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ließ ich dann die Grundbücher und Besitzurkunden so, wie sie waren, und kümmerte mich nicht darum. Wenn ich nachts in meinem Zimmer vom Fenster aus den Himmel betrachtete, vermeinte ich, den Laut seines Lidschlags und seines Nachdenkens zu hören. Und wenn ich die Augen schloss, sah ich ihn mit einem Messer meine schöne rote Wassermelone in der Mitte durchschneiden. Ganz deutlich sah ich ihn vor mir, inmitten einer Helligkeit. Ich erinnerte mich daran, wie ich die Pistaziensäcke vierzig Stufen hinunter- und dann wieder heraufgeschleppt hatte. Das war nicht gerecht. Zur selben Zeit hatte sich Aidin herumgetrieben und war zur Schule gegangen. Und ich war derjenige gewesen, der im Kontor geschuftet hatte. „Der eine schuftet, der andere steckt den Lohn dafür ein“, meinte Vater nur. Nein, recht war das nicht. So viel Mühe all die Jahre!

      „Mutter“, sagte ich, „hätte ich denn nicht auch weiter zur Schule gehen können?“

      „Wie oft hab ich dir das gesagt!“, entgegnete sie. „Wärst halt gegangen!“

      Das Leben war bitter. Vergiftet und bitter. Nachts glühte ich, tags litt ich. Mein Gott, dachte ich, wo bleibt da die Gerechtigkeit? Halbe-halbe? Und vom Fenster aus sah ich den Rauch meines Ofens zu den Raben aufsteigen. Zu den Ästen der Kiefer stieg er auf, um die Raben daran zu erinnern, morgens früh bei Sonnenaufgang ihr ‚kalt, kalt‘ zu krächzen.

      Jetzt bin ich mir ganz sicher, dass er noch lebt. Er wird ja auch nie krank. Nur seine Zähne sind verfault, und er kann nicht mehr Brot mit Walnüssen essen. Auch andere Speisen kriegt er nicht mehr runter. Meist schlürft er eine Suppe. Er sieht aus wie ein verbrauchter, arbeitsunfähiger alter Mann, nur eben völlig ruhelos. Vom ersten Hahnenschrei an bis spät in die Nacht ist er wach. Und ich weiß nicht, wonach er sucht.

      „Was suchst du denn?“, hatte ihn Vater gefragt.

      Seine Antwort: „Mich selbst!“

      Anfänglich glaubte ich, er müsse noch ein anderes Ich haben, das ihn so quälte, mir kam sogar der Gedanke, dass er von Geistern besessen sei. Aber nichts dergleichen! Ich merkte, dass er sich nur selber quälte und immer tiefer sank. Bei ihm war alles anders. Sogar seine Verliebtheit war nicht die eines normalen Menschenkinds. Er war in Liebe zu einer blondhaarigen Armenierin namens Ssurmeh entbrannt. Jahrelang hatte er in einer Holzsägerei gearbeitet, hatte alles, was er verdiente, für Bücher ausgegeben und sich eingebildet, ein Dichter zu sein.

      „Was suchst du denn?“, hatte ihn Vater gefragt.

      Und er hatte geantwortet: „Mich selbst!“

      Von einem, der sich selbst sucht und darüber verrückt wird, kann man nicht mehr erwarten. Er ist ein Verrückter, der niemandem etwas zuleide tut und der doch nicht zu ertragen ist. Hinten in der Karawanserei verbrachte er unter den Lastträgern seine Tage, abends lief er hinter mir her, grüßte jeden auf dem ganzen Weg nach Hause, fragte dies oder das oder zählte einfach die Holzmasten der elektrischen Leitungen.

      „Weißt du was, Herr Bruder“, meinte er, „jetzt schneit es schon seit zwei Wochen.“ Durch den Lichtschacht in der Kuppel der Karawanserei betrachtete er den Himmel.

      „Der hat uns so viel Schnee geschickt, dass er sich jetzt vor den Leuten schämt. Er erledigt seine Aufgabe nun nachts, wenn alle schlafen.“

      Der Schnee hatte jedes Maß überschritten. Dieser verfluchte Schnee, der uns allen zu schaffen machte. Tagsüber war der Himmel bewölkt, die ganze Nacht durch schneite es ohne Unterlass.

      „Stimmt etwa nicht, was ich sage, Herr Bruder?“, fragte er.

      „Du bist frei!“, antwortete ich lachend. „Sag, was du willst!“

      Er kam ins Kontor. Steckte sich eine Handvoll Melonenkerne in die Tasche und setzte sich auf einen vollen Sack.

      „Herr Bruder“, meinte er, „gib mir Geld, ich möchte ins Badehaus gehen.“

      Ich stand vor der Tür und wies einen der Gehilfen an, ihm einen Zwei-Tuman-Schein zu geben.

      „Herr Bruder“, hat Aidin, „sag ihm, er soll mir mehr geben! Ich möchte auch noch Tee trinken.“

      „Tee gibt’s hier!“

      Doch er entgegnete: „Tee schmeckt nur im Teehaus am Salzsee.“ Und er stellte sich neben mich.

      Er wirkte recht müde und seine Stimme klang klagend, als er sagte: „Bruder, es ist Zeit, das Bündel zu schnüren und Abschied zu nehmen. Die Schlechtigkeit der Welt hat jedes Maß überschritten.“

      „Wohin soll’s denn in Gottes Namen gehen?“, fragte ich.

      „Nach Ssabol* oder auch nach Kabul.“

      „Mach das! Das ist eine gute Idee. Und vergiss nicht, mir ein Reisepräsent mitzubringen!“

      Wie sollte ich denn ahnen, dass er weggehen und nicht wiederkommen würde?

      Als wir damals aus Villadarreh zurückgekommen waren, wurde ihm übel.

      „Steck den Finger in den Hals!“, sagte Mutter. „Vielleicht kannst du dich dann erleichtern.“ Und er steckte sich den Mittelfinger in den Schlund, konnte aber nicht erbrechen.

      „Was habt ihr denn gegessen?“, fragte mich Mutter.

      „Kebab und Buttermilch und Joghurt, was man halt so isst.“

      „Aber dir fehlt doch nichts?“

      „Nein“, antwortete ich.

      „Warum geht’s dann Aidin so schlecht?“

      „Weiß ich nicht!“

      „Bring ihn zum Arzt!“

      Es ging ihm wirklich sehr schlecht, schlechter als einem, der eine Lebensmittelvergiftung hat. Ich brachte ihn zu Doktor Naidanoff. Wir setzten uns ins Wartezimmer.

      „In meinem Kopf dröhnt es wie im Basar der Kupferschmiede“, sagte er.

      Von oben kam der Geruch nach geröstetem Knoblauch. „Jetzt lass uns erst mal an die Reihe kommen!“, meinte ich.

      „Mir ist, als ob etwas in meinem Bauch herumrumpelt.“

      „Du musst dich ein paar Tage ausruhen!“

      Ohne irgendeinen Grund zitterten mir Hände und Beine, und ich fühlte eine komische Schlaffheit in meinen Gliedern. Mein Herz schlug wie wild.

      „Das sind nur deine Nerven!“, sagte ich zu ihm.

      „Es reißt und zieht in meinen Beinen!“

      „Bist du jetzt endlich erledigt?“, frohlockte ich in meinem Innern. Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und wiegte sich hin und her, ganz ruhelos. An jenem Tag war er schon vom Morgen an bedrückt und müde gewesen. Als wir an der Reihe waren, traten wir in das Sprechzimmer. Doktor Naidanoff war noch dicker geworden, so wie ich jetzt. Er saß hinter seinem braunen hölzernen Schreibtisch. Er trug einen Spitzbart, und seine Stirn war tief gefurcht. „Welcher von euch ist denn der Patient?“, fragte er. Ich zeigte auf Aidin und setzte mich.

      „Was fehlt ihm denn?“

      „In seinem Kopf dröhnt es wie im Basar der Kupferschmiede, in seinem Bauch rumpelt’s herum, und in seinen Beinen reißt und zieht es.“

      „Dann bring ihn ins Irrenhaus!“, sagte der Arzt, untersuchte ihn und schrieb ein Rezept.

      Wir kehrten nach Hause zurück. Was ich auf dem Heimweg auch sagte, er redete einfach so vor sich hin.

      Er sagte: „Mach die Lampe über meinem Kopf aus!“

      „Du hast sicher Fieber!“

      Er murmelte etwas vor sich hin und schüttelte den Kopf. Die Augen konnte er nur noch mit Mühe offenhalten, er machte große Schritte, schlenkerte mit den Armen und kannte offensichtlich den Weg nicht mehr.

      „Ein Erdbeben!“, sagte er plötzlich.

      „Wo denn?“, fragte ich.

      „Ich bin kürzlich draufgekommen, dass

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