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auf der anderen Seite gefestigt werden. Und so startete unsere Schule eine große Brieffreundschaftsaktion. Natürlich völlig freiwillig, wir lebten ja schließlich nicht in einem Unrechtsregime. Wer keine Lust hatte, musste auch nicht mitmachen – sondern lediglich in Einzelgespräche mit Klassen- und Vertrauenslehrer, mit Herrn Hohenbork und dem Vize-Direktor. Anschließend erhielt er eine besondere Förderung im Politik- und Geschichtsunterricht, da hier ja einige Defizite ganz offensichtlich waren, aber sonst konnte man sich völlig frei entscheiden. Entsprechend begeistert bettelten wir Herrn Hohenbork um Ost-Adressen an. Das führte zu interessanten Briefwechseln:

      »Lieber Mario, ich hoffe, es geht Dir und Deiner Familie gut, obwohl Ihr in Jena lebt. Hat Deine Mutter genug zum Anziehen? Viele Grüße, Dein Heiko.«

      »Lieber Heiko, viele Grüße auch von meiner Mutter, sie braucht jetzt wirklich keine Strumpfhosen mehr, und der Kaffee reicht auch noch eine Weile, außerdem meint sie, wir trügen die Hosen lieber ohne abgewetzte Knie, Dein Mario.«

      Aber Herr Hohenbork meinte, so seien sie eben da drüben im Osten, ganz bescheiden, die trauen sich das gar nicht zu sagen, wie schlecht es ihnen geht, ja, die dürften das überhaupt nicht sagen. Wenn sie schreiben würden, dass sie Kaffee bräuchten, dann würde die Stasi sie sofort ins Gefängnis sperren, die müssen das also so sagen, das seien im Grunde ganz typische Hilferufe von drüben, die in Wirklichkeit bedeuteten, dass sie dringend viel mehr Anziehsachen und Kaffee bräuchten, sonst würden die das doch gar nicht erwähnen. Also musste wieder ein neues Paket geschnürt werden.

      Nur einmal haben meine Hilfslieferungen wirklich große Begeisterung ausgelöst. Mario erwähnte, dass er ein großer Udo-Lindenberg-Fan sei, aber leider bekäme man ja nichts von dem in der DDR. Nun war meine Musiklehrerin zufällig dessen Cousine, und ich erzählte ihr von der Notlage in Jena. Zwei Wochen später drückte sie mir ein paar Autogrammkarten in die Hand, signiert mit: »Für Mario, Dein Udo«. Die schickte ich los, und bald darauf erhielt ich dann erstmals Jubelschreie von drüben. Fünf Doppelzentner Meisterröstung ohne nennenswerte Reaktion, aber bei sechs unterschriebenen Postkarten überschwängliche Dankesorgien. Dann kam die Wende, und meinen letzten Brief an Mario erhielt ich zwei Wochen später zurück mit dem Stempel: »Unbekannt verzogen«. Es war vorbei. Endlich.

      Ich und das große Glück

      MACHT LIEBE BLIND? ZUMINDEST wagemutig. Ich war schon lange an Sabrina interessiert, ich hatte ein paar Kurse mit ihr gemeinsam belegt, aber ich kam mit meinen Annäherungsbemühungen so recht nicht weiter. Als Sylvester nahte, sah ich meine große Chance kommen, zumal sie gerade zuvor endlich mit ihrem Freund Schluss gemacht hatte. Ich wollte mit ein paar Kumpels nach Berlin fahren; es war das Sylvester nach dem Mauerfall, wir wollten zum Brandenburger Tor, ein bisschen historischen Wind schnuppern, es versprach, interessant zu werden. Ich nahm allen Mut zusammen und fragte, ob sie nicht mitkommen wolle. »Leider nein«, antwortete sie, »ich fahre schon mit Taizé nach Breslau, zum Europäischen Jugendtreffen der jungen Christen. Wenn du willst, könntest du da aber auch einfach mitkommen!«

      Ich zögerte keine Sekunde und sagte zu. Die Gelegenheit war einfach zu perfekt: Mehrere Tage mit ihr zusammen – wenn’s da nicht klappte, würde das nie was. Dafür konnte man auch diesen ganzen Christen- und Jugendfreizeitkrimskrams hinnehmen; als Schüler eines bischöflichen Gymnasiums war ich in diesen Dingen ohnehin gestählt.

      Bald darauf ging es also los, unsere Gruppe traf sich am Bahnhof von Münster-Hiltrup. Ich landete im Zugabteil neben ihr. Alles lief nach Plan. Abgesehen vielleicht von dem infernalischen Gesinge, das Jörg aus dem Emmerbachtal gleich nach der Ausfahrt aus dem Bahnhof Hiltrup anstimmte. Ich tröstete mich damit, dass er das kaum bis Polen durchhalten würde. Ich sollte mich irren. Erleichtert atmete ich auf, als wir endlich in Helmstedt ankamen und die Grenzer in den Zug stiegen. Leider zeigte die DDR zum Jahreswechsel 1989/1990 schon erhebliche Zerfallserscheinungen, sodass ihre Repräsentanten nur gut gelaunt unsere Papiere flüchtig durchsahen und darauf verzichteten, Jörg wegen republikschädigenden Gesinges einfach mitzunehmen. Die polnischen Kollegen später waren noch etwas gewissenhafter, sodass zumindest für die halbe Stunde an der Grenze Ruhe herrschte. Danach schlief ich erschöpft ein. Und obwohl es mir gelang, meinen Kopf auf Sabrinas Schulter zu betten, hatte mein eigentlicher Plan noch keine Fortschritte gemacht – sie schlief trotz der höllischen Himmelsgesänge bereits seit Hannover. Aber ich konnte warten.

      Als wir im Bahnhof Breslau ankamen, dachte ich zunächst, ich hätte den Akustikterror endlich überstanden. Aber schon in der Bahnhofshalle wurde klar, dass dies ein böser Irrtum war. Alles war voll mit gitarrenbewehrten Jungchristen. Mindestens vier verschiedene Gruppen sangen aus voller Kraft in unterschiedlichen Ecken, es war ein unfassbares Gewusel. »Sag mal, wieviele Leute kommen eigentlich zu diesem Treffen?«, fragte ich Sabrina entgeistert. »Och, so um die 50.000, glaube ich.« Vielleicht hätte ich mich doch vorher informieren sollen. Auf einem großen Pappschild erspähten wir den Namen unserer Gemeinde, und schon wurden wir abgeholt und zu der Zeltstadt gebracht, in der wir untergebracht werden sollten. Jetzt galt es, eine Schlafgelegenheit zu ergattern, die trotz Geschlechtertrennung wenigstens strategisch möglichst günstig zu meinem Ziel lag: Sabrina. Also wartete ich erst einmal ab, wo sie hinkam, während die anderen sich alle schon an verschiedene Schlangen anstellten. Sabrina erhielt einen Platz in einem etwas abseits gelegenen Zelt, ich versuchte es direkt daneben. Leider voll. Im Zelt daneben auch. Eine junge Polin eröffnete mir, dass es in der Nähe leider gar keinen Platz mehr gebe, genau genommen jetzt wohl auch in der ganzen Zeltstadt nicht mehr. Ich hätte aber großes Glück, denn somit würde ich privat in einer Gastfamilie untergebracht.

      Mein großes Glück hieß Slowinski und hatte drei Zimmer, eine Frau, vier Kinder, einen Großvater sowie ein Badezimmer mit einer großen Zinkwanne, aber ohne warmes Wasser. Mein großes Glück wohnte lediglich etwa vierzig Minuten von der Zeltstadt entfernt. Und mein großes Glück begrüßte mich herzlich, indem es mir ein riesiges Stück einer fleischähnlichen Masse auf den Teller knallte, das die siebenköpfige Familie sich vermutlich vom Munde abgespart hatte. Dann saß das große Glück erwartungsvoll um den Tisch herum und beobachtete mich, wie ich das Zeug herunterwürgte und dabei versuchte, so zu tun, als sei ich ganz begeistert. Als Westfale ist man ja allerlei gewohnt, aber die etwa faustgroßen Speckklumpen, die mühsam unter dem grob zermahlenen Innereienmehl verdeckt waren, stellten doch eine ganz neue Herausforderung dar. Und schließlich offenbarte mir mein großes Glück, dass ich nun noch mit in die Spätmesse in die Kathedrale dürfe. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen.

      Es war etwa -20 °C, und obschon das Gotteshaus restlos von eingemummelten Gestalten überfüllt war, lagen die Temperaturen im Inneren nicht höher. Vermutlich waren die Polen, die diese Tundrabedingungen gut kannten, so perfekt isoliert wie die optimale Thermoskanne aus dem Physikunterricht. Ich hatte nicht mal lange Unterhosen. Einen Platz gab es nicht mehr für uns, was aber auch egal war, weil alle ohnehin nur auf dem eiskalten Steinfußboden knieten.

      Nach anderthalb Stunden Hochamt fühlte ich mich dem Himmel so nah wie nie zuvor. Meine Kniescheiben hatten den Weg ins Paradies längst schon angetreten, waren aber im Fegefeuer hängen geblieben. Da war es mir auch schon egal, als mir zurück in der Wohnung als Gute-Nacht-Mahl noch ein weiterer Fleischklumpen vorgesetzt wurde. Ich versuchte meine Gastfamilie zu überzeugen, dass wir doch wenigstens ganz christlich teilen könnten, aber das ließ ihr Ehrgefühl offenbar nicht zu. Sie aßen stattdessen Brot mit Butter, worum ich sie sehr beneidete. Der Gedanke, dass das alles sehr gut gemeint war, wärmte mich aber ein wenig, als ich nachts den Festschmaus im Bad, dessen Klima einem Tierkühlschrank ähnelte, wieder erbrach.

      Am nächsten Tag kam ich nach der Frühmesse verspätet zum Zeltlager. Meine Gruppe war schon weg, Sabrina hatte nicht auf mich gewartet. Stattdessen geriet ich in ein Besinnungsseminar, in dem über den aktuellen Hirtenbrief des Taizé-Sektenführers Frere Roger Schutz meditiert wurde. »Quellen des Vertrauens« hieß das Epos, und ich spürte, wie die meinigen allmählich versiegten. »Beim Aufschlagen des Evangeliums kann einem der Gedanke kommen: Die Worte Jesu gleichen einem uralten Brief, der mir in einer unbekannten Sprache geschrieben wurde«, rhabarberte es vom Vortexter. Während der folgenden Diskussionen kam mir ein ähnlicher Gedanke in der Tat mehrere Dutzendmal.

      Erst kurz nach der Nachmittagsandacht sah ich Sabrina

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