentlich, in der Hauptsaison täglich, unterstützt durch eine Reinigungsfirma (männliches Personal, vorwiegend Migranten, nordafrikanischer Raum).

      Ende Januar sind die Weihnachtsgäste längst abgereist. Zwischen zweitem Weihnachtstag und Neujahr habe ich ein Viertel des Jahresumsatzes erwirtschaftet, in finanzieller Hinsicht wie in sexueller.

      Heute drei Patienten, guter Durchschnitt für einen Freitag in der Nebensaison. Ich könnte mehr bohren, würde ich weniger vögeln.

      Die drei allesamt Inselbewohner, Fischesser, aus gesundheitlichen Gründen wünschenswert, auch für den Zahnschmelz, als Geschlechtspartner unannehmbar, zum Geruchssinn der Nymphomanin später mehr.

      16.30, es ist stockfinster, vom Himmel vereinzelte Flocken, das Städtchen liegt im Norden, vom Polarkreis nur eine Tagesreise entfernt. Die Zahnarzthelferin hat abgerechnet (einhundertzwei Euro Umsatz), den einzigen Behandlungsstuhl desinfiziert, türkis, eine bei Zahnärzten beliebte Farbe, die Fensterläden sind geschlossen.

      Es hat mich eine Unruhe befallen, meine Unruhe ist elementar.

      Jedem Buch voraus geht eine andere Geschichte, der Großteil bleibt unerzählt, so auch jene Woche, bevor der Roman beginnt. Nur so viel: Ich bin, ausgesprochen gegen meine Gewohnheit, seit einer Woche ungefickt.

      Der Mangel ist existenziell, er lässt mich zusammenschrumpfen gleich einem Ballon, aus dem die Luft entweicht. Anstatt zu schweben, taumelt er zu Boden, die Haut tausend Runzeln, das defekte Ventil ist leicht auszumachen: meine Vagina. Einzig ein Stopfen verspricht Heilung. Ein Bild, das zu Recht lächerlich erscheint, in jeder Erzählung gibt es Fallstricke, unfreiwillige Komik beispielsweise, ohne Zweifel gehört der Stopfen dazu, dennoch: Es mangelt genau daran.

      Den Kittel ausgezogen, zu Boden geworfen, nach einem Arbeitstag wie diesem (dreimal foetor ex ore, lateinisch für Mundgeruch) trage ich ihn kein zweites Mal.

      Es klingelt. Der automatische Türöffner ist abgestellt, die Peters noch in Weiß, sie öffnet, vor der Tür ein großer Herr.

      Lassen Sie uns die Zeit anhalten. Für mich hängt alles vom ersten Augenblick, vom allerersten Eindruck ab: Innerhalb der nächsten Sekunden werde ich den Entschluss fassen, mich dieses Mannes zu bemächtigen oder nicht.

      Wenn auch in diesem speziellen Fall der aktuell bestehende Mangel meine Reizschwelle senken dürfte, der Liebesmangel.

      Der Fremde ist groß, annähernd einen Meter neunzig. Einzelheiten des Körperbaus entziehen sich, er trägt Mantel, Kamelhaar oder Kaschmirwolle, sandfarben. Seine Schultern hängen, nicht viel, aber ausreichend, um zu erkennen, die Rückenmuskulatur ist schwächlich, bestenfalls trainiert er unregelmäßig. Arme kurz. Den Kopf hält er gesenkt, sucht mit großen, wässrigen Augen meinen Blick. Sexueller Mangel auch bei ihm. Glauben Sie mir, ich sehe das.

      Die Lippen leicht geöffnet und feucht, wahrscheinlich Allergiker, er atmet durch den Mund.

      Kopfhaar ausreichend vorhanden, unvollständig geordnet (draußen stürmt es). Haarfarbe und Mantel harmonieren.

      Senfgelber Schal, mittelbraune, kürzlich polierte Budapester, Größe vierundvierzig oder fünfundvierzig.

      Das Doppelkinn unvollständig verborgen unter Kragen und Schal.

      Für

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