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und schrecklichen, bedeckt jene weiche, pelzige, grüngraue Schimmelschicht des Vergessens, aus der man Penizillin gewinnt. Dort findet es sich am häufigsten, es ist dort billig und jedermann zugänglich. Man sollte sich diese noch nicht abtransportierten Festmeter ansehen, besonders wenn es Erlenholz ist. Ein wenig von der untergehenden Sonne beschienen, rötliches Harz ausschwitzend wie einen Blutstrom, seltsam ordentlich die Stämme und ein wenig traurig. Zuflucht für den, der sich im Wald verirrt hat, und ein, wenn auch trügerisches, Sicherheitsgefühl vermittelnd.

      Dennoch hat sich die Welt erstaunlich gewandelt, selbst während unseres kurzen Lebens. Geht man schon auf die fünfzig zu, dann darf man staunend vermelden: Weiß Gott, vor einem Vierteljahrhundert hätte ich mir nicht ausmalen können, dass heute jeder Rotzlöffel Auto fährt und aus der Disko mit einem Mobiltelefon seine Perle anruft, während die Märtyrer der Wissenschaft von irgendeinem Internet phantasieren. Dass der Russe einmal wie ein Golem auf die Knie fallen wird. Dass sich Politruks in Politiker verwandeln und KGB-Chefs in die Bosse von Nachrichtenagenturen. Oh ja, vor einem Vierteljahrhundert, so sag ich mir selbst: Auch ich war empfindsam damals, aufnahmefähig, voller seltsamer Kräfte, so munter, weltoffen und neugierig, dass ich auf der Straße nicht nur einen Spatzenschwarm wahrnahm, sondern auch noch Mädchenbeine, einen verlorenen Rubel, den vorbeiradelnden, bärtigen Künstler Mecčislovas, ein Stück Himmel zwischen den Mauern. Und gleichzeitig beantwortete ich noch hundert Fragen der mich umarmenden Blondine. Auch mir selbst bleibt nur Staunen, ein großartiges, berauschendes Gefühl! Ich kann mich nicht genug wundern, dass ich elementar, liederlich, verantwortungslos lebte, ständig die elementarsten Konventionen, Versprechungen, Gelübde und Schwüre brach, instabil, ungesund und ziemlich trist und dennoch ein halbes Jahrhundert erreichte und hustend in die herbstliche Dunkelheit spreche: Oh, vor einem Vierteljahrhundert! Beinahe eine Ewigkeit ist es her! In einem gewissen Sinne ist das ungerecht. Wie viele, die mehr wert sind als ich, hat es erwischt: auf Straßen, bei diversen Katastrophen, Kriegen, in Wüsten und Bergen! Die um einiges jünger waren und es nicht schafften sich auszusingen, eheliche oder uneheliche Kinder zu hinterlassen. Kamen um, erhängten sich, ertranken, verschwanden spurlos, um die Unabhängigkeit nicht mehr zu erleben, drei Hektar sandiger Erde Kompensation und zugleich ein Dokument, dass der Vater oder Großvater wirklich nicht zusammen mit den Deutschen an einer Strafexpedition teilgenommen hatte oder später, mit einer russischen MP behängt, einen Tross der Roten sicherte oder ein Wahllokal. Denke ich über mein Roman-Personal nach, das sich vorzeitig davonmachte in eine bessere Welt, überkommt mich ein heiliger Schrecken. Indes, das Wissen, dass alles folgerichtig ist und unwiderrufbar, zwingt einen, ruhiger zu atmen, rhythmischer. Und die Versuche, ein weiteres Mal seine Feinde zu lieben, scheinen sogar Früchte zu tragen.

      Schlimm, wie schnell so ein Herbsttag vorüber ist. Du stehst auf, in mieser Stimmung, weil es regnet, weil selbst der im Hof kläffende Hund einen Schnupfen hat, weil der Nachbar den Motor seines klapprigen Gefährts so lange laufen lässt, dass sich die Lufttemperatur des ganzen Viertels um ein Grad erwärmt. Dann erledigst du das eine oder andere, erklärst irgendjemandem, nicht schuld zu sein an den Gräueln auf dem Balkan, der ungerechten Vergabe des Nobelpreises an Scharlatane und Pasquillenschreiber, schlägst dich (zumindest in Gedanken) mit der neuen Werteskala herum, der ungleichen Verteilung von Lebensmitteln, in der Gesellschaft wie im eigenen Organismus, erklärst, dass nicht du die Mehrwertsteuer erfunden hast. Und da ist noch das Problem des Transports von radioaktiven Abfällen an sichere Orte. Am Ende siehst du: Draußen ist es bereits stockdunkel, die Sterne noch nicht angeknipst, und während du noch vorm Einschlafen einen weiteren sinnlos verbrachten Tag verfluchst, da rasselt schon wieder das Telefon. Eine kaum zu identifizierende Stimme erkundigt sich munter: Du, sag mal, willst du uns nicht helfen, Reklame zu machen für unsere Möbel? Ich ruf aus Briansk an, hier ist unser Stab. Also, ich stell mir das so vor: Ein alter Pobeda, die Möbel und du auf der Titelseite, na? – Bratsk, Briansk, Brest, Breslau, Bratislava, Brno, Bilbao, alles ein und dieselbe Teufelei! Dabei weiß der Hundesohn doch, dass in diesen Breiten hier, nach dem Abendgebet, alle Schäflein schlafen. Briansk! Was hab ich in diesem Briansk verloren? Die Zeile eines russischen Barden kommt mir in den Sinn: A moj tovarišč seryj brianskij volk![4] Und am Telefon, wie sich bald herausstellt, nicht irgendwer, sondern Giunteris Bernšteinas, Regisseur und zugleich furchtloser Erforscher des östlichen Marktes, sonst ein angenehmer und gesprächiger Mensch. Das ist kein Tag mehr, das wird auch keine Nacht! Schon weckt mich ein weiterer Anruf: Du schläfst? Entschuldigung … Und diese Stute erklärt auch noch anderen die Benimmregeln. Was noch: Empfehlungen für den Pulitzerpreis und die Kudirka-Prämie. Dann Wohlfahrtshilfe, für kurzzeitig aus dem Gefängnis entlassene Laienkünstler. Maler etwa? Die verlangen nichts weiter als Amareto (so nennt sich jetzt das zu Sowjetzeiten populäre Parfüm »Trojnoj«)! Ein Elend weit und breit. Hätte das vor einem Vierteljahrhundert passieren können oder noch früher, in den Hochzeiten des Aufbaus des Kommunismus? Wie immer man es sehen mag, die Grube für diesen Bau war so tief ausgehoben, dass auch heute noch der eine oder andere hineinfällt und dann aus voller Kehle um Hilfe ruft. Fast alle waren an diesen Schachtarbeiten beteiligt, und jetzt sind wir gezwungen, wieder von vorne anzufangen, beim Nullzyklus. Wir, Osteuropas Waisenkinder, bedroht vom Osten, beschämt und mitleidig belehrt vom Westen, zuweilen ein gönnerhaftes Schulterklopfen von den Nachbarn, ermahnt von Tierschutzvereinen und Menschenrechtsorganisationen. Wäre so etwas um 1968 möglich gewesen? Nie und nimmer! Die Todesstrafe wurde ohne großes Federlesen vollstreckt, Andersdenkende stritten sich kaum untereinander, und die Heizperiode in den Irrenhäusern begann stets rechtzeitig … Nostalgie der verlorenen Zeit, wie sie dem Homo sapiens eigen ist? Immer diese Schlaflosigkeit! Selbst den Dienern religiöser Kulte kam zugute, dass dem lieben Gott öffentlich der Daumen gezeigt wurde oder den Philosophiedozenten … Aber jetzt reicht’s, vielleicht schlaf ich doch noch ein. Alle wird man nicht erwähnen können, schade. Für mich ist dieses Vierteljahrhundert der Ausgangspunkt, um Bilanz zu ziehen, ich könnte nicht mal überzeugend erklären, warum. Sicher misst jeder sein Viertel auf seine Art: wie eine Mütze, wie ein paar Sandalen oder wie einen Sarg. Nur: Die Toten, die zu meinem Personal gehören, dachten überhaupt nicht an irgendwelche Viertel- oder Halbjahrhunderte. Sie rannten herum wie irre, trieben Sport, nicht des Geldes, sondern der Gesundheit wegen, kämpften mit den Tücken des Alltags, klapperten mit den Wimpern, lächelten ironisch über die von den Fesseln des Imperialismus befreite Welt, liebten und stritten, verfassten ausgefeilte Beschwerdebriefe, verbreiteten gegnerische Propaganda und vieles mehr. Ohne jede Absicht, sich davonzumachen aus dieser unbelehrbaren Welt, sponnen sie Pläne, schwärmten davon, Paris zu besuchen, um dann, meist gegen ihren Willen und auf verschiedenste Weise, den Geist aufzugeben. Auf verschiedenste Weise? Mag sein. Wie man’s nimmt. In der Tat, zieht man die klinischen Parameter und klassischen Todesursachen in Betracht, dann starb selten einer eines natürlichen Todes. Aber in den heutigen Nullzyklus passen sie dennoch irgendwie, meine lieben Hinterbliebenen. Ohnehin werde ich diese Nacht nicht mehr zum Schlafen kommen. Auch Totensonntag ist nicht mehr weit. Immer diese Gräber und Gräber. Erde, schwarz und weich, beinahe wie Samt. Weich wie ein Katzenschwanz und blutleer. Wie hat er sich ausgedrückt, dieser schnurrbärtige Schizophrene Salvadore? Ja – Blut ist süßer als Honig. Auf den Friedhöfen findet sich kein Blut. Nur eine Menge pflichteifriger Besucher am Abend vor Allerheiligen. Demonstrierter Schmerz, obwohl vielleicht … Der Nullzyklus trotzt seit jeher allen Prachtbauten. Und eben deshalb ist er notwendig.

      Der kleine Povilas war mein Freund in der Grundschule und die erste Leiche, die ich zu sehen bekam. Ich war nur neugierig. Als sie ihn aus dem Nemunas zogen und aufbahrten, wurde an seinem Haus in der Vilniusser Straße eine blassrote Fahne mit weißem Kreuz gehisst. Sie beerdigten ihn mit einem Priester, obwohl beide Eltern Lehrer waren und manch einer davon abriet, diese Fahne aufzuziehen. Ohne Erfolg. Wir wurden damals noch kahl geschoren, und Povilas Kopf war übersät mit weißen Striemen, dort, wo er, herumtollend und sich prügelnd, angeeckt war. Dennoch flüsterte mir damals ein erwachsener Mann zu: Unser Povilas ist schon im Himmel! Kinder gelangen viel leichter dorthin. Wie gern wäre ich auf der Stelle gestorben! Die blassrote Fahne, der Teppich im Lastwagen, der nach Harz duftende Sarg und ganz nah das Himmelreich! Povilas war ein guter Schüler gewesen, Erstgeborener von Dorflehrern. Der Vater untersetzt, dunkelhaarig, die Haut runzelig, verbraucht irgendwie. Die Mama hingegen schlank und hochgewachsen, mit langem, dünnem Hals. Povilas ertrank im Nemunas, er lief einem

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