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zu organisieren und umzugestalten … aber vor allem mag er es, die Dinge zu verschränken. Und wenn er das tut, dann ist alles möglich. Deshalb kann man ihm eventuell den Fehler für das nebensächliche (böse) Werk, dessen er sich gar nicht bewusst ist, wie die Fehler eines Kindes verzeihen. Erstens, weil dieses (böse) Werk völlig zufällig und nebenbei angefertigt wurde; es war nicht das Ziel, sondern es existiert ohne jegliche Planung. Zweitens, seine Folgen sind schwerlich so dramatisch, als dass sie unverbesserlich wären. Aber selbst wenn sie nicht zu verbessern sind, weitreichend sind sie nicht. Drittens, die Grundidee bleibt weiterhin im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – das (böse) Werk ist eine Kollaterale. Und zum Schluss, wer versteht den Autor wirklich und essenziell? Das ist noch ein zusätzlicher Grund, wenn nicht sogar eine Rechtfertigung, warum ihm erlaubt ist, die Dinge ruhig zu verschränken und dafür keine Verantwortung zu übernehmen.

      Hier ein Beispiel eines (bösen) Werks: In den Kapiteln, die beanspruchen, sich mit der heutigen Zeit zu befassen (wie auch dieses), führe ich die ganze Zeit ein Gespräch mit mir selbst! Ist das gut oder schlecht? Vielleicht begreife ich zum Schluss, dass es immerhin für das Buch gut ist, obwohl ich in diesem Moment daran zweifle. Warum lasse ich die Helden nicht ihren Weg gehen, damit sie sich – wie man so sagt – entwickeln? Aber, vielleicht ist es für sie noch nicht an der Zeit. Denn … ich bin doch auch einer von diesen Helden (jener mit den Initialen V.B.)! Entwickle ich mich etwa nicht als Figur, durch diesen Dialog mit mir selbst? Hat der Leser etwa nicht begonnen, klare Schlüsse über sie (über mich) zu ziehen? Ich denke, er müsste einige Schlüsse ziehen. Wenn nicht er, wer dann?

      1. KAPITEL

      Sie machten in Jedrene, türkisch Edirne Halt, der berühmten kaiserlichen Winterresidenz und einstigen Hauptstadt.

      Nach einer Pause setzte die Karawane mit der großen Mehrheit der Kinder ihren Weg ins Landesinnere fort. Bajica wurde mit einem ganz kleinen Teil der Gruppe von ungefähr einhundert Übriggebliebenen in Edirne zurückbehalten. Allein die Schönheit des Ortes und der äußerliche Prunk des Serails zogen sie in ihren Bann. Die Beschwerlichkeiten und die Länge des gerade zurückgelegten Weges hatten sie fast vergessen. Vor ihnen lag die erste Versuchung ihres Lebens, derer sie sich weder bewusst sein konnten noch waren sie imstande, sich diese klar vorzustellen. Alles reduzierte sich auf den Vergleich dessen, woher sie kamen mit dem, wohin sie gelangt waren, und dabei hatten sie noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt, den zweiten und gar den dritten Innenhof des Serails zu sehen!

      Die Sinne waren schon korrumpiert, und dabei hatte niemand ein Angebot gemacht.

      Sie wurden in Militärbaracken untergebracht, gleich neben den Räumen der Einheit, die zur Wache des Sultans gehörte. Ihnen wurden einige Wächter zugeteilt, Diener, die Serbisch sprachen, sich ihnen in dieser Sprache aber nur in dem Maße zuwandten,

      wie es der Dienst erforderte: Sie durften kein einziges privates Wort reden, und schon gar nicht irgendetwas erklären. Es war Sache jedes einzelnen der künftigen Untertanen, nur das (oder alles, wie man es nimmt) zu begreifen, was er selbst in der Lage war zu verstehen.

      In die Verzeichnisse wurden neben den existierenden, aus Bosnien und Serbien mitgebrachten Daten, ihre neuen türkischen Namen eingetragen. Bajo Sokolović wurde Sokollu Mehmed. Sie erhielten den Befehl, von nun an nur auf ihre neuen Namen zu reagieren. Unverzüglich gingen sie an das Erlernen der türkischen Sprache. Dieses basierte auf dem sukzessiven Erlernen der elementaren Kommunikation, aber auch auf Begriffen, die sie, ohne sie zu verstehen, sofort auswendig zu lernen hatten, mit der Erklärung, dass deren Erläuterung mit Beginn des Koranstudiums folgt. Der Sprachunterricht währte den ganzen Tag und wurde lediglich von Leibesübungen und kargen Mahlzeiten unterbrochen. Vor dem Einschlafen nannte Bajo sich auch weiterhin Bajica, was in der Regel nur kurz dauerte: Völlig erschöpft, fiel er im Nu wie alle anderen in den Schlaf.

      Die ersten Monate vergingen blitzschnell. Als sie die neue Sprache soweit beherrschten, dass sie sich ohne Schwierigkeiten verständigen konnten (sie mussten diese in Anwesenheit der Lehrer und Aufpasser untereinander benutzen), machten sie sich schnell auch an das Lesen und Schreiben. Obwohl es bereits einen solchen gegeben hatte, setzte nunmehr ein sichtbarer Auswahlprozess ein. Diejenigen, die sich als die Besseren erwiesen, wurden auserwählt, sich verschiedene Wissenschaftsbereiche anzueignen und sich schnell, breit und tief in sie einzuarbeiten. Unverzüglich wurden sie zu dem, was sie sich angeeignet hatten, auch geprüft. Jene, mit denen man nicht zufrieden war, wurden für die Vorbereitungen zum künftigen Dienst in niederen Positionen eingeteilt. Hatten sich in den verschiedenen Lernphasen genügend Schüler zusammengefunden, wurden die für einzelne Wissensgebiete weniger begabten gruppenweise zu denen gesteckt, von denen weniger gefordert wurde. Allerdings war da etwas, das sie alle ohne Unterschied zusammenhielt und auch allen sofort klar war: Sie dienten allesamt ein und demselben Herrscher. In diesem Rahmen waren sie für verschiedene Positionen prädestiniert, doch im Hinblick auf den ihnen allen auferlegten Gehorsam und die künftige blinde und gemeinsame Treue waren das nur Nuancen.

      Mit einer rituellen, bescheidenen und sehr verknappten Zeremonie bekehrte sie der Imam von Edirne zum Islam. Auch eine Beschneidung wurde vorgenommen. Nunmehr konnten sie neben einer umfassenden und vielschichtigen militärischen Ausbildung auch religiöses und geistiges Wissen erwerben. Sehr bald waren Umfang und Dauer der militärischen Übungen völlig identisch mit der Zeit, die sie in Vorlesungen über den islamischen Glauben, mit dem Studium des heiligen Buches, des Korans, und mit gemeinsamen Gebeten verbrachten. Bajica fühlte sich wie jemand, aus dem sie einen Übermenschen machten, bereit und fähig zu Heldentaten von Körper, Verstand und Geist. Für Widerstand brachte er keinerlei Kraft auf; ihm war klar, dass Auflehnung nicht dazu angetan war, ihn vor dem Unvermeidlichen zu schützen. So hatte er wenigstens den Trost (oder die Illusion), an der Entscheidung über die Zustimmung selbst beteiligt zu sein.

      Zwang oder Freiwilligkeit?

      Es war, als würde er auf Osmanisch nachdenken, aber auf Serbisch träumen. Sich so selbst von einer Sprache in die andere hin und her übersetzend, schien er sein Inneres auf einen ewigen Bewacher der Grenze zwischen Realität und Traum vorzubereiten. Das Halten des Gleichgewichts an so einer scharfen Trennlinie begann mit der Zeit, an die Geschicklichkeit eines Seiltänzers auf dem Jahrmarkt zu erinnern. Mit größerer Höhe wuchs die Gefahr zu fallen, als auch die daraus entstehenden Folgen, aber gleichzeitig auch der Gewinn aus einem eventuellen Erfolg. Stellten nicht gerade diese Gegensätze ein Bild seines gegenwärtigen, aber auch zukünftigen, also seines gesamten Lebens dar? Wahlmöglichkeiten gab es wenige: Er konnte mit oder gegen den Strom schwimmen. Aber wie? Und, vielleicht, warum? Wozu? Hier gab es doch keine Erlösung; ein Verzicht würde ihn nicht wieder nach Hause bringen. Er würde in die schlimmstmöglichen Lebensbedingungen eines gewöhnlichen Sklaven abgleiten, ohne jegliche Chance auf Veränderung, geschweige denn auf Fortkommen oder Erfolg. Sich fremden Entscheidungen über sein Leben zu beugen, sicherte ihm die eine oder andere Möglichkeit, irgendwann in der Zukunft eventuell wenigstens partiell Verantwortung für Entscheidungen über dieses eine, sein Leben, zu übernehmen.

      KAPITEL II

      Die Zeit der Kriege, die auf dem Territorium meiner einstigen Heimat geführt wurden, ist vorbei, hoffentlich auf Nimmerwiederkehr. Aber es ist nicht genug Zeit vergangen, viele ihrer Folgen zu beseitigen. Eine davon, die nur auf den ersten Blick harmlos ist, besteht in einer neuen und hartnäckigen Erscheinung des unfeinen Ersatzes von Qualität durch Quantität, so zum Beispiel der Verwandlung von Literatur in Mathematik. Ich möchte es erklären. Da der Zeitraum der Transition einer Gesellschaft von Halbprimitiven als Versuch verstanden wird, alles in Zahlen auszudrücken, zeigte sich als Nebenprodukt »der Schaffung ursprünglichen Kapitals« bei denen, die das Ausrauben von Volk und Staat so nennen, die Notwendigkeit, alles zu bewerten. Und die Bewertung wird in Zahlen vollzogen. Für die vom Geld Abhängigen sind (waren) Zahlen der einzige Wertmaßstab. Und in der Tat wurden aus den Zahlen Top-Listen von allem gemacht, was es gab. Was immer ihnen auch in den Sinn kam, sie konnten es durch einen Vergleich mit dem Ranglisten-Platz dessen ausdrücken, was ihnen eingefallen war, im Verhältnis zu etwas anderem.

      So tauchten auch in den Verlagen und in der Literatur Zahlen aller Art auf. Der größte Teil davon sah im Umfeld des Wortes überflüssig aus. Abgesehen vielleicht

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