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ein paar Notizen in das Geheimbuch. Unter die Rubrik Briefe 1959 setzt er ein Kreuz, denn gestern hat Hermina, als sie von der Arbeit kam, einen Luftpostbrief mit hochgebracht. Nur sie besitzt einen Schlüssel zum Briefkasten. Noch im Mantel steckte sie sich eine Zigarette an, seufzte tief, setzte sich an den Küchentisch und las. Das dauerte nur eine halbe Minute, Franz schaute auf die Wanduhr, dann warf sie den Brief in den Herd.

      Franz fragt nicht mehr. Wenn Hermina die Augen zusammenpreßt und die Hand so an den Hinterkopf legt, weiß er inzwischen, daß keine vernünftige Antwort kommt. Als er noch kleiner war, konnte sie ihm die tollsten Geschichten erzählen. Er ahnt jedoch, daß das Verbrennen des Briefes eine notwendige Vorsichtsmaßnahme sein wird, um den Sohn der schönen Häuptlingstochter vor den Komantschen zu schützen.

      Nachdem Franz nichts mehr einfällt, das er in das Geheimbuch zu notieren hätte, nimmt er sich den ungeöffneten Brief mit dem Absender Maxim Wisniewskis wieder vor. Er kennt jeden Schnörkel der großen umständlichen und irgendwie schlecht zu lesenden Schrift. Obwohl sich Hermina vor nichts fürchtet, ist es doch Franz, der die Verantwortung trägt, das weiß er ganz genau, und eigentlich ist er auch kein Lügner. Es war nur so, daß er vorletzten Freitag, als die Schule erst um zehn Uhr anfing, vor dem Haus dem Briefträger begegnete. Der war eilig und überreichte im Vorbeigehen Franz den Brief, Post heute nur für euch, Bub, rief er, und Franz wurde es zuerst heiß, dann kalt und schwindlig, es war das erste Mal, daß er etwas, das direkt von seinem Vater kam, in den Händen hielt. Endlich wieder bei Besinnung steckte er den Brief in die Schulmappe, wo er ihn zwischen den Heften und Büchern ja leicht hätte vergessen können.

      Nachmittags notierte er die New Yorker Adresse sorgfältig in sein Geheimbuch, denn natürlich hatte er schon oft über eine heimliche Reise nachgedacht. Ihm kam die Idee, Maxims Schrift nachzumachen. In den großen, umständlichen Buchstaben schrieb er Maxim Wisniewski, bis sich das, was im Geheimbuch stand, nicht mehr von dem auf dem Umschlag unterscheiden ließ. Als Hermina abends nach Hause kam, fragte sie nicht etwa, ist der Briefträger heute morgen eilig gewesen und hat im Vorübergehen gesagt, Post heute nur für euch, Bub. Sie war an diesem Tag sehr zufrieden, erzählte beim Essen lustige Geschichten, wie sie im Krankenhaus passieren, und bevor sie schlafen gingen, spielten sie noch zwei Runden Halma, bei denen er Hermina absichtlich gewinnen ließ. Nach ein paar Tagen dachte Franz, dem es natürlich mulmig war, es sei ja nun ganz undenkbar, Hermina den Brief noch zu geben oder ihn selbst in den Briefkasten unten zu stecken, weil sie gewiß merken würde, daß es ein alter Brief war, und nachforschen würde. Diese Schande könnte Franz nicht aushalten. Die einzige Möglichkeit, die er noch hatte, war, den Brief im Herd zu verbrennen.

      Im Zimmer ist es schon düster geworden, Franz zittert ein wenig vor Kälte, der Küchenherd allein schafft es nicht, auch noch die beiden Zimmer zu heizen, die keine Öfen haben. Er schiebt die Schätzekiste unter sein Bett und geht in die Küche hinüber, den Brief nimmt er mit. Das Feuer brennt nicht gut, er zerknüllt Zeitung und stopft sie hinein. Wenn er den Brief verbrennt, so macht es ja keinen Unterschied, ob er ihn vorher geöffnet hat oder nicht. Von dem Brief wird nichts wirklich übrig bleiben, sondern nur das, was Franz im Kopf behält. Und es kann sein, daß eine lebenswichtige Botschaft darin steht, ohne die er und Hermina verloren sind. Als er die Stufen im Treppenhaus knarren hört, rennt er in sein Zimmer zurück und versteckt den Brief schnell unter der Matratze. Schließlich, halb unter das Bett gekrochen, ermutigt er sich. Es ist fast, wie er vermutet hat, trotzdem ist er enttäuscht. Der ganze Brief besteht aus Geheimschrift, jeder Buchstabe, pure Geheimschrift, so daß Franz nichts, gar nichts entziffern kann. Er steckt den Brief in die Schätzekiste zurück, tief unter die anderen Sachen.

      Franz kennt Herminas unmögliche Chefin im Krankenhaus, und er weiß über den unverschämten Hausbesitzer Bescheid, der nichts renovieren läßt, aber dauernd mehr Miete will. Wenn Tante Vera wieder geseufzt hat, bei uns könntet ihr es so gut haben, heult Hermina oft schon auf dem Nachhauseweg in der Straßenbahn und dann noch den ganzen Abend lang, und Franz bringt ihr Kamillentee ans Bett und setzt sich daneben, bis sie aufhört zu zittern und einschläft. Immer sorgen sie füreinander. Sie hätte gerne, daß Franz häufiger hinausgeht, daß er Fußball spielt und Kameraden hat, statt dauernd über Büchern zu hocken. Der Schularzt hat gesagt, Franz sei zu dick, er brauche mehr Bewegung. Franz selbst hat nur ein einziges Problem, aber soviel er es im Kopf auch probiert, die Wörter kommen nicht heraus. Seit er nicht mehr klein ist, erzählt ihm Hermina keine wunderbaren Geschichten mehr über den Vater, daß es ihn überhaupt gibt, beweisen nur die Briefe. Er fragt Hermina auch dann nichts, als er in der neuen Klasse auf dem Gymnasium hört, wie ein Mitschüler einem anderen laut und so bedeutungsvoll zuflüstert: Juden sind immer die Klassenbesten.

      Franz weiß vom Religionsunterricht, daß es in der Bibel um Juden geht. Aber sicherheitshalber schlägt er im Lexikon des verstorbenen Herrn Mumbauer nach, es riecht noch neu, ganz unbenutzt. Unter einem Bild, auf dem drei bärtige Männer mit Hüten gehen, steht: Orthodoxe Juden aus Munkatsch (Karpato-Ukraine) mit der übernommenen Tatarenkleidung (Talar und Fellmütze). Wie soll Franz das mit sich und seinen guten Noten in Verbindung bringen? Juden sind ein Rassengemisch vorderasiatischer und orientalischer Semiten. Und weiter unten: Die sagenhafte Vorgeschichte des Volkes Israel beginnt nach der Bibel mit Abraham, der um 2140 v. Chr. von Mesopotamien nach Kanaan (Palästina) auswanderte, den Monotheismus und die Beschneidung einführte und dessen Enkelsfamilie (Jakob) Israel sich in der ägyptischen Prov. Gosen ansiedelte. Es ist viel zu viel, um sich alles zu behalten und um es dann oben ins Geheimbuch zu schreiben. Frau Mumbauer wird noch eine Weile in ihrem Schlafzimmer bleiben, und Franz macht etwas, was er sonst noch nie getan hat. Er faltet eine scharfe Kante und trennt die Seite vorsichtig aus dem noch völlig unbenutzten Lexikon heraus. Von nun an hat Franz viel Gelegenheit, seine Sammlung über das Judentum zu erweitern, im Heraustrennen wird er immer ungenierter. Sein Geheimbuch ist bald vollgeschrieben und beklebt, heimlich kauft er sich ein neues, in dem er nun systematisch alles, was er in Erfahrung bringt, nach Jahreszahlen ordnet. Ein paar Mal geht er sogar mit Onkel Sepp auf die Jagd, um ihn zum Erzählen zu bringen, und er spitzt die Ohren, wenn sich Hermina und Tante Vera in der Küche unterhalten. Eins paßt zum andern, endlich durchschaut er die Anläufe, die Hermina nimmt, um mit ihm offen zu sprechen, aber er tut naiv und macht ihr damit absichtlich das Leben schwer. In das Geheimbuch schreibt er mit roter Tinte schlimme Schwüre.

      Als er vierzehn ist, sagt er ihr, daß er alles weiß, auch woher sie die Nummer hat. Zum Beweis legt er ihr das Bild einer nackten und zum Skelett abgemagerten Frau, die einen irren Blick hat, vor. Darunter steht, Bergen-Belsen am 15. April 1945, das Photo wurde unmittelbar nach der Befreiung des Lagers von einer britischen »Film and Photographic Unit« aufgenommen.

      Ist es so mit dir auch gewesen? Wochenlang genieren sie sich derart voreinander, daß sie nur noch das Nötigste sprechen. Zum ersten Mal stellt Franz eine Forderung. Er will seinen Vater sehen.

      In der Klasse spricht er mit keinem mehr, er liebt plötzlich das Gefühl, eine Art Märtyrer zu sein. Seine Mutter ist doch nicht vom Himmel gefallen. Sie hat ihm den Namen ihres Vaters gegeben, der in Auschwitz vergast worden ist. Franz trägt den Namen eines vergasten Juden. Zu den Lehrern ist er arrogant, mit diesen verbohrten alten Nazis will er nichts zu tun haben. Geschichte fällt jetzt öfter aus, bevor Hitler an die Macht kommt, läßt sich der Lehrer an der Galle operieren. Franz braucht keinen Unterricht. Diese Obersturmbannführer sollen dem Juden seine Einsen und sein Abiturzeugnis geben und ihn nicht anmachen.

      Hermina sagt ihm, daß Maxim jetzt siebzig Jahre alt ist, in einer fast fensterlosen Kellerwohnung haust und als Straßenmusikant herumzieht. In all den Jahren hat sie ihm Geld geschickt, obwohl sie kaum wußte, wie haushalten mit ihrem Gehalt. Sie will Franz die Briefe, die noch immer regelmäßig eintreffen, vorlesen. Er tut, als höre er nicht hin. Herminale, mein Neschome, mein Liebstes auf der Welt, ich will du sollst glicklich sein, aber ich bleibe dein Mann bis in den Tod. Maxim verweigert den Scheidungsbrief. Was hätte er auch noch ändern können?

      Franz will keinen Christbaum und keinen Gänsebraten mehr, das nette Spiel ist vorbei. Als die ungeheure Beklemmung nicht aufhört, mischt sich Tante Vera doch ein. Man hätte von vorneherein alles anders machen sollen. Ihr war schon immer klar gewesen, daß es eines Tages zur Katastrophe kommen mußte. Großmütig spendiert sie Franz ein Flugticket nach New York und das nötige Taschengeld dazu. Franz will ganz entschieden

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