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Fabrikgelände hinab.

      Nach alter Gewohnheit blieben wir da oben stehen und schauten von der Gasse aus runter. Die Fabrik dröhnte und produzierte in unwahrscheinlicher Geschwindigkeit Ventilatoren. Wir betrachteten die zerbrochenen Flügel, die in einer Ecke des Geländes aufgehäuft lagen.

      „Los!“, rief ich.

      „Wer zuerst dort ist!“, entgegnete er.

      Wir rannten. Rannten den steilen Weg hinab. Die Taschen in unserer Hand waren schwer; sie pendelten vor und zurück und zogen uns hinter sich her. Der Lärm der Fabrik war so ohrenbetäubend, dass es einem Spaß machte zu brüllen. Wir konnten unser gegenseitiges Geschrei nicht hören. Mir war sehr heiß, und ich rannte schnell. Doch konnte ich Aidin nicht einholen. Seine Tasche schlenkerte vor meiner Brust. Ich wusste zwar, dass meine Beine durcheinandergeraten würden, aber ich vergaß alle Vorsicht, stürzte plötzlich kopfüber zu Boden und blieb der Länge nach liegen. Herr Farman kam aus seinem Glashäuschen heraus und stellte mich wieder auf die Beine. Mein Gesicht war blut- und tränenverschmiert, meine Beine schmerzten, und eine einschläfernde Trägheit war in meinem Körper. Nur mit Mühe konnte ich Aidin erkennen, der glücklich und zufrieden hübsche rote Ventilatorenflügel zusammenklaubte.

      Vater schlug mit dem Gürtel auf ihn ein, Mutter versorgte meine Gesichtsverletzungen.

      „Wie lange soll’s mit deinen Teufeleien noch weitergehen?“, fragte Vater. „Warum bist du nur so aufsässig?“ Und drosch weiter.

      Mutter konnte an jenem Abend mein Nasenbluten nicht stillen. Vater zog Aidin am Ohr und rief: „Du hast ihm das Nasenbein gebrochen! Ist dir das klar?“

      „Ich hab’s ihm nicht gebrochen“, antwortete Aidin. „Beschuldige mich nicht zu Unrecht!“

      Vater ließ ihn nicht weiterreden und gab ihm eine saftige Ohrfeige.

      „Es tut mir ja leid, dass er sich das Nasenbein gebrochen hat“, sagte Aidin, „aber was kann ich dafür?“

      Tags darauf holte Vater einen Arzt, aber das half auch nichts; auch jetzt noch, mit vierzig Jahren, ist die eine Seite meiner Nase doppelt so dick wie die andere.

      Er zog seine Taschenuhr heraus, warf einen Blick darauf, klappte sie zu und steckte sie wieder ein. Noch immer war er unentschlossen. Sollte er gehen oder nicht? Er fürchtete, in die Nacht zu kommen. Wie es seine Gewohnheit war, schlug er die offenstehenden Mantelseiten übereinander, ließ sie dann aber wieder los, ohne die Knöpfe zu schließen. Er fasste in die Tasche und befühlte die rauen Windungen des Stricks.

      Eine heiße Erregung stieg ihm in den Kopf, und eine unvergleichliche Sicherheit strömte sanft durch seine Adern. Nein, er musste das unbedingt zu Ende führen. Dann würden sie ihn „Mörder“ nennen. Wer war das noch gewesen, der „Brudermörder“ gesagt hatte? Wo bist du jetzt nur, Mutter, um mich ungerechterweise zu beschuldigen und doch meine Sünden auf dich zu laden, mir einen Teil meiner Bürde abzunehmen? Aber ich schwör’s bei Gott, es ist nur zu seinem Besten. Er ist doch schon seit Jahren tot. Wo immer er sich aufhält, im Teehaus am Salzsee oder am Rande der Salzpfanne, er verströmt den Geruch des Todes, ist wie ein lebloses Denkmal seiner eigenen Vergangenheit.

      Er schaute die Leute an. Jeder ging seiner Beschäftigung nach. Eine verhutzelte alte Frau wollte die Straße überqueren, war aber zu schwach dazu. Ein Junge steckte einem großen Schneemann zwei Kohlen als Augen ins Gesicht; manche hatten sich Plastiktüten über den Kopf gestülpt, und eine Frau im schwarzen Tshador* ging vorbei, die aussah wie die Spitze des Damawand*, so viel Schnee war auf sie gefallen. Sicher war sie aus einem der umliegenden Dörfer gekommen. Urhan ging immer weiter. Eine Kraft zog ihn aus der Stadt, zum Teehaus am Salzsee hin. Ganz langsam, in sich versunken, schritt er dahin, dass man glauben konnte, da stapfe einer müßig durch den Schnee, um seinen Speck ein bisschen zum Schmelzen zu bringen.

      Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, wollte nicht mehr wie üblich alles einfach in mich hineinfressen.

      So brüllte ich: „Du Taugenichts, ich plag mich in diesem Sauladen seit zwölf Jahren ab, was verstehst du denn davon?“

      „Bin ich vielleicht ein Niemand, dass ich tun soll, was du anordnest?“

      „Ältere als du müssen meine Anordnungen befolgen, du Schreinerling!“

      Er fuchtelte mit dem Zeigefinger, das war so seine Gewohnheit.

      „Da bist einmal du, und da bin ich“ sagte er. „Schade, dass mir nichts anderes übrigbleibt. Schade, dass ich nicht all diesen Widerwärtigkeiten den Rücken kehren kann und mich um meine Schreinerei kümmern. Mein Gewissen ...“

      „Sprich nicht von etwas, was du gar nicht hast!“, entgegnete ich.

      Er sackte zusammen, schloss die Augen und setzte sich auf einen Stuhl. Ich wusste, wo ich ihn treffen konnte, um ihn außer Gefecht zu setzen.

      „Vater wusste, was für ein Dreckskerl du bist. Nicht umsonst hat er dich Taugenichts genannt.“

      „Wenn du glaubst, dass du mich mit solchen Beleidigungen dazu bringst, mich zurückzuziehen, hast du dich getäuscht. Wegen Vaters Testament muss ich wohl oder übel ins Kontor kommen. Und weder verkauf ich meinen Anteil, noch hab ich das Geld dafür, dir deinen abzukaufen.“

      „Werd bloß nicht unverschämt! Ich werde dich schon Anstand lehren!“

      Ich stand auf, wollte ihn schlagen, wollte ihm die Knochen brechen. Aber da kam Essma’il herein.

      Er schloss die Tür hinter sich und sagte: „Liegt ihr euch schon wieder in den Haaren? Ja?“

      Ich setzte mich hinter den Schreibtisch.

      „Herr Urhan“, fuhr Essma’il fort, „sei’s, wie es wolle, aber er ist immer noch der Größere. Ja!“

      Ich schlug auf den Tisch. „Ein Esel ist auch größer als ich. Muss ich ihn also ehren?“

      „Schließlich seid ihr Brüder“, meinte Essma’il.

      „Ich scheiß auf diesen Bruder!“

      Dann bemerkte ich, dass Aidin das Kontor verließ. Er tat mir leid, aber ich konnte ihm nicht klarmachen, dass er ohne meine Erlaubnis nichts einkaufen sollte. Er hatte vierzig Sack Pistazien gekauft, die ich, hätte er nur abgewartet, fünf bis sieben, vielleicht sogar zehn Tuman pro Kilo billiger hätte kaufen können. Wenn es heiß wurde, im Hochsommer, da war für mich die richtige Zeit zum Einkaufen. Doch das kapierte er nicht.

      Abends hatten wir in Mutters Beisein nochmals eine Auseinandersetzung.

      „Schon gut“, sagte sie, „schon gut. Macht eine Rechnung auf und teilt alles, was ihr habt. Zwei Unternehmen, zwei Waagen, als ob’s zwei Läden wären. Jeder für sich.“

      Ich schwieg, tat die ganze Nacht kein Auge zu und überlegte, wie ich die Sache wieder zurechtbiegen könnte. Mutter hatte alle Wege verbaut, hatte einfach gesagt: halbe-halbe, zwei Waagen, zwei Unternehmen. Wer würde da noch nach mir fragen? Obwohl unsere Kunden wussten, dass ich zwölf Jahre Erfahrung hatte, gingen sie doch geradewegs zum Bruder. Mich hielten sie für den Gehilfen. Am schlimmsten waren diese erbärmlichen Weiber, die ganz durcheinandergerieten, wenn sie ihn sahen.

      Sie kamen im Tshador und mit einem Gesichtsschleier, aber sie brauchten ihn nur zu erblicken, da vergaßen sie alles, wurden ganz schwach: „Schade um Sie, dass Sie noch nicht verheiratet sind.“ Die hatten ja keine Ahnung von seiner Geliebten.

      „Was willst du mit einer Armenierin?“, fragte ich ihn.

      „Misch dich da nicht ein!“

      Es war ein trüber Nachmittag. Ich ging auf den Friedhof, setzte mich an Vaters Grab und weinte.

      „Vater“, rief ich, „woraus hast du mich gemacht, woraus ihn? Warum schauen mich die Frauen nicht an, warum zeigen sie mir höchstens ein böses Gesicht? Warum hat sich das schönste Mädchen der Welt in meinen Bruder verliebt? Wir sind doch Holz vom selben Stamm, oder nicht?“

      Doch Vater schwieg, er konnte ja nicht

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