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es Bürgerinitativen gab. Wo man, wenn man zu Besuch war, der Mutter, die einem geöffnet hatte, nicht einfach sagen konnte: »Ist die Julia da?«, um sich dann vorbeizudrücken und in ihr Zimmer zu gehen, sondern wo die Eltern sich bemühten, mit der jungen Generation in Kontakt zu bleiben, weshalb man völlig unvermittelt etwas über Atomkraftwerke sagen musste oder die geplante Umgehungsstraße.

      Ich war ziemlich aufgeregt, weil ich eine Verabredung mit Julia ausgehandelt hatte. Wir hatten ein paarmal auf Feten geknutscht, nun hatte sie mich eingeladen. Wir saßen mit ihren Eltern am Abendbrottisch und ich musste erörtern, ob die Rede von Bundestagspräsident Philipp Jenninger antisemitisch gewesen sei oder nicht. Als wir zum Nachtisch den Fruchtjoghurt endlich aufgegessen hatten, sagte Julias Mutter plötzlich: »Du bleibst doch sicher hier über Nacht, oder?« Mich traf es wie ein Schlag. Was zum Teufel sollte ich darauf antworten? »Lass mal, Mama, das sehen wir dann schon«, schaltete sich nun Julia ein, und dann mir zugewandt: »Komm, wir gehen zu mir nach oben.« Julias Mutter nickte, und während wir über die Wendeltreppe ins Obergeschoss gingen, rief sie uns noch freundlich nach: »Aber denkt dran, Kondome zu nehmen, wenn ihr zusammen schlaft!« Also, liberale Eltern, die sich für ihre Kinder interessieren – schön und gut. Aber das hier war mir eindeutig – zu wenig intim. Zu wenig verrucht. Zu selbstverständlich. »Ja, Mama«, rief Julia zurück, und es klang nicht mal genervt.

      Julias Familie wohnte in einem dieser typischen Neubaugebietshäuser: unten ein großzügiges kombiniertes Wohn- und Esszimmer sowie die Küche und ein Besucher-WC, oben das Bad, das Elternschlafzimmer und die beiden Zimmer für die Kinder. Die Zweikindfamilie war bauliche Grundvoraussetzung im Emmerbachtal. Und Julias Zimmer lag genau neben dem Schlafzimmer der Eltern. Wenn diese nachts ins Bett gingen, konnten wir hören, wie sie sich vor dem Einschlafen noch eine Weile leise unterhielten. Vermutlich über die geplante Fußgängerzone in Hiltrup-Ost.

      Zwar verliefen die weiteren Geschehnisse zunächst durchaus in meinem Sinne, aber dann machte ich eine furchtbare Entdeckung. Julia machte Geräusche. Schon bei einfachem Gestreichel. Sie machte Geräusche, während ihre Eltern nebenan lagen und sozusagen die Erregungskurve ihrer reifenden Tochter akustisch live in ihr Ehebett übertragen bekamen. Ich versuchte, ihr durch leidenschaftliche Küsse den Mund zu stopfen, war aber letztlich nur bedingt erfolgreich.

      Und dann der nächste Morgen. Die Eltern hatten den Frühstückstisch schon gedeckt. Dieses wissende, milde Lächeln. Diese dezenten Zweideutigkeiten: »Na, habt ihr gut geschlafen?« oder »Ihr wollt doch sicherlich noch duschen, Papa ist gleich fertig im Bad.« Nach der verwirrenden ersten Nacht mit Julia setzte ihre Mutter uns morgens Frühstücksflocken vor, während der Vater die Münstersche Zeitung las. Ich rührte ratlos in den Corn­flakes herum, als sähe ich so etwas zum ersten Mal. Offenbar spürte die Mutter doch etwas vom Beklemmenden dieser Situation und fragte zur Auflockerung sehr interessiert: »Na, was habt ihr denn gerade in Erdkunde?« »Weimarer Republik?«, erwiderte ich müde, und der Vater sagte mit sanfter Stimme: »Ach, lass mal, Charlotte, die beiden haben gerade was ganz anderes im Kopf.« Ich im nächsten Moment vor allem viel Blut. Alles verfügbare Blut, wie mir schien. »Du brauchst dich doch nicht zu schämen«, sagte die Mutter verständnisvoll, und ich schämte mich noch mehr. Ich hielt das keinen Monat aus und machte Schluss mit Julia. Ich war sehr erleichtert, als das nächste Date im Auto endete.

      Hilferufe von drüben

      DIE DDR WAR FÜR MICH, der ich in Münster nahe der holländischen Grenze aufwuchs, ein fernes, exotisches Land. Keiner von uns war je dort gewesen, wir kannten niemanden da, und hinfahren wollte erst recht keiner.

      Dementsprechend befremdlich wirkte auf mich die Aufregung, die um diesen Langweilerstaat permanent ver­anstaltet wurde. In der Schule durften wir ihn nicht einmal so nennen, wie er zu Hause selbstverständlich hieß, geschweige denn so aufschreiben. Hätte man ihn einfach ignorieren können, wäre das ja gar kein Problem gewesen, aber mit derselben Unbarmherzigkeit, mit der wir spätestens alle zwei Jahre in Biologie den Aufbau des Pantoffeltierchens erneut auswendig lernen mussten, hatten wir uns permanent in Geschichte, Politik und Erdkunde mit der DDR auseinanderzusetzen, ohne dass man sie so hätte benennen dürfen.

      »Das heißt so genannte!«, fuhr einem der Politiklehrer über den Mund, wenn man die bösen drei Buchstaben arglos aufgezählt hatte, und in der Klassenarbeit Deutsch wurde es angestrichen, wenn man die Gänsefüßchen vergaß. Ebenso tabu war auf der anderen Seite die Benennung der staatlichen Konstruktion, in der unsere Stadt lag, als BRD. Denn dies, so wurde man nicht müde, uns zu erläutern, dies sei eine böse Falle der Kommunisten, die nur dazu diene, den Blick davon abzulenken, dass das ja schließlich alles Deutschland sei, ein Deutschland eben, das sei doch das Ziel der Russen und Honeckers, dass man nur noch von DDR und BRD spreche und Deutschland schließlich untergehe. »Deutschland« wurde merkwürdigerweise dennoch als Synonym für BRD allgemein akzeptiert.

      Diese etwas eigenwillige Nomenklatur stieß zumindest in Geschichte und Erdkunde aber an die nicht anerkannten Grenzen, denn dort kam man ja nicht umhin, bei den ständigen Thematisierungen die beiden Gebilde auch unterschiedlich zu benennen, sodass dort die Schreibweise BR Deutschland vorgeschrieben war, bei einigen Lehrern war sogar das »BR« verpönt und musste ausgeschrieben werden. Einzig Herrn Humbert war das zu doof, und er kürzte an der Tafel gnadenlos in BuRepDeu, was einen empörten Vater unserer Jahrgangsstufe zur Intervention veranlasste, weil er die vermuteten subversiven, verfassungsfeindlichen Einflüsse auf uns Schüler unverantwortbar fand. Da aber niemand eine Verwendung von BuRepDeu in einem realsozialistischen Zusammenhang nachweisen konnte, durfte Herr Humbert weiter nach seiner Art abkürzen und galt fortan als fünfte Kolonne Moskaus in unserem bischöflichen Gymnasium.

      Mit derselben Strenge aber, mit der wir den östlichen deutschen Staat negieren mussten, mussten wir ihn gleichzeitig füttern. »Hilferufe von drüben«, hieß die Aktion, und einer unserer Lehrer war einer ihrer großen Aktivisten. Sein liebstes Geschenk an uns Schüler war ein DDR-Länderkennzeichen-Autoaufkleber, nur dass das Oval bei Herrn Hohenborks Aufklebern von einem Stacheldraht eingegrenzt war. Was »Hilferufe von drüben« sonst so gemacht hat, weiß ich nicht mehr. Für uns jedenfalls bedeutete es vor allem eines: Wir mussten Kaffee ranschaffen. Kaffee, gebrauchte Kleidung und Damen-Strumpfhosen. Denn die so genannte DDR war ein Unrechtsstaat, in dem die Menschen mit Stacheldraht eingesperrt waren, damit sie sich keinen Kaffee, keine Jeans und keine Damenstrumpfhosen kaufen konnten. Diese menschenrechtsverachtende Praxis wurde aber von Herrn Hohenbork unterminiert, indem er Tausende von Paketen gen Osten entsandte, vollgestopft mit Tchibo, Wrangler’s und Nylon. Das ganze Zeug musste aber irgendwoher kommen. Die Kleidung war kein Problem, meine Mutter war eher ganz froh, weil der Altkleidercontainer der Diakonie in Wolbeck stand, und jetzt konnte sie den ganzen Ramsch einfach mir mit zur Schule geben. »Das kannst du doch nicht mehr tragen, Junge, nimm das mal mit zur Schule für die da drüben«, wurde ein häufig gesprochener Satz in Münster-Hiltrup.

      Der Rest musste aber gekauft werden, und so mussten wir zur Geldbeschaffung ununterbrochen irgendwelche Aktionen durchführen, um den Kaffee-Nachschub für den Osten zu organisieren. Ich habe im Lauf meiner acht Gymnasialjahre zwischen 1981 und 1989 auf Schulfesten für Kaffee gesungen, für Kaffee Theaterstücke in der Aula aufgeführt, wir gingen in der Projektwoche durch Hiltrup sammeln für Kaffee, wir bastelten, tanzten, malten und spielten Volleyball für Kaffee – ja, ich habe Volleyball für Kaffee gespielt! Mit den Einnahmen aus diesen zahllosen Schulveranstaltungen ging Herr Hohenbork dann immer in den Ratio-Großmarkt und kam mit ganzen VW-Bus-Ladungen Meisterröstung wieder zur Schule zurück. Jede Klasse bekam dann einen großen Stapel ins Klassenzimmer gestellt und musste die ganzen vakuumverschweißten Pfunde in Pakete packen. Ich würde vorsichtig schätzen, dass jeder Schüler meines Gymnasiums bis zu seinem Abitur eine halbe Tonne Kaffee in die so genannte DDR gepackt hatte. Wenigstens durfte man beim Adressieren der Päckchen dann endlich mal DDR ohne Anführungszeichen schreiben, denn mit wäre aus der Kaffeelieferung sozusagen eine politische Paketbombe geworden, die von den Grenzern direkt beim Übertritt entschärft worden wäre, wie Herr Hohenbork warnte, und dann hätten die DDR-Grenzsoldaten unseren mühsam zusammengesungenen Kaffee in einer Pause zwischen zwei Erschießungen einfach aufgetrunken, was wir natürlich auch nicht wollten.

      Aber neben dem politischen Kampf um das Überleben von Deutschland in unseren Klassenarbeiten

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