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Pflichten! Geld besaß er reichlich, konnte also, ohne auf den Pfennig sehen zu müssen, Freunde und Bekannte bewirten. Zwei Dinge schätze er, sagte er mir einmal, seine Arbeit und die Familie. Über den Kognak schwieg er. Er verfettete, das Herz begann zu flattern, und eines schönen Tages, es wurde gerade wieder einmal die geglückte Verteidigung einer Dissertation begossen, blieb die Lebensuhr stehen. Alle bedauerten Vaivadas’ Hinscheiden, weinten und schluchzten. Niemandem hatte er etwas Böses getan. Hatte auch nie darum gebeten, dass man ihm Kognak brachte. Und sich nie überheblich gezeigt gegenüber den ehemaligen Kollegen. Die Reden an seinem Grab waren aufrichtig und geradezu erhaben.

      Chicago, ein selten begabter Grafiker, hatte am Ufer der Vilnelė ein Schläfchen gehalten, blinzelte in die Sonne, gähnte, bog dann mit weit ausholenden Schritten in die Straße in Richtung Paplaujai, der Vorstadt. Und im nächsten Augenblick geriet er unter die Räder eines mächtigen Kippers. Wie kräftig Chicago auch war, der Kipper überwand ihn ohne Mühe. Chicago hatte Grafik studiert, aber im Herzen war er Bildhauer. Träumte davon, zwei Denkmäler zu entwerfen: eins für die Aufständischen, ein anderes für die Flieger aller Zeiten. Die litauischen, versteht sich. Aber er kam nie dazu, weil die Zeit fehlte, trank immer. Ich weiß nicht mal, wie er zu seinem Spitznamen kam: Chicago. Wo er doch offenbar einer vom Dorf war, aus Salakas oder Antazavė, und unbehauen wie eine Granitplatte.

      Als ich mich einmal im Säufergefängnis erholen durfte und mich alles grenzenlos anödete, begab ich mich ins Musikantenzimmer, fand dort Henrikas V. und bat ihn, sein Saxophon aus dem Futteral zu ziehen. Dann bettelte ich weiter, er möge für mich allein spielen, und zwar meine Lieblingsmelodie, den Criminal Tango. Zu der Einrichtung, in der wir uns befanden, passte der besonders. Und er, wenn auch nicht immer willig, häufig erst nach dem Versprechen, ihm Čeifyras zu kochen, einen narkotisierenden Teesud, griff zu seinem Instrument und legte los. Manchmal klang es ziemlich trist. Ein andermal wieder geriet er dermaßen in Fahrt, dass die Praporščiks und selbst die Wachhabenden herbeieilten, um ihn zu besänftigen. Kennt ihr diese Melodie? Sentimental, aber mit einer Beimischung von Blut. Als sie Henrikas entlassen hatten, erinnerte er sich daran, dass er professioneller Musiker war und begann umgehend sich nach Arbeit umzusehen. Nur wollte ihn niemand nehmen. Ach, so hieß es, du kommst von dort, keine angenehme Sache. Wirst wieder anfangen zu saufen. Nein, danke, nimm es nicht übel. Danach hing Henrikas am Flaschenhals wie ein Kalb an den Zitzen einer Kuh. Seine Frau musste sogar in der Nacht für Nachschub sorgen, sie verstand, dass es ihm nicht gut ging. Aber auch sie, die an einem Büfett arbeitete, geriet in irgendeine Sache hinein und wurde für kurze Zeit von der Gesellschaft isoliert. Henrikas blieb allein mit seiner Stieftochter und hing noch heftiger an der Flasche. Eines Nachts begann er so fürchterlich zu röcheln, dass die im Nebenzimmer schlafende Stieftochter erschrocken hochfuhr und schon einen Krankenwagen rufen wollte. Aber das Bedürfnis nach Schlaf war stärker, und sie dachte, dass es ja nicht das erste Mal sei. Der röchelt, dann schläft er ein, und morgen wird er wieder um Bier betteln. Henrikas schlief wirklich ein, nur diesmal für alle Ewigkeit. Und man hätte doch nur hingehen müssen, ihm das Kopfkissen ausschütteln, Wasser bringen, ein wenig Baldrian, vielleicht sogar zum Getränkepunkt laufen. Sicher hätte er sich erholt. Gegen Morgen frühstückte die Stieftochter, dann schlich sie sich aus dem Haus, um nach Klaipė da zu fahren. Bis man die Büfettbesitzerin entließ, vergingen drei weitere lange Tage. So lag Henrikas, mutterseelenallein. Kein Criminal Tango. Das eine Auge war geschlossen, das andere, von einem Bluterguss getrübt, blickte aufmerksam, neugierig und war groß wie ein Astloch.

      Nein, vielleicht schlafe ich endlich ein. Ich erwähne nur einige von denen, die das Gedächtnis aus der Tiefe geholt und an die Oberfläche befördert hat. Eine Menge solcher ließen sich noch ausmachen in diesem meinem Vierteljahrhundert. Na und, würde meine verstorbene Tante sagen, wie viele unschuldige Menschen sind umgekommen, wurden überfallen, erstochen, überfahren! Und, klar, sie hätte Recht gehabt. Auf ihre Art Recht gehabt. Alle, die du genannt hast, so würde sie behaupten, wenn sie noch am Leben wäre, waren doch verdammte Säufer, Selbstmörder, Schizophrene, mit einem Wort, nicht normal! Und hätte wieder Recht gehabt, wie in ihrem ganzen langen Leben. Aber mir erschienen sie aus irgendeinem Grund als Märtyrer. Wie viele unschuldige Menschen habe allein die Schwindsucht dahingerafft, so meine ewig Recht habende Tante. Es ist wahr, sie wurde zu Beginn des Jahrhunderts geboren und hat so manches mit ansehen müssen. Aber ich behaupte: Alle sind sie Märtyrer, wie auch eine große Zahl derer, die unerkannt dahingegangen sind. Nur werden sie schon nicht mehr in Wettbewerb treten ob der Größe ihres Leidens, ihrer Hochherzigkeit oder ihrer Bedeutung für die Menschheit. Sie werden nicht darum bitten, von Kanonikern selig oder gar heilig gesprochen zu werden. Solche wie sie brauchten stets Berater, Schutzpatrone, entschiedene und furchtlose Wegbereiter. Ich jedoch, leider, gleiche denen nicht im Entferntesten. Andererseits: Jeanne d’Arc zum Beispiel musste lange Jahrhunderte warten, bis … Aber was vergleiche ich hier! Meine Märtyrer werden niemals populär werden und die Massen beeindrucken, nicht einmal der arme kleine Povilas. Solche wie sie gab und gibt es doch zuhauf. Vielleicht hatten auch sie Visionen, Erhebungen, Durchblicke, nur wird das niemand mehr erfahren. Heilige müssen zudem ein wenig Furcht erregend, auch nicht ganz zu begreifen sein, das Personal meiner Erzählung hingegen ist durchsichtig wie das erste Eis auf dem See. Schon sehr dem Nullzyklus angepasst, und das ist dasselbe wie ein flacher, zugeschneiter, niemandem hinderlicher Platz auf einem brachliegenden Gelände.

      Ich wiederhole: Jeder hat seinen Nullzyklus, der nur ihm gehört, und seinen Willen – den Bau zu beginnen oder alles zu konservieren. In diesem Zyklus, von dem aus alle anderen Arbeiten ihren Anfang nehmen, findet sich von jedem ein bisschen: rostiges Eisen und Kupfer, Goldstaub, Hunde, Rinder- und Menschenknochen, allerhand Plunder, Reste von Dingen, über die wir schon niemals mehr etwas erfahren werden. Vielleicht stößt man auch auf Blindgänger, eine Mine oder ein Artilleriegeschoss. Dann muss ein Sprengkommando ran. Doch andere Entdeckungen sind es wert, von Archäologen begutachtet zu werden. Die sind nicht besonders erwünscht: Sie behindern die laufenden Arbeiten, streiten sich um jede Scherbe, schließlich werden sie, nachdem sie alles durcheinandergebracht haben, davongejagt. Aber auch wer selbst gräbt, geht möglicherweise leer aus, das passiert nicht selten. Nichts als Gräser, Maulwurfsgänge, Äste, Lehmbatzen, Geröll, heller oder dunkler Sand, das Material eben, aus dem das dahinschleichende, durchschnittliche und langweilige Leben gemacht ist. Aber wenn man auf ein Sapropel[5] stößt, dann bedeutet das schon etwas. Ein Sapropel ist eine Hoffnung, Entdeckungen zu machen. Dann war dein Viertel doch nicht hohl und leer. Schmutzig, blutig, übel riechend, mag sein, aber nicht hohl und leer. Auch träger Sand, ein toter Käfer, ein seltsam geformter Kiesel haben ein Recht, darin zu existieren. Doch wenn man auf massivere Dinge stößt, eine alte Truhe etwa, sollte man sich nicht zu früh freuen und Hurra schreien. Irgendein Knopf oder eine Geschosshülse kann hundertmal wichtiger sein als wertloses Geld oder von Patina zerfressener Schmuck, den man dir sowieso wegnimmt. Denn die Leute haben noch dieselben langen Zungen wie vor einem Vierteljahrhundert. Zumindest dieses Jahrhunderts, das nicht nur nach frischem Honig duftet, sondern auch wie Katzenscheiße stinkt.

      Aber vielleicht ist es auch für mich selbst Zeit zu beginnen, denn neue Freunde werden sich kaum noch einfinden, und die alten erschrecken einen immer häufiger mit einem finalen Scherz: Ohne jede Vorwarnung begeben sie sich dorthin, wohin es schon vor vielen Jahren den kleinen Povilas verschlug, den Philologen und Kellner Šarlis, die Verse schmiedende Mika, den Saxophonisten Henrikas und andere, die hier nicht namentlich aufzuführen sind. Und alle einzeln, jeder für sich. Vielleicht wäre es in der Gruppe angenehmer gewesen? Man hätte ein paar Worte gewechselt, eine Selbstgedrehte herumgehen lassen. Wohl kaum. Jener Scherz ist finster genug, und er ist unwiderruflich. Da kommt doch keiner, klopft an die Tür und sagt: Nimm’s nicht übel, diesmal hab ich ein wenig übertrieben! Auch weiß man nie, wann man selbst mit diesem Scherz seine Mitmenschen erschreckt, daher fürchte ich mich, etwas über andere zu sagen, ohne in deren neues Fell geschlüpft zu sein.

      An einem Sommerabend fuhr ein sehr berühmter Regisseur mit eigenem Auto bei mir vor, den Kopf kahl geschoren, dennoch hatte er wenig von einem Banditen. Einmetersechsundneunzig, mit dem Blick eines müden Falken, es gibt auch solche. Er zog an seiner Zigarette, schlürfte Kaffee, um dann gleich zur Sache zu kommen: Wir machen einen Film. Sie machen immer irgendwas, anders können sie gar nicht mehr. Das Theater,

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