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oder (Vor-) Kriegsverpflichtungen der Pforte nachzukommen. Deswegen ließ der Sultan viele Spahis pfählen, um andere in Angst und Schrecken zu versetzen. Aber das waren dennoch Schritte der Verzweiflung.«

      »Untröstlich kehrte Selim II nach Konstantinopel zurück und versuchte, die Gründe der Niederlage zu begreifen. Er hielt unendlich lange Sitzungen des Diwans ab, befragte jeden um sich herum, erörterte mit dem Großwesir bis tief in die Nacht hinein, was ihre Ursachen sein könnten und was die Folgen, er rief jeden zu sich, der als weise und erfahren galt, befragte die Hellseher, rief die Propheten … und überall und vor jedem wiederholte er, dass ›das Osmanische Reich solch ein Unglück bisher nicht getroffen hatte‹. Er bemühte sich keineswegs, seine Erschütterung zu verbergen.«

      Ich ging daran, dieses seltene historische Bild der Panik mit Angaben aus der Chronik der Zeitgenossen abzurunden.

      »Aus panischer Angst heraus trug das Handeln des Sultans vollkommen irrationale Züge: Von den Leuten, die unmittelbar an der Schlacht von Lepanto teilgenommen hatten, bestrafte er einige grundlos und andere zeichnete er unverdient aus. Dem zweiten Wesir, dem alten Pertev Mehmed Pascha, der gegen den Konflikt war, sich aber trotzdem im Kampf tapfer geschlagen hatte, entzog er den Titel des Wesirs und erlaubte ihm nicht, die Fehler der anderen zu rechtfertigen (denn eigene hatte er nicht). Zur gleichen Zeit zeichnete er den algerischen Korsar Uludsch Ali aus (der ebenfalls gegen die Teilnahme an dem Kampf gewesen war!), denn ihn sah er als Helden. Aber dieser hatte sich, als er begriff, dass sich die Ereignisse für die Türken nicht zum Guten entwickeln würden, rechtzeitig, oder besser gesagt vorzeitig, aus dem Gefecht zurückgezogen. Heimlich verließ er den Hafen von Preveza und sammelte auf dem Weg die Restbestände der Flotte ein. Er schaffte es, ungefähr achtzig Galeeren teils unbeschädigt, teils beschädigt einzusammeln und mit gehisster Flagge, die er den Malteser-Rittern entwendet hatte, fuhr er, fast wie ein Sieger, in den Hafen von Konstantinopel ein. Für diesen Mut während der Rückkehr bekam er den Dienstgrad des neuen Admirals der osmanischen Flotte. (Aber vielleicht war der Sultan im Grunde genommen nur klug genug, weil er auf diese Weise unproblematisch den Platz des getöteten Kapudan Pascha Müezzinzade besetzte).«

      Natürlich wusste Pamuk mehr als ich. Er fügte hinzu:

      »In welcher psychischen Verfassung der Sultan war, sagte mir sein Verhalten gegenüber seinem Günstling und alten Freund Celal Çelebi, mit dem er jahrelang getrunken und rumgehurt und jedes seiner Geheimnisse geteilt hat. Er wandte sich von ihm ab und vertrieb ihn vom Hof, nur weil Großmufti Ebusuud Effendi in ihm einen Schuldigen für die Niederlage ausgemacht hatte (obwohl bis zum heutigen Tag seine Rolle in der Schlacht oder bezüglich der Entscheidung dafür schwer nachzuvollziehen ist).

      »Es sollte gesagt werden, dass der Sultan und der Großwesir, was ihre gegenseitige Beziehung angeht, bei Sinnen blieben und sich nicht gegeneinander wendeten. Wahrscheinlich haben beide verstanden, dass das die Lage nur erheblich verschlechtern würde und sie in einer derartigen Situation ohne einander schlecht zurechtkämen.

      Beide zollten sich gegenseitig auch Anerkennung: Mehmed Pascha berief sich nicht auf seinen rechtzeitigen Widerstand gegen die Eröffnung der Schlacht von Lepanto und wiederholte das kein einziges Mal. Er nutzte auch nicht die Möglichkeit, die Schuld auf irgendjemanden abzuwälzen – was er durchaus hätte tun können. Der Sultan zeigte gegenüber dem Großwesir keinerlei Missmut, geschweige denn Zorn. Er gab ihm auf verschiedene Arten zu verstehen, dass er sich dessen bewusst war, dass Sokollu Mehmed Pascha im Recht war. Aber er sprach das nicht aus.«

      Ich fragte Pamuk:

      »Was meinst du, hat der Sultan beim Abwägen der Argumente für oder gegen einen Kampf mit der europäischen Flotte die christliche Herkunft des ersten und zweiten Wesirs und auch des Korsarenbegs in Betracht gezogen? Stellte er Überlegungen an wie der Flottenadmiral?«

      »Ich bin mir sicher, dass er das nicht tat. Jeder Würdenträger und jeder Sultan an der Macht hatte hunderte Möglichkeiten, die Loyalität seiner Untergebenen zu prüfen. Warum hatte deiner Meinung nach ein jeder so viele Stufen auf der Karriereleiter vor sich? Und warum dauerte jeder Schritt so lange? Na, jeder kleinste Schritt war ein Test für die Ehe zwischen Ambition und Loyalität! Der Sultan hatte es nicht nötig, sich auf die Ebene der Beleidigung seiner Untertanen zu begeben, wie das Müezzinzade getan hatte. Hegte der Sultan Zweifel, dann rollten die Köpfe.«

      6. KAPITEL

      Obwohl Bajicas Alter anfangs erschwerend auf sein Fortkommen wirkte, stellte es bald eine vortreffliche Ergänzung seines Talents, seines Fleißes und seiner Bescheidenheit dar, die er bei seinen Studien zeigte. Nicht nur, dass auch jene Burschen auf ihn hörten, denen es ganz und gar nicht recht war, sich einem fremden Glauben, Willen oder allen möglichen neuen Erkenntnissen zu unterwerfen, sondern es wandten sich auch ausgesprochen oft die Lehrer, die Ältesten verschiedener Dienste des Sultans an ihn. Er fiel allen auf und so war er gemeinsam mit einem Dutzend ähnlich wahrgenommener junger Männer dazu auserkoren, sich Bildung schneller und auf verkürztem Wege anzueignen.

      Bereits nach drei Jahren Aufenthalt im Serail von Edirne, gemeinsam mit den anderen begabten jungen Männern, drang die Erfahrung des Krieges in sein Leben. Fünf Jahre nach der Eroberung Belgrads, im April 1526, rüstete Sultan Süleyman zu einem neuen Feldzug gegen Ungarn. Sein Liebling, der Großwesir Ibrahim Pascha, seiner Herkunft nach ein Grieche aus Parga, forderte, dass auch die älteren Schüler aus dem Serail den Sultan begleiten sollten, um sich so schnell wie möglich in einem echten Krieg zu stählen und möglichst bald zum Offizier befähigt zu sein. So bestimmte Deli Husrev Pascha als Vollstrecker vertraulicher und wichtiger Aufgaben noch einmal den Pfad des Erfolgs für die jungen Leute. Seinen noch sehr jungen Bruder Mustafa ließ er am Hofe von Edirne zurück (obwohl dieser vor Bajica / Mehmed in den Serail gekommen war und demnach »älter« als er war).

      In seinem ersten Leben als Bajo Sokolović hatte Bajica Belgrad vornehmlich für die Hauptstadt gehalten, die er allerdings nie betreten hatte. Nachrichten von dieser wunderschönen Festung drangen durch Händler zu ihm wie auch zu den anderen, welche – die Armeen nicht eingerechnet – am meisten in bekannten und unbekannten Gegenden unterwegs waren. Selbst wenn er einen Teil ihrer Geschichten als übertrieben ablehnte, ging auch aus dem Rest ohne Zweifel hervor, dass es sich um eine echte, gründlich befestigte Stadt handelte. Oft dachte er über sie nach, aber er sehnte sich nicht danach, sie zu betreten. In seiner Nähe war der Fluss Drina, der sich, so überlegte er, nicht großartig von der Save oder der Donau unterscheiden konnte. An anderen Orten hatte er einige kleinere Festungen gesehen und er konnte sich daher vorstellen, wie eine Hauptstadt aussehen musste. Reisende erzählten, dass sie sich abgesehen von ihrer Größe nicht wesentlich von der Stadt unterschied, die 1404 unter dem serbischen Despoten Stefan Lazarević erbaut worden war.

      Seit er Sokollu Mehmed geworden war, gingen seine Überlegungen zu Belgrad über die bisherigen hinaus. Seit vor fünf Jahren diese Stadt von Sultan Süleyman erobert worden war, wurde sie zu einer osmanischen Stadt, und danach zum wichtigsten osmanischen Ausgangspunkt (und damit auch Stützpunkt) nach Zentraleuropa und eine Startposition zur Verwirklichung des lang gehegten Wunsches, nach Ungarn auch das östrreichische Imperium zu erobern und natürlich auch die Tore Wiens zu erreichen. Bajica sah diesen Ort nunmehr auch als Osmane, der Strategie und Pläne beherrscht, militärische Macht hat, aber auch mit der aufgezwungenen Überzeugung seiner Unbesiegbarkeit. Einerseits. Andererseits regte sich zur selben Zeit eine neue Emotion, die er mit Erstaunen erkannte, denn sie entstand antizipatorisch gegenüber einer Stadt, die er nie gesehen hatte. Die einzige Antwort, die er sich selbst in dieser Frage anbieten konnte, war anscheinend, dass dies zu einem Teil des Widerstands in seiner noch zarten Zweiheit gehörte, die ihn ausmachte. Als er die Stadt aber sah, begriff er, dass er sich in sie verlieben musste, gerade so im Kopf und im Voraus. Ein Blick auf die Tore, Türme, Mauern und Gebäude auf diesem Fićir bajir11 wie auch auf die nach europäischer Art gebauten Häuser neben dem Kalemegdan12, die durch Kopfsteinpflasterstraßen und -gassen miteinander verbunden sind, mit den alten orthodoxen Kirchen und den im Bau befindlichen Moscheen, mit dem einen oder anderen Brunnen und den äußeren Stadttoren, nachdem er das also alles gesehen hatte, begriff er auch, warum er sich verlieben musste. Belgrad war ihm ähnlich: ein Mischling mit klaren Zeichen der

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