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      „Wir haben nicht mehr. Nur diese da.“

      „Und die Nachbarn?“ Da sah ich Aidin in einer Ecke der Moschee sitzen. „He, Djamshid, siehst du meinen Bruder?“

      „Ja“, sagte er.

      „Warum habt ihr die Trauerfeier nicht in der Moschee in eurem eigenen Viertel abgehalten?“

      „Die ist zum einen sehr groß und zum andern auch viel zu teuer. Und die hier da ist eben sehr abgelegen.“

      Djamshid Besenstiels Onkel war Straßenhändler gewesen, mit einem Handkarren. Im Winter verkaufte er gekochte rote Bete und dicke Bohnen, im Sommer frisches Obst. Ich hatte ihn öfter getroffen. Wenn ich mit Djamshid unterwegs war, aßen wir meistens was bei Onkel Ezat. Er nahm von uns kein Geld an.

      „Hat dein Onkel denn kein Testament gemacht?“, fragte ich.

      „Testament?“ Er lächelte säuerlich. „Er hatte nicht so viel Schulden, dass die Gläubiger jetzt dahinter her wären.“

      „Wem hat er dann sein Hab und Gut vermacht?“

      „Niemandem! Seinen Karren kann keiner gebrauchen. Bis sein Sohn alt genug dafür ist, vergehen zehn Jahre, und bis dahin ist der Wagen in Schnee und Regen verwittert.“

      Der Alte stand auf, öffnete die Stalltür und betrachtete den Himmel. Frische Kälte strömte herein. Eine beißende, tödliche Kälte.

      „Mach zu! Mach zu!“, rief Urhan, und der Alte schloss schnell und behände die Tür. „Der Himmel bezieht sich wieder!“, sagte er.

      Urhan fielen die Augen zu. „Wie sollen wir denn hier schlafen?“, fragte er.

      „Ich bleib nur hier, bis es hell wird. Dann brech ich auf“, entgegnete der Alte.

      Er riss ein Streichholz an und schaute sich suchend um. Nochmals strich er ein Zündholz an und hielt es über die Futterkrippe. „Da kannst du dich zum Schlafen hinlegen!“, meinte er.

      Urhan drängte sich zwischen den Lasttieren durch. Er spürte eine wohlige Wärme in der eiskalten Luft.

      „Zünd ein Streichholz an!“, bat er.

      Er schaute sich die Krippe an. Sie war mit Kies gefüllt. „Hier?“, fragte er.

      „Ja, leg dich nur hin! Keine Angst!“

      Urhan stieg auf die Krippe und setzte sich hin. Dann streckte er die Beine aus, sagte: „Eine Decke, irgendetwas …“, und er versuchte, die Dunkelheit mit seinem Blick zu durchdringen. Der Alte lachte trocken auf und Urhan zog die Beine wieder an.

      „Womit soll ich mich denn zudecken?“

      „Wenn dir‘s nichts ausmacht, es gibt zwei Packsättel.“

      Zitternd steckte sich Urhan die Hände unter den Kragen.

      „Machst du’s jetzt wie alle Schuldner?“, hatte ich ihn gefragt. Er glaubte wohl, wenn er den Kopf zur Seite drehte, würde ich ihn nicht sehen

      Da sagte er: „Grüß dich, Urhan!“

      Er war jetzt beim Militär. Sie hatten ihm die Haare abrasiert, und seine Augen lagen tief in den Höhlen.

      „Djamshid ist bei den Soldaten!“, hatte Wachtmeister Ayas gesagt. „So langsam wird doch noch was aus ihm!“

      Er war kein übler Mensch. Ich weiß nicht, von woher er plötzlich aufgetaucht war, nur um dann still und lautlos wieder aus dieser Welt zu verschwinden. Und warum er mein Freund war. Wenn er in seiner ganzen Länge vor unserem Haus wartete, fragte ich mich oft, warum er die Geduld nicht verlor. Da stand er, ein Bein gegen die Mauer gestemmt, bis ich herauskam. „Wenn du willst, dass ich mitkomme, musst du warten, bis ich gebadet habe“, sagte ich.

      Er kratzte sich am Kopf und verzog den Mund. „Gebadet? Kannst du das nicht lassen?“

      „Ich war ‘ne ganze Woche nicht mehr im Bad.“

      „Wie lange dauert’s denn?“

      „Eine Stunde. Vielleicht auch zwei.“

      „Gut, ich warte. Aber beeil dich um Gottes willen!“

      Und Djamshid wusste nicht – oder vielleicht wusste er es auch, und es war ihm nur egal –, dass ich im Bad in dem heißen Wasserdampf die Zeit vertrödelte und mich immer wieder abseifte, bis meine Haut ganz rot war. Ich trank Wasser, mir wurde heiß, und wenn ich dann schließlich rauskam, wartete Besenstiel vor der Haustür, genau wie vorher, ein Bein gegen die Mauer gestemmt.

      „So, Besenstiel, wollen wir jetzt zu Martha gehen?“, fragte ich dann.

      Urhan lauschte auf die Stille des Schnees. Er wusste nicht, wie es weitergehen sollte, ob er schließlich Aidin finden würde. Er war sicher, dass der noch lebte, und jetzt, wo er endgültig seinen Entschluss gefasst hatte, wollte er auch bis zum Ende gehen, die Sache in Ordnung bringen und sich dann ohne die Sorge um Aidin seiner eigenen Misere zuwenden. Er wusste, dass er ihn ganz einfach irgendwo festbinden konnte und ihn dem Schnee überlassen – ohne ihn zu erwürgen, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen; er bräuchte ihm nicht einmal einen Faustschlag zu versetzen. Gleich hier an diesem Türgerüst konnte er ihn festbinden. Er konnte ihn auch von den Klippen in den See hinabstürzen, damit seine Seele früher ihren Frieden fände, denn der Vater hatte immer gesagt: „Je kühler die Ruhestatt der Toten, desto weniger müssen sie leiden.“

      Wir gossen Wasser auf Aidas Grab. Mutter hielt eine Flasche Rosenwasser in der Hand, und ich wartete darauf, dass sich der Duft verbreitete. Da sagte Aidin: „Alles, was ihr nicht hätte zustoßen dürfen, ist ihr zugestoßen. Jetzt ist es zu spät.“ Er stand zu Häupten des Grabes und schaute gen Himmel. An jenem Tag trug er einen dunkelblauen Anzug, und unter seinen Rockaufschlägen schaute bis zu den Knöpfen ein feiner Schal hervor. Vater, der gerade ein Gebet sprach, hob den Kopf und warf ihm einen schrägen Blick zu. Dann flüsterte er mir ins Ohr: „Schau dir diesen Nichtsnutz an!“

      Ebenso leise entgegnete ich: „Was kümmert dich das!“

      Vater meinte nur kopfschüttelnd: „Sicher will er um vier Uhr wieder ins Armenierviertel gehen!“ Und Aidin hatte noch immer den Blick zum Himmel gerichtet, als ob er einen imaginären Fallschirm herabschweben sähe.

      Als wir noch Kinder waren, waren wir immer gleichfarbig und gleichartig gekleidet. Die Mutter drückte uns zwei Plätzchen in die Hand und sagte: „Geht spielen!“

      Wir hatten gelernt, uns an der Hand zu fassen, wenn wir irgendwohin gingen. Manchmal schickte uns Mutter auch ein paar Knöpfe, ein Stück Spitze, irgendeine Kleinigkeit kaufen, und manchmal gingen wir auch zu der Ventilatorenfabrik Lord hinüber, und Aidin und ich liefen Hand in Hand den abschüssigen Weg zum Werk hinab. Da unten dröhnte es aus der Fabrik, und die Arbeiter in uniformer gelber Kleidung packten die Ventilatoren in Kartons und luden sie auf dem Platz vor den Hallen auf die kleinen James-Lastwagen. Solange ich noch zur Schule ging, gingen wir immer zusammen. Wir waren ungezogener als die anderen Kinder. Ich brauchte Aidin nur freche Kinder zu zeigen, und schon drückte er sie gegen die Wand. Er schlug ihnen ein paar hinter die Ohren und sagte: „Vergiss nie, Urhan ist mein Bruder!“

      Als ich die Masern kriegte, nahm er mich auf den Rücken und schleppte mich von der Schule nach Hause. Aber unsere Tage verliefen nicht immer gleich: Mal gab’s gute Zeiten, mal schlechte. Und je älter wir wurden, umso schlechter wurden sie.

      „Bevor wir dreißig sind“, meinte Aidin, „werden wir in diesem Land zugrunde gehen. Du auf deine Art, ich auf meine, und Aida wieder auf eine andere.“

      „Die Lizenz für das Geschäft muss auf meinen Namen sein!“, bestimmte ich.

      „Macht nichts“, entgegnete er, „die kann ruhig auf dich laufen.“

      „Dazu ist das notarielle Einverständnis des Partners erforderlich. Aber wir sind ja keine Partner, wir sind Brüder.“

      Und ich ließ die Lizenz auf meinen Namen ausstellen. Der Wachtmeister Ayas meinte: „Dadurch

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