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Positionen und noch wichtigere Taten vorbestimmt sei – dies beweise die Tatsache, dass ein Sokolović nach ihm suche, der auf dieselbe Art und Weise, zwanzig Jahre vorher, in das kaiserliche Serail entführt worden war. Er hieß jetzt Deli Husrev Pascha. Nach ihm kam dort kurz darauf auch sein jüngerer Bruder an, der nunmehr Mustafa hieß. Husrev war am Hofe des Sultans sehr schnell vorangekommen, als Pascha oblag es ihm bereits, auch wichtige Beschlüsse zu fassen. Das waren alles zusätzliche Gründe, weshalb es dem Vater und seinem weiteren Bruder – dem Mönch aus Mileševa – gemeinsam mit dem Klosterältesten von Mileševa, Božidar Goraždanin, weder mit Bitten noch mit Geld gelang, den Aga davon abzubringen, Bajica mitzunehmen. Zum Schluss musste er sich als Vater damit trösten, dass man die zwei jüngeren Söhne bei ihm beließ. Der Raub des einen Jungen befreite ihn für alle Zeiten von dem Bangen um die übrigen Söhne: Die Türken hielten sich streng an die eigene Regel, dass einem Haus nur ein männliches Kind weggenommen werden konnte.

      Natürlich gab es nichts, was den Abschiedsschmerz lindern konnte. Falls ein Vergleich überhaupt angebracht war, so der, dass es für Bajica am schwersten war. Einzig er ging fort, all die Seinen blieben (wie es einst im Volke hieß) »in der Horde« und so blieben sie wenigstens teilweise verschont von der Bürde der Einsamkeit, die er beim Abschied trug. Und zweitens wurde er, der das Haus unter Zwang verließ, ins Unbekannte getrieben, während die ganze Familie unter sich blieb.

      Auf dem langen Weg durch Serbien und Bulgarien konnte er nur darüber nachdenken, was er hinter sich zurückgelassen hatte oder was vor ihm lag. Das erste brachte ihn zum Weinen, das zweite flößte ihm Angst ein.

      Völlig ausgezehrt von ununterbrochenem Weinen, das sich allmählich in Schluchzen, und dann in tiefe und laute Seufzer verwandelte, versiegten seine Tränen irgendwann – es waren ganz einfach keine mehr da. Er konnte nur noch innerlich weinen.

      Hätte er damals wenigstens gewusst, dass er einen gehörigen Teil seines künftigen Lebens genauso verbringen würde – in sich gekehrt –, vielleicht wäre ihm dann leichter zumute gewesen! Würde er irgendwann öffentlich und hörbar am Ende seines Lebens sagen, er habe den größten Teil seines Lebens in seinem Inneren verbracht, würde ihm das niemand glauben. Wie denn auch: sein Leben – selbst so gewaltsam unterbrochen – war ein Beispiel für Langlebigkeit. Noch dazu war es derart öffentlich und wichtig, als dass irgendein Leben – von wem auch immer – überhaupt für einen Vergleich herhalten konnte.

      Das Handeln des Herrschers war dermaßen im alltäglichen Blickpunkt der Öffentlichkeit und jedes Einzelnen im Reich, dass es auf Grund jener echten und scheinbaren Dichte des Einbringens offizieller Beschlüsse, des Agierens und Verfahrens, des Bekanntmachens von Aufrufen, des Reisens, des Empfangens von Gästen, des Bestrafens von Ungehorsamen, häufiger Jagdausflüge und so weiter so aussah, als wäre er ein großer Wesir und gänzlich ohne Zeit, auch nur irgendetwas für sich zu tun, geschweige denn manchmal auch eine Privatperson zu sein. Die Häufigkeit der offiziellen Verpflichtungen (von denen übrigens einen großen Teil der gehorsame Apparat des Herrschers erledigte und nicht er persönlich) und besonders die ständige Verbindung seines Namens mit allem und jedem, wobei der Eindruck entstand, er wäre bei jeder Erwähnung seines Namens auch selbst physisch präsent, untermauerte die Illusion von seiner Allgegenwart. Wäre es erlaubt gewesen, hätten ihn wahrscheinlich einige seiner Untertanen wegen derart vieler Pflichten auch noch bedauert. Deshalb entstanden auch die Geschichten über des Herrschers Doppelgänger: Eine solch starke öffentliche Präsenz konnte nur eine vervielfachte Erscheinung erfüllen; da das jedoch nicht möglich war, wurden Geschichten über Doppelgänger des Herrschers erfunden. Später kamen Gründe für das gleichzeitige Auftauchen des Herrschers an mehreren Orten hinzu, zum Beispiel der des Vermeidens eines Attentats.

      Die Kolonne von Pferden und Menschen, die sich wie ein dickes Tau endlos in die Länge zog und an beiden Enden aus seinem Blickfeld rückte, half ihm beim Ordnen der eigenen Gedanken. Zunächst war klar, eine Rückkehr zu dem, was vorher war, konnte es nicht mehr geben. Eine Flucht war kaum ausführbar und falls doch, bliebe die Frage, wohin mit der Freiheit. Die neuen Herren seines Schicksals wussten, wer er ist; er war nicht als zufällig gefundenes Kind hierher gelangt, sondern als bewusst ausgewählter junger Bursche mit Vornamen, Nachnamen und Stammbaum. Sein Eintreffen im Osmanischen Reich war sogar in Auftrag gegeben worden! Ja, er war in die Fremde gebracht worden, aber nicht um zu verschwinden, sondern um etwas zu werden. Es galt klug und pragmatisch zu sein. Es lohnte sich, allem etwas Gutes abzugewinnen, wenn nicht gar Nutzen daraus zu ziehen, hatte ihm der Vater gesagt.

      Er betete zu seinem Gott, dass dieser ihn nicht vergessen möge. Er betete, dass ihn das Gedächtnis nicht verlassen möge. In diesem Moment schien es ihm »er selbst« zu sein »sich erinnern« zu bedeuten. Obwohl die Erinnerung allmählich aus dem Bewusstsein in den physischen Körper wanderte und somit ein organisches Gedächtnis schuf, das jemanden zu dem macht, was er insgesamt ist (eigentlich, woraus er besteht), musste er sich vor dem Vergessen fürchten. Er ging davon aus, dass Vergessen nicht mehr da zu sein bedeutete. Er wusste nicht, dass der Körper genauso imstande ist, zu lesen wie der Verstand: der Körper las gerade jetzt, ihn vor dem Neuen beschützend, seine Kindheit, die Sprache, den Glauben, die Eltern, Brüder und Schwestern, die Klosterzelle und deponierte alles in den entlegensten Teilen des Körpers, bereitete die Botschaften jener Sprache auf einen zeitweiligen Traum von ungewisser Dauer vor. So konnte die Erinnerung mit Sicherheit fortdauern.

      Erst im Lauf der Zeit begann er zu verstehen, warum seine neuen Herren, Herrscher und Besitzer zugleich, sich nicht übermäßig um das Problem von Vergessen und Nichtvergessen dessen sorgen mussten, was er und all die anderen Kinder hinter sich gelassen hatten. Durch das Tempo der nachfolgenden Ereignisse sowie den Umfang der neu entstandenen Pflichten erledigte sich das von allein.

      KAPITEL I

      Wenn man ein Buch mit einem partiellen Hintergrund an (historischen) Fakten schreibt, ist es meist unmöglich, Mystifikationen zu vermeiden, und seien es auch nur zufällige.

      Als ich über all die Zufälligkeiten nachdachte, die für dieses Buch eine Rolle spielten und eine Motivation darstellten, zeigte sich, dass ich den Roman über Sokollu Mehmed Pascha genau in dem Augenblick zu schreiben begann, als fünfhundert Jahre seit der Geburt seiner »ersten Hälfte« Bajica Sokolović (1505) ihren Abschluss fanden. Ich dachte mir, na gut, ich werde dieser einsame Einzelgänger sein, der solch ein wichtiges und rundes Jubiläum beiläufig begehen wird. In meinem Land habe ich nicht bemerkt, dass auch nur einem Beamten so etwas eingefallen ist (allerdings, die Journalistin Nataša Ilić des Blattes Politika hat in ihrem Text vom Juni 2005 darauf hingewiesen, dass sie vor allem die Regierenden und die Öffentlichkeit dazu aufrufen möchte, den verwahrlosten Mehmed-Pascha-Brunnen in Belgrad zu restaurieren, aber – sie ist keine Beamtin). Und die Tageszeitung Večernje Novosti reagierte auf das Jubiläum im letzten Augenblick, im Dezember, indem sie im Feuilleton zehn Folgen veröffentlichte, die aus der Feder von Ismet Kočan stammten.

      Während ich in diesem Jubiläumsjahr einige Zeit in der Türkei verbrachte, habe ich auch dort nicht (weder in diesem Jahr noch in der Türkei) bemerkt, dass jemand das Jubiläum feierlich begangen hätte. Als wäre es an mir, in aller Bescheidenheit auf diesen Anlass hinzuweisen, indem ich darüber schreibe, aber nicht für die Öffentlichkeit (zumindest in diesem Moment), sondern für mich selbst. Denn, wenn dieses Buch veröffentlicht wird, ist das Jubiläum nicht mehr aktuell, wird es auch streng genommen keines mehr sein. Daher sollte man die feierliche Stimmung unter Kontrolle halten oder man sollte sie wenigstens mit Zufälligkeiten bedecken – durch die Verkettung glücklicher Umstände wurde sie von einer anderen Feier überdeckt: der Ankunft des nächsten Jahres.

      Ein Fest verwandelt sich in eine Markierung.

      Das Jubiläum wird durch das Neue Jahr abgelöst.

      Mehmed Pascha verwandelt sich in den Weihnachtsmann.

      Eine echte Möglichkeit, die wie ein Witz wirkt. Zynischer Humor, bedingt durch die Umstände und nicht durch das Talent des Autors. Das ist, als würde ein Autor ohne Plan schreiben und am Ende erhielte er als Ergebnis beispielsweise einen Roman ohne Eigenschaften.

      Die große Frage bleibt, was

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