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hörte mir alles an und wusste: Da kommt was auf dich zu. Aber ich nickte nur mit dem Kopf: klar, natürlich, worüber, wann? Auf Ruhm war der Kahlköpfige nicht aus, er war berühmt genug, obendrein einer, der geradezu zur Kunst verurteilt war und darüber nicht gern sprach. Wir waren miteinander noch aus jenen Nullzyklus-Jahren bekannt, als der heutige Genius in einer Armeejacke – himbeerfarbene Streifen! – in der Altstadt Kabelgräben aushob und manchmal hungrig in der Werkstatt eines Restaurators auftauchte, wo es einen Löffel Grütze oder eine heiße Wurst mit Senf für ihn gab. Damals war er noch dürrer als jetzt. Und auch schon nicht sehr gesprächig. Übrigens dauerte das nicht lange. Als er den für ihn unpassenden Dienst beendet hatte, bekam er seine eigene Theatertruppe und wurde mit jedem Jahr berühmter, bis er es so weit gebracht hatte, dass alle potenziellen Konkurrenten begriffen: Da ist nichts zu machen, den holt man doch nicht ein. Besser war es, gemächlich die eigene Furche zu ziehen und in Zeitungen mit sympathischen Theaterkritikerinnen zu disputieren.

      Einen Film will ich machen, brachte der Kahlköpfige ruhig zwischen seinen Zahnbrücken hervor. Goldzähne hatte er noch keine, wenigstens vorne. – Und weißt du was? Wir setzen uns ins Auto und fahren los. Jetzt gleich.

      Wohin? Es war natürlich, sich danach zu erkundigen, obwohl es mir egal war.

      Am Friedhof von Rasai vorbei bogen wir in die Schwarze Straße ein. Seit langem wusste ich es: Sie, die Schwarze, führt bis Veliučionai, wo sich ein Gefängnis für minderjährige Kriminelle befindet, natürlich nannte es sich anders. Ein Vetter von mir, Boxer und Nihilist, hatte dort irgendwann einmal Physik unterrichtet. Diese Hundesöhne fürchten mich, den Sportlehrer und sonst niemanden, pflegte er zu sagen. Aber wir bogen in die andere Richtung ab. Freudenstraße. Hier freuten sich Bäume, Büsche, die neuen und nicht mehr neuen Mauern, öffneten sich eindrucksvolle Ausblicke in ein weites Tal, dahinter rotes Gestein, die berühmte Senke. Dann schon andere Wälder, finstere, dunkelgrüne und sogar blau schimmernde. Vor fünfzehn Jahren war ich täglich durch die Freudenstraße ins Psychoneurologische Krankenhaus gefahren, hatte es geschafft, dort als Hilfspfleger unterzukommen. Nach mir entließen sie einen berühmten Theaterkritiker, der dort auch vorübergehend tätig war und selbst ein kleines Stück aufführte, in dem sowohl das Personal als auch die Patienten mitspielten. Nun lächelte ich: So verbunden ist mein Leben mit dem Theater! Als Pfleger hielt ich es dort nicht lange aus, die Ärzte und Schwestern jagten mir weit mehr Angst ein als ihre Patienten. Einige Monate fuhr ich mit dem Vierunddreißiger Bus hier durch und dachte jedes Mal: Gleich werde ich in die Straße der Hoffnungslosigkeit gelangen, das Territorium der absoluten und relativen Idiotie betreten. Es galt, die Mühseligen und Beladenen zu beruhigen, denen, die sich nicht aus dem Bett erheben konnten, Essen zu bringen, und nachmittags diejenigen, in denen noch ein Funke eines seltsamen, uns unzugänglichen Verstandes glomm, in einen vergitterten Hof zum Ausgang zu führen.

      Freudenstraße, sagte ich laut und lächelte süßsauer.

      Was quasselst du da? Der Genius drehte sich zu mir um, und ich dachte plötzlich: Vielleicht könnte sein Film von Verrückten handeln? Von anderen Verrückten natürlich, nicht unbedingt von denen in Zwangsjacken und mit gespaltener Zunge. Doch lieber nicht, davon gibt es zu viele, alle wird man nicht erfassen, nicht mal in einem Monumentalfilm.

      In die Stadt zurück nahmen wir schon einen anderen Weg, den über Kairėnai und Šaltinis, das durch eine Heilquelle berühmt war, zu der die Leute pilgerten wie zu irgendeinem Lourdes. Ihr Wasser versiegt nicht, säuert nicht, erklärte der Regisseur. Es stillt nicht nur den Durst, sondern läutert auch den Geist. Pkws standen dort, der eine oder andere kleine Kiosk, der Handel wittert heute schnell ein Geschäft. Wir stiegen aus dem Wagen, reihten uns in die Schlange ein und tranken wirklich vorzügliches Wasser. Sogar Tafeln mit diversen Anzeigen waren zu sehen, die Leute versuchten Wohnungen zu tauschen, zu kaufen oder zu verkaufen, rieten zu einer Massage oder wollten heiraten. Vor einem entfernteren Häuschen vertrat sich ebenfalls eine Menschenschlange die Füße. Ich bog deshalb in einen Fichtenwald ein, aber auch hier war alles voller Autos. So musste ich noch ein ganzes Stück weiter ins Unterholz, bis ich das Wunderwasser wieder ablassen konnte. Dann sah ich mich um und erblickte, nur einige Schritte vor mir, ein seltsames Ungetüm. Ein fast völlig verrosteter Bus stand dort, ohne Räder, eher wohl das Gerippe eines Fahrzeuges, aber noch nicht ganz. Na und, ein Bus, dachte ich gleichgültig, um dann unvermutet die vernickelte Firmenaufschrift zu Gesicht zu bekommen. Verblüffenderweise war sie heil geblieben. Ikarus. Seinerzeit eine sehr populäre ungarische Marke, es gab davon mehrere Generationen. Hier handelte es sich um einen der ältesten Typen, ein Veteran war das. Nur irgendwie seltsam. Denn das hier war offenbar kein Fahrzeug zur Personenbeförderung. Sogar an dem, was noch übrig war, konnte man es sehen. Den Bus rechnete ich ebenfalls meinem Nullzyklus zu, daher begann ich, einzig aus Neugier, mich zu nähern. Irgendwelche Wände, Ummantelungen, Platten, Reste von Sitzen. Klar, dass das kein normaler Reisebus war. Und plötzlich die Erleuchtung: Ein Röntgenbus! Eine mobile Röntgenstation! Hätte ich nicht gleich darauf kommen können? Mir wurde warm ums Herz: Noch so ein Dinosaurier aus alten Zeiten. Einer von denen, die damals ganz Litauen abklapperten. Deren Betreiber wissen wollten, wer von den Sowjetbürgern es noch wagte, an Tuberkulose zu erkranken, auch Tbc genannt oder volkstümlicher: Schwindsucht. Nun stellt euch mal schön in der Reihe auf, und dann einer nach dem anderen. Bitte den Oberkörper frei machen. Hier hinstellen. Tief einatmen. Die Luft anhalten. Gut, das war’s. Der Nächste, der Nächste, der Nächste … Schulen, Betriebe, Arbeitskollektive, alle in Reih und Glied. Vielleicht hatte sich bei irgendeinem ein winziger Tuberkuloseherd gebildet?

      Zur Quelle zurückgekehrt, benachrichtigte ich den Regisseur. Komm mal mit, ich will dir was zeigen! Er zuckte nur mit den Schultern und folgte mir, wir hatten ja Zeit. Schweigend näherten wir uns dem von mir entdeckten Gefährt. Es dämmerte bereits, aber er erkannte den Bus sofort. – Röntgen, klar! Ich erinnere mich! Ich spürte, dass er aufgeregt war, nur um nichts in der Welt hätte er das zugegeben. Er bückte sich und kroch hinein, fluchend, weil es schon dunkel und kaum etwas zu sehen war. Was eigentlich wollte er bei hereinbrechender Nacht dort erblicken? Vielleicht den eigenen Brustkorb, dazu die in endlosen Proben verräucherte Lunge? Ich stand neben dem Ikarus, wartete und wartete, es wurde allmählich langweilig.

      Endlich zwängte er sich heraus, stolperte, fluchte abermals, fuhr sich mit der Hand über den Hosenboden. Das war’s, rief er, fahren wir! Ich schwieg, wenn ihm danach war, würde er selbst mit der Sprache herausrücken. So kam es auch: In der Nähe der zukünftigen Botschaft Georgiens drehte sich der Regisseur zu mir um und verkündete halblaut:

      Alles klar. Wir machen den Film. Über diesen Röntgen. Und über diese Busse. Morgen fahren wir wieder dorthin, tagsüber natürlich. Übernimmst du das Drehbuch?

      Ich zuckte mit den Schultern, aber er hatte bereits entschieden.

      1

      Unermesslich ist der Hochmut des irdischen Verstandes, dabei sind die so genannten zivilisatorischen Errungenschaften, auf die wir so stolz sind – wem gegenüber eigentlich? –, zunächst nur dumme und reichlich unangenehme Zufälle. So, wie man im Wald auf einen Ast tritt und plötzlich begreift, dass es kein Ast ist, sondern die Schwanzspitze einer vor sich hin dösenden Schlange. Ja, manchmal ganz unbeabsichtigt, meist in Extremsituationen, verbinden sich in der Hirnrinde zwei kleine Drähte, und dem Menschen kommt zumindest für einen Augenblick der Gedanke, dass sämtliche Erfindungen die größte Hohlheit sind. Aber gleich denkt er wieder über deren Nutzen nach, so geht das schon lange und wird sich ewig fortsetzen. Dabei ist es ein wahres Glück, dass der Mensch nur einen sehr kleinen Teil seiner erahnten, sogar berechneten, intellektuellen Potenzen nutzt, ein Glück für ihn selbst, für wen sonst? Die Menschheit hätte innehalten und erst einmal durchatmen können, nachdem der Blitzableiter und das Wasserklosett erfunden worden waren, schon damals gab es nüchterne Stimmen, die sagten: Genug! Ernste Männer wie auch die Existenzialisten behaupteten, am glücklichsten auf Erden seien die Wilden und die sich heimlich ins Fäustchen lachenden Irren, aber es ging immer weiter. Der Mixer wurde erfunden, der Getränkeautomat, schließlich das Fließband, die schlimmste Erfindung aller Zeiten. Der Hochmut gewann wieder die Oberhand, so war es jedes Mal. Aus alberner Neugier erfand der Mensch den Taucheranzug, irgendein Morse schuf sein Alphabet, die Generäle

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