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der Gesellschaft oder dem eigenen Bedürfnis nach Sicherheit. Ein unausgewogenes Verhältnis von Anpassung und Verzicht auf Befriedigung (zu viel oder zu wenig) wird als symptomauslösend betrachtet. Die Fähigkeit, sich eigene Wünsche in einer von körperlicher Befriedigung weiter entfernten, gesellschaftlich akzeptierten Form zu erfüllen (»Sublimation«), ist für Gesundheit und gesellschaftliche Anerkennung wichtig. Das »Fressen« von Büchern ersetzt dann das Essen großer Mengen an Nahrungsmitteln. Als entwicklungsfördernde Botschaft dieser Sichtweise kann vereinfachend formuliert werden: »Kinder – und auch Erwachsene – sollte man, soweit das geht, gewähren lassen, wenn man ihnen Gutes tun will«. Allerdings sieht die Triebtheorie auch die Notwendigkeit von zeitgerechten an die Entwicklung angepassten Enttäuschungen (»Grenzen«) vor, an denen gelernt werden kann.

      Die deutliche entwicklungspsychologische Ausrichtung innerhalb dieses Modells kann Therapeuten helfen, sich mit ihren Patientinnen und Patienten zu identifizieren und so emotionale Verbundenheit zu gestalten. Therapeut und Patient standen und stehen vor ähnlichen Entwicklungsaufgaben. Der Rückgriff auf diese Situation fördert Teilnahme und Empathie. Triebtheoretisch wird von abgrenzbaren Phasen der kindlichen Entwicklung ausgegangen. Mit der körperlichen Reifung stehen Kinder vor jeweils neuen Entwicklungsaufgaben mit charakteristischen interpersonellen Konflikten und Ängsten. Diese kindlichen Entwicklungsphasen werden in triebtheoretischen Konzepten beschrieben und dann zur kurzen Benennung von Verhaltensweisen Erwachsener verwendet. Manche dieser Begriffe sind in das alltagspsychologische Verständnis eingegangen. So beschreibt etwa »orale Phase« einen Zeitraum, in der Erfahrungen überwiegend über den Mund und das Saugen an der Brust gesammelt werden. Mit diesem Zeitraum werden Konflikte um das Annehmen von Versorgung und bestimmte depressive Verhaltensmuster in Verbindung gebracht. »Anale Phase« beschreibt die Zeit der »Sauberkeitserziehung« im 2. und 3. Lebensjahr mit Konflikten um Anpassung und Autonomie und mit einem Bezug zu zwanghaften Verhaltensmustern. Hier geht es um Konflikte im Bereich von Kontrolle und Unterwerfung, um Ordnung und Eigensinn. In ihrer alltagspsychologischen Kurzform wirken manche Begriffe der Triebtheorie »angestaubt«. Erst in Verbindung mit einem dynamischen Verständnis der für die Entwicklungsphasen charakteristischen Konflikte bleibt die enge Verbindung zum Körperlichen spannend und für die klinische Arbeit anregend (z. B. Müller-Pozzi, 2008). Aktuelle Modelle zum Verstehen somatoformer Störungen (z. B. Rupprecht-Schampera, 1997; Storck & Warsitz, 2016) beschreiben die Schicksale dieser Wünsche in Abhängigkeit von den Reaktionen der Umwelt.

      Beispiel: Klinisch kann ein Auftreten körperlicher Beschwerden (als »Mikrosymptome« in der therapeutischen Arbeit) als ein Versuch verstanden werden, das Erleben starker Affekte in der dyadischen Beziehung (z. B. Nähe und Bezogenheit zum Therapeuten oder Enttäuschungswut) über die Beschäftigung mit etwas »Drittem« (dem Symptom) zu regulieren. So wird eine andere Form der Beziehung zum Therapeuten hergestellt (eine trianguläre Struktur, siehe unten). Das aufmerksame Beachten des Auftretens von somatischen Mikrosymptomen trägt dann zum Verstehen von (triebnahen) Wünschen bei und erschließt biografische Aspekte (Wurden z. B. in der Familie starke Affekte dadurch moderiert, dass körpernahe Versorgungshandlungen oder Pflegehandlungen einsetzten?).

      Auch zum Verstehen und zur Differenzierung unterschiedlicher Formen depressiven Reagierens tragen triebtheoretische Konzepte bei.

      Die Ich-Psychologie beschreibt, wie sich die Bewältigung von Aufgaben über die Lebensspanne und unterschiedliche soziale Kontexte entwickelt. Das »Ich« vermittelt dabei zwischen Es (und den mit ihm verbundenen, oben beschriebenen »triebhaften« Wünschen), den verinnerlichten Anforderungen des Über-Ich und der Umwelt. Eine möglichst funktionale Abwehr mit den Fähigkeiten, sofortige Befriedigung aufzuschieben und Ängste zu bewältigen, bekommt hier eine große Bedeutung. Sie muss die subjektive innere Welt eines Menschen, seine Anpassung an wechselnde Anforderungen der äußeren Welt und die Realitätsprüfung berücksichtigen (A. Freud, 1936). Es wird davon ausgegangen, dass die Fähigkeit zur Anpassung, Realitätsprüfung und Abwehr in der Entwicklung langsam erlangt wird und sich mit der Zeit entfaltet. Die Ich-Psychologie beachtet besonders die Fähigkeit, sich auf unterschiedliche soziale Situationen einstellen zu können. Schwierigkeiten, sich an gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen anzupassen, werden als bedeutsame Ursache von Störungen betrachtet. Zusammengefasst und etwas vereinfachend kann diese Auffassung zu einem an Normen orientierten Denken führen, in dem eine nach bestimmten Kriterien »optimale« Entwicklungsförderung angestrebt wird. Die Kriterien selbst, so beschreiben es Kritiker der Ich-Psychologie, werden dann nicht mehr oder zu wenig hinterfragt. Aufgabe von Therapeuten ist es in diesem Modell, für die Entwicklung von Funktionen des Ich möglichst gute Bedingungen zu schaffen. In der therapeutischen Arbeit gefördert (und aus entwicklungsorientierter Sicht »nachentwickelt«) werden z. B. Fähigkeiten, auf sofortige Befriedigung von Wünschen zu verzichten (Frustrationstoleranz), Gefühle differenziert wahrzunehmen und für die Steuerung des eigenen Verhaltens zu nutzen (Affektwahrnehmung und Affektdifferenzierung), die Fähigkeit, Auswirkungen des eigenen Verhaltens auf andere zu antizipieren und die Toleranz gegenüber Unsicherheit und Uneindeutigkeit (Ambiguitätstoleranz). Auch Empathie mit anderen und mit sich selbst, die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen und eigene Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen, kann als eine solche Ich-Funktion beschrieben werden. Dieses Modell der Psychoanalyse ist in moderner Form der akademischen Entwicklungspsychologie nah und mit ihr gut kompatibel.

      Das objektbeziehungstheoretische Modell konzentriert sich auf die Geschichte unserer wichtigen Beziehungen in uns – auf die Bildung von Repräsentationen dieser Erfahrungen als innere »Repräsentanzen«. Kinder sind von Geburt an unterschiedlich und stoßen auf unterschiedliche familiäre und soziale Welten. Vorstellungen von anderen und damit einhergehenden Erwartungen werden vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen biologischen Voraussetzungen und sozialer Erfahrungen gebildet. Damit beeinflussen sie die Wahrnehmung und Bewertung zukünftig folgender Erfahrungen – und damit wiederum die Wahrnehmung von anderen und von sich selbst. Eine Einengung der Beziehungsmöglichkeiten auf wenige, sich wiederholende Muster wird als ein unglücklicher und pathogenetisch wichtiger Faktor betrachtet. Gut für Kinder und im späteren Leben für Erwachsene ist es daher, wenn Kinder feinfühlige und auch vielfältig unterschiedliche Erfahrungen in ihren Beziehungen machen.

      Das objektbeziehungstheoretische Modell ist in Deutschland vor allem durch die Arbeiten zu schwereren Entwicklungsstörungen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung von Kernberg (z. B. 1975) und über die Arbeiten von Melanie Klein bekannt geworden. Hier wird die Bedeutung genetisch verankerter Vorannahmen zu Beziehungen betont und zugleich auf die Rolle der Phantasie eingegangen, die das kindliche (und erwachsene) Erleben prägt und auch zur nachträglichen Überarbeitung und Bewertung von Erfahrenem beiträgt. Entwicklung ist in diesem Modell mit einer Integration zunächst aktiv getrennt gehaltener Erfahrungen – guter und schlechter Bilder von anderen und von sich selbst – verbunden. Besonders Melanie Klein hat bereits bei kleinen Kindern (in ihrem ersten Lebensjahr) ein reiches inneres Erleben mit der Wahrnehmung von Konflikten und der Abwehr bedrohlicher Vorstellungen beschrieben. Aus dieser Perspektive kann formuliert werden, dass es weniger wichtig ist, wie eine Mutter »wirklich gewesen« ist, als wie sie von diesem – individuellen – Kind erlebt wurde.

      Das selbstpsychologische Modell (Kohut, 1976, 14. Aufl. 2007) beschreibt die Entwicklung eines differenzierten und ganzheitlichen Gefühls für das eigene »Selbst« und die dabei zu bewältigenden Aufgaben. Ein anhaltendes Gefühl des eigenen Wertes entsteht bei der Selbstentwicklung innerhalb eines ausreichend guten Umfelds. Vor dem Hintergrund eines interindividuell unterschiedlichen subjektiven Erlebens werden die Entwicklung von Vorstellungen und Bildern von uns selbst und die damit einhergehenden Beziehungsmuster zu anderen Menschen dargestellt. Als Ursache von Störungen im Erwachsenenalter rücken überfordernde Enttäuschungen mit frühen Bindungspersonen, die sich nicht ausreichend empathisch auf das Kind einstellten, in den Vordergrund. Andere Menschen werden als das eigene Erleben stabilisierende Objekte – »Selbstobjekte« betrachtet. Dieser Aspekt menschlicher Beziehungen bleibt lebenslang wichtig. Lob und Anerkennungserfahrungen fördern eine gesunde Entwicklung. Enttäuschungen der kindlichen und für die Entwicklung notwendigen Größenvorstellungen sollten als gut verarbeitbare (»optimale«) Frustrationen erfolgen.

      Selbstpsychologische Konzepte sind hilfreich, um Störungen des Selbsterlebens und ihre interpersonellen

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