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verändert die seelische Struktur und beeinflusst damit das Erleben und Bewältigen aktueller Konflikte. Der Kontext des individuellen Erlebens oder Verhaltens ist entscheidend – einfache Kausalbeziehungen im Sinne eines »Wenn-dann« können daher nur sehr eingeschränkt gelten. Die »Mehrfachdeterminierung« menschlichen Verhaltens trägt dazu bei, gebildete Strukturen als Ergebnis eines Zusammenspiels vieler unterschiedlicher Faktoren anzusehen.

      Struktur beschreibt die wenig variablen Aspekte von Verhalten und Erleben, wie sie durch eine Fremdbeobachtung erfasst werden. Beobachter führen Verhalten weniger auf äußere Ereignisse zurück und berücksichtigen stärker Persönlichkeitsaspekte (»Sie kommt immer zu spät, weil sie die Aufmerksamkeit genießt, die sie damit kriegt«). Aus einer solchen Perspektive beschreibt Struktur ein Netzwerk zeitlich überdauernder, individuell ausgestalteter Repräsentanzen und Ich-Funktionen, mit dem intrapsychische und interpersonelle Prozesse reguliert werden (Arbeitskreis OPD, 2014). Struktur entsteht in Beziehungen – sie wird »gelernt« – in einem Wechselspiel von angeborenen Merkmalen (z. B. dem »Temperament« eines Kindes) und deren Aufnahme durch die Umwelt. Entwicklung führt zu – neuen oder veränderten – Strukturen. Vor allem bei Kindern ist daher deutlich zu beobachten, wie sich seelische Strukturen mit dem Alter ändern.

      Kenntnisse der altersentsprechenden Entwicklung von Strukturen sind daher von hoher Bedeutung. Zu wissen, welche Kompetenzen ein Kind in welchem Alter besitzt und erwirbt und mit welchen lebensphasentypischen Konflikten sich ein Kind, ein Jugendlicher oder Erwachsener auseinandersetzt, hilft dabei, andere zu verstehen und Schuldzuweisungen zu vermeiden. Nicht selten werden von Eltern oder anderen Bezugspersonen bei Kindern Fähigkeiten vorausgesetzt und verlangt (etwa zur Antizipation der Folgen des eigenen Verhaltens auf andere und zur Steuerung des eigenen Verhaltens aufgrund von Einsicht), die Erwachsenen nicht oder nur selten zur Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund wird in der klinischen und der pädagogischen Arbeit zwischen Struktur- und Konfliktmodell unterschieden. Diese Unterscheidung ist oft nicht leicht zu treffen. Mit ihr verbundene Schwierigkeiten werden besonders deutlich, wenn die Differenzierung von struktur- und konfliktbedingten Verhaltensweisen bei erwachsenen Menschen versucht wird.

      Ein Erfassen von inneren Konflikten (Konfliktmodell) erfordert als Grundhaltung ein empathisches Sich-Hineinversetzen in die Erzählungen eines Menschen, bei dem die Welt probeweise mit den Augen eines anderen gesehen wird. Diese empathische Betrachtungsweise entspricht der Selbstwahrnehmung eines Menschen und unterscheidet sich von der Position einer Fremdwahrnehmung (Strukturmodell). Aus der Position einer Selbstwahrnehmung oder eines empathischen Sich-Hineinversetzens in einen anderen werden Erlebens- oder Verhaltensweisen in der Regel auf äußere Ereignisse bezogen (»Ich bin zu spät gekommen, weil ein Stau war«). Die Perspektive auf den Stau (und vielleicht zukünftig dort auftretende Staus) ist für den Erzähler handlungsrelevant. Für den Fremdbeobachter sind dagegen die zeitlich überdauernden Merkmale der Person für die Vorhersage zukünftig zu erwartender Verhaltensweisen wichtig, die Persönlichkeitseigenschaften als ein Merkmal von Struktur (»Du kommst immer zu spät, weil Du nicht rechtzeitig losgehst«).

      Werden sowohl (empathisch) die Konflikte als auch (beobachtend) die mit der Persönlichkeit eines Menschen verbundene Verhaltensweisen untersucht, zeigen sich meist rasch Verbindungen zwischen konfliktbedingter und »struktureller« Entstehung von Verhalten. Ein – ursprünglich – konfliktbedingtes Vermeiden von Verhalten führt mit der Zeit zu einem Verkümmern der entsprechenden Fähigkeiten: Nicht genutzte kognitive und emotionale Bewältigungsstrategien verkümmern ebenso wie nicht aktiv bewegte Muskeln. Zugleich werden die Bewältigungsstrategien, die sich bereits bewährt haben, vermehrt eingesetzt und damit verbundene Verarbeitungsweisen weiter gebahnt. Diese können kurzfristig erfolgreich, aber mittelfristig unglücklich und dysfunktional sein. Dann kommt es zu einer Interaktion struktureller und konfliktbedingter Störungsanteile, die sich im Sinne eines »Teufelskreises« wechselseitig verstärken. Diese Interaktion lässt sich gut mit neurobiologischen Konzepten zur Plastizität des Gehirns darstellen: Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn unterliegen einer beständigen erfahrungsabhängigen Umorganisation. Für das vorhergehende Beispiel bedeutet dies, dass die nicht genutzten kognitiven und emotionalen Bewältigungsstrategien aufgrund des Nichtgebrauchs »entknüpft« werden und sich zugleich neue Verbindungen verknüpfen, die die Informationen der bewährten Bewältigungsstrategien enthalten. Die Differenzierung von Struktur und Konflikt ist daher aus biologischer und psychologischer Perspektive oft nicht klar zu treffen. Sie hängt auch von der Sichtweise des Untersuchers ab.

      Mit dem Berücksichtigen der Perspektive des Untersuchers als Beitrag zur Unterscheidung von Konflikt und Struktur werden auch Verbindungen zu den Sozial- und Geisteswissenschaften sichtbar. Sie können hier nur angedeutet werden. Die Vorstellung, dass ein Verstehen der eigenen Verhaltens- und Erlebensweisen vor dem Hintergrund der eigenen Lebensgeschichte einen Wert an sich darstellt, beruht auf der Idee einer Entscheidungsfreiheit, die sich aus diesem Wissen ableitet. Eine größere Freiheit im Handeln liegt in der Chance, Erlebtes nicht wiederholen zu müssen, sondern reflektieren zu können. Dies ist eines der übergreifenden Ziele des psychoanalytischen Arbeitens. Aus einem selbstverständlichen und nicht bewussten »So ist die Welt« soll ein »So war sie; sie kann auch anders sein und werden« entstehen. Gabriel García Márquez (»Leben, um davon zu erzählen«) beschreibt seine Wertschätzung dieses Erinnerns: »Nicht das, was wir gelebt haben, ist das Leben. Sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.« Er betont die Wichtigkeit, sich seiner Geschichte bewusst zu werden und sie erzählen zu können. Dabei werden zwei unterschiedliche Haltungen beschrieben:

      Archäologen und Architekten

      Es ist oft strittig, wann es sich bei der Rekonstruktion von Sinnzusammenhängen um eine Annäherung daran handelt, wie etwas tatsächlich gewesen ist, und wann es sich um eine »konstruktivistische« Sinnstiftung handelt. Aus konstruktivistischer Sicht kommt es vor allem auf die Kohärenz an, den in sich logischen, sinnstiftenden Zusammenhang einer sich entwickelnden Geschichte – nicht auf die Annäherung an eine mehr oder weniger objektive Wahrheit. Die »rekonstruktive« Sichtweise geht davon aus, sich der Wirklichkeit anzunähern: z. B. mit einem »Ich bin für Trennungen anfällig und muss solche Situationen sorgfältig handhaben; dies hängt damit zusammen, dass meine Mutter nach dem Tod meines Vaters depressiv war und ich mich in Situationen, die mich daran erinnern, hilflos und verlassen fühle, wie damals«. Eine mit dieser Sichtweise verbundene therapeutische Haltung wird mit der des »Archäologen« verglichen.

      Aus konstruktivistischer Perspektive kann es darum gehen, innerhalb einer diagnostischen oder therapeutischen Beziehung gemeinsam eine konsistente Geschichte zu konstruieren – eine Geschichte, mit der ein Patient in besserer Weise als zuvor zurechtkommt. So kann im Laufe einer Therapie aus einem »Ich bin ein Opfer meiner Eltern, die mich verlassen haben und kaum für mich da waren« etwas entstehen wie »Ich bin jemand, der Härten überstehen konnte«. Eine therapeutische Haltung, die nach »Nützlichkeit und Funktion« statt nach »Wahrheit« fragt, wird mit der eines »Architekten« verglichen.

      

      Zusammenfassung

      Die Vielfalt der psychoanalytischen Entwicklungsmodelle trägt mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen zu einem breit angelegten Verstehen von Entwicklungsaufgaben bei. Triebtheorie, Ich-Psychologie, Selbstpsychologie, Objektbeziehungstheorie, Bindungstheorie, relationale und strukturale Analyse beschreiben unterschiedliche Modelle des Psychischen. Sie sind mit jeweils eigenen Bildern von Kindern und Kindheit verbunden. Mit dem Bewältigen von Konflikten und Entwicklungsaufgaben entwickeln sich psychische Strukturen. Ob Verhalten eher unter dem Gesichtspunkt des Erlebens von Konflikten oder besser als Ausdruck struktureller Entwicklungen beschrieben werden kann, hängt auch von der Haltung des Beobachters und den Modellen ab, die er verwendet.

      Kritische Fragen an die psychoanalytischen Entwicklungspsychologie betrafen früher vor allem die Betonung der frühen Jahre für die Entwicklung eines Kindes. Die hohe Bedeutung dieser ersten Lebensjahre für die menschliche Entwicklung über die gesamte Lebensspanne wird inzwischen kaum noch bezweifelt. Aktuelle Fragen und Kontroversen beziehen sich auf die Bedeutung unbewusster Prozesse und Phantasien für die Entwicklung von Kindern,

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