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dich tot!“ (Der andre [Abel])

      sprach: „Siehe, Allah nimmt nur von

      den Gottesfürchtigen an.“

      Wahrlich, streckst du auch deine Hand

      zu mir aus, um mich totzuschlagen, so

      strecke ich doch nicht meine Hand zu

      dir aus, um dich zu erschlagen; siehe, ich

      fürchte Allah, den Herrn der Welten.

      Siehe, ich will das du meine und deine

      Sünden trägst und ein Gefährte des

      Feuers wirst, und dies ist der Lohn des

      Ungerechten.“

      Da trieb ihn eine Seele an, seinen Bruder zu erschlagen,

      und so erschlug er ihn und ward einer der Verlorenen.

      Und es entsandte Allah einen Raben, daß er auf dem Boden

      scharrte, um ihm zu zeigen, wie er die Missetat an seinem Bruder

      verbergen könne.

      Er sprach: „ O weh mir, bin ich zu kraftlos, zu sein wie dieser Rabe

      und die Missetat an meinem Bruder zu verber-gen?“

      Und so ward er reuig.

      (Der Koran; 5. Sure* „Der Tisch“, 30-34)

       I

      Unter den Tonnengewölben und Kuppeln der Karawanserei* waberte ein schwacher Rauch und zog durch das Eingangstor ab. Tief drinnen hatten ein paar Lastträger in einem Blechkanister ein Holzfeuer entfacht, und wenn sie sich dazu überwinden konnten, die Hände unter der Decke hervorzuziehen, steckten sie sich auch ein paar Melonenkerne in den Mund und knackten sie auf. Hinter ihnen, in einem gruftartigen Gelass, rösteten drei Männer in großen Kupferkesseln Nüsse und Kerne. Der Dampf vermischte sich mit dem Rauch. Es hatte aufgehört zu schneien.

      Alle Lichter leuchteten, sogar die Gaslampen, und die Karawanserei glich von ferne einem im Nebel liegenden Gehöft. Auf der rechten Seite der Passage, im Kontor der „Trockenfruchthandlung Ihres Vertrauens“, hatten es sich zwei Männer in der Wärme der auf dem Tisch stehenden Glühstrumpflampe gemütlich gemacht: Urhan Urkhani saß hinter dem Tisch, neben ihm der Wachtmeister Ayas.

      Jeden Donnerstag kam Wachtmeister Ayas ins Kontor, setzte sich auf einen breit ausladenden Stuhl und stellte seine Füße auf einen Schemel. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn – sommers wie winters – und wenn der breite Stuhl nicht zur Hand war, hockte er sich auf einen Sack voller Kerne.

      „Wie soll ich Riesenkerl auf so einem kleinen Stuhl sitzen? Wirklich!“, pflegte er dann zu sagen.

      Hätte er es gewollt, dann hätte er sogar den Vater in all seiner respekteinflößenden Würde mit zwei Fingern hochheben und an die Haken an der Decke hängen können. Sein Gesicht war fleischig und großflächig, der Kopf eher klein; auf der linken Wange hatte die Leishmaniose ein Mal hinterlassen, das jetzt, wie das ganze Gesicht, voller Runzeln war. Er kaufte ein Ssir* Pistazien. Auf das drängende Angebot, sein Geld doch stecken zu lassen, ging er nicht ein. Er bezahlte dafür, löste die Pistazien aus den Schalen, legte sie nebeneinander auf den Tisch und warf sie sich dann alle zusammen in den Mund. Das war das Zeichen für Urhan, ihm ein Glas kaltes Wasser zu holen.

      Der Vater hatte Ayas sehr gern gehabt. Einmal, weil er eben von alters her Wachtmeister in dieser Stadt war, dann aber auch, weil er so vieles wusste. Unbegrenzt war sein Wissen, von allem verstand er etwas.

      „Das ist kein gewöhnlicher Mensch“, pflegte der Vater zu sagen und schickte ihm am Neujahrsabend wenigstens zehn Kilo Trockenfrüchte ins Haus. Und er hatte ihm Woche für Woche ein paar Geldscheine zugesteckt. Auch jetzt, nachdem der Vater schon lange Jahre tot war, hielt sich Urhan an diese Abmachung.

      Auf der anderen Seite tuschelten leise zwei junge Arbeiter hinter dem Ladentisch, die Hände in den Hosentaschen, eine Wollmütze auf dem Kopf und den Mantelkragen bis zu den Ohren hochgeschlagen. Wie Urhan und Ayas hatten sie die Köpfe zusammengesteckt.

      „Ich steh dir bei wie ein Löwe!“, sagte Ayas.

      Urhan war unentschlossen, er wusste nicht, was er tun sollte.

      „Dass das bloß nicht auf mich selbst zurückfällt!“, meinte er.

      „Bring die Sache zu Ende!“

      „Wenn aber irgendetwas durchsickert?“

      „Das darf natürlich nicht sein. Du musst es eben schlau anfangen!“

      Urhan dachte einen Augenblick nach, dann warf er Ayas einen kurzen Blick zu: „Wie bei Yussof?“

      „Hat davon etwa jemand Wind bekommen? Jahre sind vergangen, und es hat keine Probleme gegeben.“

      „Ich hab sie aber mit eigenen Ohren ›Brudermörder‹ sagen hören.“

      „Scheißkerle!“, brüllte Ayas. Dann senkte er die Stimme: „Die Leute lästern sogar über den lieben Gott.“

      „Mein lieber Ayas, das ist ein unergründliches Loch. Hoffentlich fall ich nicht kopfüber hinein.“

      „Jetzt sag mal, war ich der Freund deines Vaters oder nicht?“

      „Das ist schon richtig, aber ...“

      „Du erinnerst mich an deinen Vater“, sagte Ayas, „das war auch so ein Angsthase.“

      Urhan strich sich mit der Hand über den kahlen Schädel. Er näherte sein Gesicht noch mehr der Lampe und meinte: „Ich bin kein Angsthase! Ich trau mich alles.“

      „Du hast mich gefragt, was du mit diesem liederlichen Frauenzimmer anfangen solltest. ‚Lass dich scheiden!‘, hab ich dir gesagt. Bist du schlecht dabei gefahren? Jetzt fragst du mich, was du mit diesem Kerl da tun sollst. Schaff ihn beiseite, sag ich dir. Wenn erst mal seine Tochter hier auftaucht, bist du nicht mehr Herr im Geschäft. Du wirst sehen, dass eines Tages ein Mädchen mit blondem Haar hereinspaziert kommt und fragt: ‚Mein Herr, ist hier der Laden meines Vaters?‘“

      Urhan sagte nichts darauf.

      „Wo es schon mal so weit gekommen ist“, meinte Ayas, „zögere nicht! Mach dich jetzt gleich auf den Weg!“

      „Bei diesem Schnee? Wohin soll ich da gehen?“ Und er warf einen Blick nach draußen.

      So viel Schnee hatte der Himmel auf die Erde abgeladen, dass man noch viele Jahre später sagen sollte: Dieses schwarze Jahr! Ein großer Teil der Bewohner hatte sich verkrochen, doch viele mussten wohl oder übel Schnee und Kälte trotzen, um für ihr Leben zu sorgen. Der Schnee hatte alles lahmgelegt. Straßen und Gassen lagen in ungewohnter Stille, die Wasserleitungen waren eingefroren, kein Auto fuhr, auf den Straßen waren Schneehaufen aufgetürmt. Die Händler hatten zwar die Gehwege geräumt, doch wieder bedeckte ein halber Meter Schnee, der in der letzten Nacht gefallen war, die Erde.

      In den engen Gassen lag der Schnee mehr als türhoch; die Leute hatten Tunnel gegraben und konnten so in den miteinander verbundenen Kanälen sicher hin- und hergehen. War das eine Strafe Gottes? Vielleicht. Viele Winter waren doch übers Land gegangen, es hatte auch heftig geschneit, aber niemand konnte sich an solche Schneemassen erinnern. Die Raben hatten die Stadt erobert. Auf jedem Baum ein paar Raben.

      Auch innerhalb der Anwesen waren sie zu finden. Gelassen hockten sie auf den Gartenmauern und auf den Geländern der Veranden und hüpften hin und her. Kalt und seelenlos lag da ein Haus mit hohen Mauern, mit Kreuzgesims und zweiflügligen Fenstern vergessen unter dem Schnee. In den Zimmern des oberen Stockwerks hatten sich die Decken gebogen, und im Erdgeschoss hing ein grauenhafter Gestank nach Verwesung aus vergangenen Jahren in der Luft. Keiner hielt sich dort auf, kein Licht brannte, nicht einmal der Schnee auf dem Dach war geräumt. Die Glasstürze der Windlichter über der Haustür waren zerbrochen.

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