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nicht mehr. Er war als Hase verkleidet gewesen. Offenbar war dort eine Petroleumlampe umgekippt, andere sagen, ein kleines Fass sei in Flammen aufgegangen, entzündet von einem bengalischen Feuer. Das Häschen wälzte sich noch einige Tage vor Schmerz in einem Krankenhaus, dann erstarrten die Lippen, auch dieses Kind starb. Vilkus war der Nachname des Lehrers, Vilkuvienė der seiner Frau. Es gab noch einen dritten Sohn, über den ich nichts weiß. Vielleicht ist er in der Armee ums Leben gekommen oder im Suff mit seinem Traktor umgekippt. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

      Šarlis Tamulis, Student der Philologie und Kellner, erhängte sich in der Neubauwohnung seiner Schwiegermutter, in der Toilette, mit einem Soldatengürtel. Er hasste den Sozialismus, aber nicht deswegen hat er sich erhängt. Ihn quälten Komplexe, außerdem war er nicht sehr glücklich verheiratet. Zog ein bei seinen Schwiegereltern, und sofort war er dort unglücklich. Wahnsinnig sensibel, poetisch, misstrauisch und unglücklich, eine Art Heliotrop in unserem widrigen Klima. Doch wie viele davon gibt es, die leben, und nichts passiert. Alles tat er ohne Grund, ohne Grund heiratete er, studierte er, kellnerte er. Hätte ein guter Waldarbeiter werden können oder vielleicht sogar Musikant, der bei Hochzeiten aufspielt. Doch nein! Es gab damals so eine dumme Mode, in Ämtern und staatlichen Einrichtungen den Tag der Sowjetarmee und der Rotbannerflotte zu feiern. Alberne Ansprachen, Zoten, Besäufnisse. Šarlis kannte ich: Wir beide beendeten zusammen die Schule und waren beinahe Freunde. Eine seltsame Verbitterung ging von ihm aus, selbst dann, wenn er sich amüsierte. Aber wer achtet in der Jugend auf solche Lappalien! Nachdem besagter Tag in seinem Restaurant gefeiert worden war, wankte Šarlis nach Hause und suchte dort vergebens seine bleichgesichtige Ehehälfte. Er zog sich aus, setzte sich aufs Bett, rauchte eine nach der anderen. Šarlis’ Frau, eine Russin, wurde in einem Erdbunker geboren, er selbst jedoch in einem normalen Kreißsaal. Und dennoch war er allzu empfindlich, nahm sich alles zu Herzen. Als seine Varja sich schließlich einfand, fragte Šarlis: Na, Varja? Wo bist du gewesen? Das geht dich einen feuchten Kehricht an, murmelte Varija. Lass mich jetzt schlafen. Dann geh ich jetzt und häng mich auf, erklärte mein Freund Šarlis Tamulis, basta! Das möge er ruhig tun, murmelte Varja und war schon eingeschlummert. Und Šarlis ging und erhängte sich. Offenbar war er ein Mensch mit Prinzipien, so erzogen. Ein gegebenes Wort musste man halten! Am anderen Morgen begab sich Varja zur Toilette und stieß dort auf Šarlis’ Beine. Die schob sie auseinander, legte sie sich auf die Schultern und hockte sich auf die Kloschüssel, so eine widerlich braunrote von eisenhaltigem Wasser. Während ihr Šarlis gleichsam im Genick saß. So schien es jedenfalls. Nur, dass sie nichts merkte. Als die arme Varja plötzlich zu sich kam und begriffen hatte, was hier passiert war, weckte sie mit ihrem Schrei das ganze Haus. Als sie Šarlis Tamulis beerdigten, platzten die vom Frost befallenen Zäune. Nur die Friedhofsmauer hielt stand, sie war erst unlängst fertig gestellt worden. Während der Sarg mit Erde bedeckt wurde, deklamierte ich ein selbst gefertigtes Gedicht. Aus meinem Mund dampfte die Kälte, ich lebte noch. Wollte überhaupt nicht mehr sterben und irgendwohin geraten. Schnee um mich herum, tief, trocken, vom Wind getrieben. Die Totengräber nehmen jetzt dreißig Rubel für eine Grube, erzählte mir einer. Damals war das verdammt viel Geld. Später wurde ein Stein, auf dem Šarlis beim Angeln gern gesessen hatte, auf sein Grab gerollt. Wir holten ihn direkt aus dem Fluss und schleppten ihn dorthin. Immer noch taucht Šarlis plötzlich auf, noch heute streite ich mich mit ihm. Nur dass er beinahe nie widerspricht und schweigt, allenfalls nachsichtig lächelt.

      Bibas, der eigentlich Juozas hieß, lag am Ufer des Nemunas im Gras und spannte seine Bauchmuskeln an, so lange, bis dort richtige Beulen hervorsprangen, dann lud er uns ein, auf seiner Bauchdecke herumzuspringen. Kräftig war er, untersetzt, mit pockennarbigem Gesicht und Igelschnitt. Als er herangewachsen war, spielte er hinter der Stadt Fußball, denn er rannte auch wie ein Windhund. Aber dann warfen sie Bibas aus der Mannschaft. Alkohol, Schlägereien, was sonst! Auch seine Arbeitsstelle verlor er, wo er sich, um die Wahrheit zu sagen, gar nicht hatte blicken lassen und nur sein Gehalt als Fußballer entgegennahm. Die Folge war, dass er noch wütender trank. Er war stark, er konnte das tun. Noch Jahre hätte er es ausgehalten. Meistens trank er im Wald, nahe einem kleinen See, offenbar, weil ein Getränkeladen ganz in der Nähe war. Irgendjemand kaufte dort für ihn ein, und er lag unter einem Haselnussstrauch und ließ sich voll laufen. War er müde geworden, drehte er sich zur Seite und schlief. Einmal nickte Bibas ein, während er auf dem Rücken lag, und zumindest diesmal sprang niemand auf seinem Bauch herum. Auf einmal wurde ihm schlecht, er übergab sich und erstickte am Erbrochenen. Kein schöner Tod, sagt man. Aber ist der irgendwann schön gewesen? Das sind Märchen. Was reden die Leute nicht alles. Und schade. Sie hätten Bibas doch wieder in die Mannschaft genommen. Er hätte noch spielen und spielen können, trinken und trinken. Gibt es doch Leute, die auf dem Rücken schlafen. Liegen da, schnarchen, und nichts passiert. Man kann auch auf die Seite gedreht liegen. Wird es einem schlecht, kann nichts Ernstes passieren. Na, allenfalls kotzt man sich das Hemd voll und den Frack, große Sache! Unangenehm natürlich, aber eine Lappalie, ich sagte es bereits.

      Auch in der Poesie verbirgt sich der Tod, leider. Sogar mehr als im Leben. Diejenigen, die Gedichte verfassen, nehmen Dinge ernst, wahnsinnig ernst, während gewöhnliche Menschen nur abwinken oder sich mit dem Finger an die Stirn tippen. Mika schrieb schlechte Verse, das aber mit Herz und Seele. Sie arbeitete bei einer Zeitung irgendwo in der Setzerei und verliebte sich in den Leiter der Literatur-Abteilung, einen gut aussehenden, begabten Windhund. Der mimte gern den Engländer, band sich jeden Tag einen neuen Schlips um und rauchte Filterzigaretten, obwohl er ein Taugenichts war. Er selbst schrieb bombastische Betrachtungen und dürftige Rezensionen, aber all das ist nicht wichtig. Mika verliebte sich also und schrieb Verse, Tag und Nacht. Die jungen Mädchen verliebten sich eines nach dem anderen in diesen Abteilungsleiter, auch wenn jedes von ihnen wusste, dass morgen schon wieder die Nächste an der Reihe war. Banal, wie er war, machte er daraus auch gar keinen Hehl. Einmal begleitete er Mika aus einem Café, lud sie dann zu sich ein, was keine Schwierigkeiten machte. Er war der zweite Mann in Mikas Leben und schon der letzte. Mika, ein Mädchen, wie Mädchen eben sind, nur diese Verse! Vierundzwanzig war sie wohl. Liebte den Halunken, selbst noch nach dieser schrecklichen Nacht. Schrieb Briefe, widmete ihm Dreizeiler. Nun begann er, ihr offen aus dem Weg zu gehen. Und Mika schrieb ihm einen weiteren Brief, bestellte ihn zu einem Treffen auf jene Pontonbrücke, die damals noch nicht eingestürzt war und ein Dutzend Menschen mit sich gerissen hatte. Am soundsovielten Juni, fünf Uhr nachmittags. Es war bereits Badesaison, aber Mika konnte nicht schwimmen, vor Wasser hatte sie panische Angst. Und schrieb trotzdem: Kommst du nicht, dann ertränke ich mich! Der Engländer wäre vielleicht gekommen, aber diesmal war er wirklich beschäftigt. Einquartiert im Hotel Neringa, bumste er energisch die Korrespondentin der Komsomolskaja Pravda, zuständig für das Baltikum und das Kaliningrader Gebiet. Eine mollige, nicht mehr ganz junge Braunhaarige. Das war schon was anderes als die dürre Mika. Hier winkte außerdem, was seine Artikel betraf, eine Verbindung nach Moskau, seinerzeit war ihm das wichtig. Wichtiger selbst als Mikas Leben. Mika wartete die siebzehn Minuten, nahm dann ihre lange, schmale Nase zwischen die Finger und schritt über den Rand der Pontonbrücke, wie man von einem Bürgersteig auf die Straße tritt. Einige Frauen sahen es, benachrichtigten sogar irgendjemanden, was nützte es noch?

      Aber am schwersten zu sterben war es damals für jene Alkoholiker, die eine gute Arbeit hatten und ein anständiges Gehalt, dazu eine Familie und die alles schätzten: das Gehalt, die Familie und die hochprozentigen Getränke. Zu diesen gehörte auch mein Studienkollege Venislovas Vaivada. Anfangs studierte er litauische Philologie, später Arbeitsökonomie, schließlich landete er in der Universitätsabteilung, welche die Wissenschaftler zu kontrollieren und zu beaufsichtigen hatte. Allein von Venislovas hingen deren Dienstreisen ab, die Termine für die Verteidigung ihrer Dissertationen und hundert andere Dinge, über die man seinerzeit nicht gern laut sprach. Mit einem Wort, hier ging es um Karrieren, akademische und auch sonstige. Und diese Wissenschaftler verhätschelten und verwöhnten den einflussreichen Mann. Ob er wollte oder nicht, man schenkte ihm Kognak ein oder erlesene Liköre, und diejenigen, die nicht tranken, führten ebenfalls entsprechende Präsente mit sich. Pralinen, das ist wahr, nahm Vaivada nicht an. Jeder erfahrene Trinker weiß natürlich, dass es heilsamer wäre, jedes Mal einen Klaren zu sich zu nehmen, nicht diese teuren Surrogate. Aber das ließen Vaivadas’ gesellschaftliche Stellung und sein Prestige nicht mehr zu. Kognak schien dagegen ein wahres Zeichen der Verehrung zu sein. Venislovas war ein umgänglicher Mann mit guter

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