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hätten sie nicht einmal die Geburt im Krankenhaus bezahlen können. Drei Jahre später befreite sich Hermina von der einlullenden Liebe und von den Eifersuchtsszenen Maxims. Sie hinterließ nicht einmal eine Nachricht. Mit dem Jungen und einem kleinen Koffer kam sie bei Tante Vera in München an. Da war schon ein Kinderzimmer eingerichtet worden. Ein Schaukelpferd und ein rotes Tretauto für Franz.

      Aus New York kamen verzweifelte Briefe. Herminale, aus großer Liebe zu Dir versagen meine Nerven, und ich mache Sachen, die Dir und mir wehtun. Du mein Liebstes, Du meine Heilige, Du sitzt auf einen Scheslan in mein Herz. Bis in den Tod Dein Maxim.

      Hermina durfte den Führerschein machen und in dem Cabriolet der Tante zum Chiemsee hinaus fahren. Es war Sommer, sie war braungebrannt und sportlich, man hielt sie für eine Italienerin oder für eine Spanierin, sie hatte Verehrer. Aber Hermina, die den Ring des im Krieg gefallenen Verlobten nun zu ihrem Ehering dazugesteckt trug, wollte nichts mehr von Männern wissen. Über ein Jahr spielte sie im Haus von Tante Vera, die so gerne sagte, no geh scho Mohrlerl, die Rolle der Tochter. Dann ermutigte sie sich und nahm einen Zug nach Wien. Schon nach drei Tagen wußte sie genug. Sie wollte weder in der Straßenbahn fahren noch auf den frisch gestrichenen Parkbänken am Heldenplatz sitzen. Immerhin waren die Schilder Für Juden verboten abmontiert worden. Hermina sah sie in den Kellerräumen der Hofburg lagern, bis sie wieder gebraucht würden. Auch am Prater hatte sie kein Vergnügen mehr. Nicht einmal zum Riesenradfahren hatte sie Lust. Die hinterfotzige Freundlichkeit der Leute widerte sie an. In der Wohnung der Kriegerwitwe wohnte jetzt eine junge Familie. Hermina fragte nicht weiter. Aber Tante Vera berichtete sie von rührenden Wiedersehensszenen und was diese sonst noch gerne hörte. Kein Wort über die Toten.

      Bei Tante Vera und Onkel Sepp trug Franz, der ein kräftiger, aber für sein Alter ungewöhnlich besonnener Junge war, Lederhosen und ein Filzhütchen. Für Hermina hatte die Tante ein Dirndl aus Seidenstoff gekauft und eine passende Brosche dazu. Es hatte kurze Ärmel und ließ die in Auschwitz eintätowierte Nummer sehen. Aber nach ihrer Wienreise ertrug Hermina den biedermeierlichen Haushalt ihrer Tante, wo das Dienstmädchen mit einer kleinen, weißen Spitzenschürze herumging, nicht mehr. Sie wollte nicht verwöhnt werden wie eine einzige Tochter, und auch das Angebot von Onkel Sepp, als Sekretärin im Geschäft mitzuarbeiten, lehnte sie ab. Wie hätte sie es erklären können? Sie hatte Anspruch auf Wiedergutmachungsgeld. Es half für den Anfang. Hermina ließ sich zur Krankengymnastin ausbilden. Sie zog mit Franz in eine Wohnung im Lehel, die zwei große, hohe Zimmer mit abgeblätterten Stuckdecken und eine Küche hatte, ein Bad gab es nicht. Die Toilette war für mehrere Wohnungen zusammen im Treppenhaus.

      Jahre später, als Hermina das beharrliche Gefühl des Neben-sich-selbst-Stehens nicht mehr aushalten konnte, vertraute sie sich einer Psychologin an, mit der sie sich angefreundet hatte. Bei ihr lernte sie mühsam, über das, was sie durchgemacht hatte, zu sprechen und über die Toten zu weinen.

      Franz

      Franz ist ein besonderer Junge. Aber das weiß nur er selbst, er läßt sich das nicht anmerken. Er hat schon über zwanzig Geheimnisse, die er alle ganz für sich behalten kann und die er in seinem Geheimbuch auflistet. Er hat sie in drei Gruppen unterteilt: Geheim, höchst geheim, geheim bis in den Tod. Geheim ist beispielsweise, daß er schneller als der Klassenlehrer rechnen kann, unter geheim bis in den Tod fällt der ungeöffnete Brief mit dem Absender Maxim Wisniewski, New York, USA, den er in seiner Schätzekiste aufbewahrt. Wenn Hermina die Post aus dem Briefkasten unten holt und ein Luftpostbrief dabei ist, seufzt sie schwer. Der Vater hat in Amerika eine lebenswichtige Aufgabe zu erledigen. Deshalb kann er nicht einmal zu Weihnachten kommen, so daß Franz und Hermina, damit sie nicht allein sind, bei Tante Vera und Onkel Sepp feiern, wo der Christbaum mit seiner silbernen Spitze bis zur Decke hoch reicht und wo es nach der Bescherung Gänsebraten gibt.

      Franz besitzt einen Cowboyhut, einen Gürtel, in dem zwei Colts stecken, und einen Sheriffstern. Wenn er die Sachen trägt, sieht er wie sein Vater aus. Der hat außerdem ein Lasso und zwei Pferde, auf denen er abwechselnd durch die Prärie reitet. Vom sonntäglichen Fernsehen bei Tante Vera weiß Franz genau, wie es auf der Ranch am Fuß der blauen Berge aussieht. Sein Vater ist der Freund eines großen Indianerhäuptlings. Wenn sich die beiden in der Prärie begegnen, zünden sie ein Lagerfeuer an, setzen sich nieder und rauchen die Friedenspfeife. Auch Franz besitzt eine Friedenspfeife, er hat sie von Onkel Sepp ausgeborgt, dem so viele Pfeifen gehören, daß der es gar nicht merkt, wenn einmal eine fehlt. Den Cowboyhut, die Colts, den Sheriffstern und die Friedenspfeife holt Franz jedoch nur dann aus seinem Schätzekoffer, wenn er allein zu Hause ist.

      Franz ist oft allein, weil Hermina im Krankenhaus arbeitet. Sie verdient dort Geld und hilft, kranke Leute gesund zu machen. Meistens kommt sie erst um sechs Uhr abends nach Hause. Er hat dann längst bei Frau Mumbauer unten gegessen und seine Schulaufgaben gemacht. Die sind immer ganz einfach, Franz bekommt die besten Noten, deshalb darf er schon jetzt nach Ostern, ein Jahr früher als üblich, ins Gymnasium wechseln. Wenn er fertig gerechnet und geschrieben hat, wartet er, bis Frau Mumbauer von ihrem Mittagsschlaf aufwacht. Um sich die Zeit zu verkürzen, liest er in den Büchern von Frau Mumbauers Mann, der Buchhändler war und letzten Sommer gestorben ist. Franz geht fast nie zum Spielen hinaus, er will weder anderen Kindern noch Bällen noch sonst etwas nachlaufen. Er wartet mit einem Buch am Küchentisch, bis Frau Mumbauer aus ihrem Schlafzimmer herauskommt und sich einen Kaffee aufbrüht. Dann fragt er, ob sie ihm den Schlüssel gibt und ihm erlaubt, nach oben zu gehen. Meistens unterhalten sie sich noch ein wenig, dann bedankt sich Franz für das Mittagessen, macht eine kleine Verbeugung, denn er weiß, wie man sich benimmt, und zieht die Tür sehr vorsichtig hinter sich zu, weil Frau Mumbauer oft ihre Migräne hat. Oben zieht Franz gleich die Schätzekiste unter seinem Bett hervor und holt den Cowboyhut, den Gürtel mit den Colts und die Friedenspfeife heraus. Damit verwandelt er sich in den Sohn des großen Maxim. Mit gewichtigen Schritten stolziert er zum Spiegel in das Zimmer von Hermina hinüber um nachzuprüfen, ob alles richtig sitzt.

      Er ist ein großer, kräftiger Junge, der so schwarze Augen und so schwarzes Haar hat wie keiner sonst in der Klasse. Auch seine Haut ist dunkler, selbst im Winter sieht sie wie eben gebräunt aus. Franz weiß, woher das kommt. Seine Mutter ist nämlich gar nicht seine richtige Mutter. Das hat er schon vor zwei Jahren unter geheim bis in den Tod notiert. Deshalb hat er vor einiger Zeit angefangen, sie Hermina statt wie vorher Mutti zu nennen. Zuerst hat sie gemeint, das sei doch keine gute Idee, aber jetzt hat sie sich daran gewöhnt, und es scheint ihr recht. Hermina ist eigentlich die Schwester seines Vaters. Um Franz vor den für ihre Grausamkeiten bekannten Komantschen zu schützen, hat Maxim seine Schwester, die sich niemals fürchtet, beauftragt, mit dem Kind nach Deutschland zu fliehen. Seine wirkliche Mutter ist eine Häuptlingstochter, die die Komantschen entführt haben. Maxim hat ewige Rache geschworen.

      Franz schürt den Küchenherd, er stochert mit dem Schürhaken in der Glut, daß Funken aufsteigen. Er legt ein Brikett nach. Dann setzt er sich nach Indianerart auf den an den Herd gerückten Küchentisch und schaut in das Feuer und zieht an der kalten Pfeife, die einen widerlichen Geschmack im ganzen Mund macht. Er zwingt sich, solange wie möglich mit durchgestrecktem Rücken dazusitzen und seine Gedanken zu ordnen. Als Sohn der Häuptlingstochter ist er natürlich nicht katholisch wie die anderen in der Klasse, deshalb wird er auch kein Kommunionsfest feiern, obwohl das ein herber Verzicht für ihn ist, er hätte gerne ein Fest und Geschenke gehabt. Doch nur der Form halber besucht er überhaupt den Religionsunterricht, das hat Hermina so mit dem Lehrer besprochen. Tatsächlich haben sie jedoch eine ganz andere, eine viel bedeutendere Beziehung zu Gott. Das kann man leicht daran erkennen, daß Hermina eine Nummer an ihrem Arm stehen hat. Diese Nummer geht nicht weg, soviel Hermina auch badet und sich wäscht. Bevor Franz viel fragt, macht er sich lieber seine eigenen Gedanken, außerdem hat er die Bücher vom verstorbenen Herrn Mumbauer, in denen er manches nachlesen kann.

      Einmal, schon länger her, als sie im Bad waren und nach dem Schwimmen in der Sonne lagen, rieb Franz mit dem Zeigefinger über die Nummer, er nahm auch Spucke, irgendwie, dachte er, dieser Stempel müsse unter dem Reiben doch verschwinden. Hermina hielt da in der Sonne die Augen geschlossen und machte ein ganz normales Gesicht. Aber schließlich sagte sie leise zu Franz, gib dir keine Mühe, das geht nicht weg, das ist die Telephonnummer zum lieben Gott.

      Franz, da auf dem Küchentisch, tut bald der Rücken weh und die Knie, mit

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