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ihnen zweifellos eine Verschönerung der Gedanken und Erhebung über den Wochentag bedeutete. Aber Klaus Heinrich und Ditlind blickten auf jene Gestalten als auf ihresgleichen und in gelassener Ebenbürtigkeit, sie atmeten dieselbe Luft wie sie, sie wohnten in einem Schlosse gleich ihnen, sie standen mit ihnen auf brüderlichem Fuße und erhoben sich nicht über das Wirkliche, wenn sie lauschend eins mit ihnen wurden. Lebten sie also beständig und immerdar auf jener Höhe, zu welcher andere nur aufstiegen, wenn sie Märchen hörten? Madame aus der Schweiz hätte es ihrem ganzen Verhalten gemäß nicht leugnen können, wenn die Frage in Worte zu bringen gewesen wäre.

      Madame aus der Schweiz war eine calvinistische Pfarrerswitwe, die für sie beide da war, während jedes von ihnen zwei besondere Kammerfrauen hatte. Madame war ganz schwarz und weiß: ihr Häubchen war weiß und schwarz ihr Kleid, weiß war ihr Antlitz mit der ebenfalls weißen Warze auf einer Wange und schwarzweiß gemischt ihr metallisch glattes Haar. Sie war sehr genau und leicht zu entsetzen. Sie blickte zu Gott empor und schlug ihre weißen Hände zusammen bei Dingen, die ohne Gefahr und dennoch unzulässig waren. Aber ihr stillstes und schwerstes Zuchtmittel für ernste Fälle war dies, daß sie die Kinder »traurig ansah« … man hatte sich vergessen. Von einem bestimmten Tage an begann sie, auf eine Weisung hin, Klaus Heinrich und Ditlind »Großherzogliche Hoheit« zu nennen und war nun noch leichter entsetzt …

      Jedoch Albrecht hieß »Königliche Hoheit«. – Tante Katharinens Kinder gehörten nicht zum Mannesstamm der Familie, wie sich erwies, und waren also von minderer Bedeutung. Aber Albrecht war Erbgroßherzog und Thronfolger, womit nicht schlecht übereinstimmte, daß er so blaß und abweisend schien und viel im Bette lag. Er trug österreichische Joppen mit Klappentaschen und Rückenzug. Er hatte einen nach hinten ausladenden Schädel mit schmalen Schläfen und ein längliches kluges Gesicht. Sehr klein noch hatte er eine schwere Krankheit zu bestehen gehabt, gelegentlich welcher, nach Generalarzt Eschrichs Behauptung, sein Herz vorübergehend »auf die rechte Seite gewandert« war. Auf jeden Fall hatte er den Tod von Angesicht zu Angesicht gesehen, und das mochte die scheue Würde, die ihm eigen war, wohl sehr verstärkt haben. Er schien von äußerster Zurückhaltung, kalt aus Befangenheit und stolz aus Mangel an Anmut. Er lispelte ein wenig und errötete dann darüber, da er sich scharf in Obacht hielt. Seine Schulterblätter waren ein wenig ungleichmäßig gestellt. Sein eines Auge war mit einer Schwäche behaftet, und so bediente er sich beim Anfertigen seiner Aufgaben einer Brille, die dazu beitrug, ihn alt und klug zu machen … Unverbrüchlich hielt sich an Albrechts linker Seite sein Erzieher, der Doktor Veit, ein Mann mit hängendem, lehmfarbenem Schnurrbart, hohlen Wangen und blassen, unnatürlich erweiterten Augen. Zu jeder Stunde war Doktor Veit in Schwarz gekleidet, indem er ein Buch, zwischen dessen Blättern sein Zeigefinger steckte, an seinem Oberschenkel herniederhängen ließ.

      Klaus Heinrich fühlte sich von Albrecht gering geschätzt, und er sah ein, daß es nicht nur wegen seiner Rückständigkeit an Jahren so war. Er selbst war weichmütig und zu Tränen geneigt, das war seine Natur. Er weinte, wenn man ihn »traurig ansah«, und als er sich an einer Ecke des großen Spieltisches die Stirn stieß, daß es blutete, klagte er laut aus Mitleid mit seiner Stirn. Aber Albrecht hatte den Tod gesehen und weinte doch unter keiner Bedingung. Er schob ein wenig seine kurze, gerundete Unterlippe empor, indem er leicht damit an der oberen sog – das war alles. Er war vornehm. Madame aus der Schweiz wies in Fragen des comme il faut ausdrücklich auf ihn als Muster hin. Nie hätte er sich mit den prächtigen aufgeschirrten Zierleuten, die zum Schlosse gehörten und nicht eigentlich Männer und Menschen, sondern Lakaien waren, in ein Gespräch eingelassen, wie Klaus Heinrich es damals in unbewachten Augenblicken zuweilen tat. Denn Albrecht war nicht neugierig. Seine Augen blickten einsam und ohne Verlangen, die Welt zu sich einzulassen. Klaus Heinrich dagegen plauderte mit den Lakaien aus diesem Verlangen und aus einem drängenden, wenn auch vielleicht gefährlichen und ungehörigen Wunsche, sein Herz berühren zu lassen von dem, was etwa jenseits der Grenzen war. Aber die Lakaien, die alten und jungen, an den Türen, auf den Korridoren und in den Durchgangszimmern, mit ihren sandfarbenen Gamaschen und braunen Fräcken, auf deren rötlich-goldenen Tressen sich viele Male die kleine Krone vom Wagenschlag wiederholte – sie machten die Knie fest, wenn Klaus Heinrich mit ihnen plauderte, legten die großen Hände an die Nähte ihrer dicken Sammethosen, ließen sich dabei ein wenig zu ihm herab, daß die Fangschnüre ihnen von den Schultern baumelten, und gaben leere, geziemende Antworten, an denen die Anrede »Großherzogliche Hoheit« das Gewichtigste war, und zu denen sie lächelten, mit einem mitleidig behutsamen Ausdruck, als wollten sie sagen: »Du Reiner, du Feiner!« … Zuweilen, wenn es sich möglich machte, unternahm Klaus Heinrich Forschungszüge in unbewohnte Gegenden des Schlosses, mit Ditlind, seiner Schwester, als sie groß genug war.

      Damals hatte er Unterricht bei Schulrat Dröge, Rektor der städtischen Schulen, der zu seinem ersten Lehrer bestellt war. Schulrat Dröge war sachlich von Natur. Sein Zeigefinger, faltig von trockener Haut und geschmückt mit einem goldenen Siegelring ohne Stein, verfolgte die gedruckten Zeilen, wenn Klaus Heinrich las, und rückte nicht eher von der Stelle, als bis das Wort gelesen war. Er kam in Gehrock und weißer Weste, das Band eines untergeordneten Ordens im Knopfloch, und in breiten, blankgewichsten Stiefeln, deren Schäfte naturfarben waren. Er trug einen ergrauten, kegelförmigen Bart, und aus seinen großen und flachen Ohren wuchs graues Gestrüpp. Sein braunes Haar war in Form von aufwärtsstrebenden Spitzen in die Schläfen gebürstet und scharf gescheitelt, so daß man deutlich die gelbliche, trockene Kopfhaut sah, die porös war wie Stramin. Aber hinten und an den Seiten kam unter dem festen braunen Haar dünnes, graues hervor. Er neigte den Kopf ein wenig gegen den Lakaien, der ihm die Tür zu dem großen, getäfelten Schulzimmer öffnete, wo Klaus Heinrich ihn erwartete. Jedoch gegen Klaus Heinrich verbeugte er sich, nicht im Hereinkommen und obenhin, sondern ausdrücklich und mit Überlegung, indem er vor ihn hintrat und wartete, daß sein erlauchter Schüler ihm die Hand reichte. Das tat Klaus Heinrich, und daß er es beide Male, bei der Begrüßung sowohl wie beim Abschied, in hübscher, gewinnender und gerundeter Weise tat, so, wie er gesehen hatte, daß sein Vater den Herren die Hand reichte, die darauf warteten, das schien ihm wichtiger und wesentlicher als aller Unterricht, der dazwischen lag.

      Als Schulrat Dröge unzähligemal gekommen und gegangen war, hatte Klaus Heinrich unvermerkt allerlei Anwendbares gelernt, fand sich wider Erwarten und Absicht zu Hause in den Fächern des Lesens, Schreibens und Rechnens und wußte auf Verlangen die Ortschaften des Großherzogtums ziemlich lückenlos aufzuzählen. Aber es war wie erwähnt nicht eigentlich dies, was ihm nötig und wesentlich schien. Zuweilen, wenn er beim Unterricht unachtsam war, ermahnte der Schulrat ihn mit dem Hinweis auf seinen hohen Beruf. »Ihr hoher Beruf verpflichtet Sie …« sagte er, oder: »Sie schulden es Ihrem hohen Beruf …« Was war sein Beruf, und worin bestand die Höhe desselben? Warum lächelten die Lakaien »Du Reiner, du Feiner«, und warum war Madame so heftig entsetzt, wenn er sich in Rede und Tun nur ein wenig fahren ließ? Er blickte um sich in seinem Gesichtskreis, und zuweilen, wenn er fest und lange hinsah und seinen Blick in das innere Wesen der Erscheinungen einzudringen zwang, fühlte er eine Ahnung von dem »Eigentlichen« in sich aufsteigen, um das es sich für ihn handelte.

      Er stand in einem Saal, der zu den Schönen Zimmern gehörte, dem Silbersaal, worin, wie er wußte, sein Vater, der Großherzog, feierliche Gruppenempfänge vornahm – er war gelegentlich allein in den leeren Raum getreten und sah ihn sich an.

      Es war Winter und kalt, seine kleinen Schuhe spiegelten sich in dem glasig hellen, durch gelbliche Einlagen in große Vierecke geteilten Parkett, das sich wie eine Eisfläche vor ihm ausbreitete. Die Decke, mit versilbertem Arabeskenwerk überzogen, war so hoch, daß eine lange, lange Metallstange nötig war, um den vielarmigen, dicht mit hohen weißen Kerzen besteckten silbernen Kronleuchter in der Mitte der ganzen Weite schweben zu lassen. Silbern gerahmte Felder mit blassen Malereien zogen sich unterhalb der Decke hin. Die Wände, von silbernen Leisten eingefaßt, waren mit weißer, hier und da gelbfleckiger und eingerissener Seide bekleidet. Eine Art monumentalen Baldachins, auf zwei starken silbernen Säulen ruhend und vorn mit einer zweimal gerafften Silbergirlande geschmückt, von dessen Höhe das Bildnis einer toten, gepuderten Vorfahrin inmitten einer nachgeahmten Hermelindraperie herniederblickte, gliederte den Kaminraum vom Ganzen ab. Breite versilberte, mit weißer, verschlissener Seide bespannte Armstühle umgaben dort hinten die kalte Feuerstelle. An den Seitenwänden, einander gegenüber, ragten

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