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Powarnizyn und Javier Sotomayor aus Kuba, der den Hochsprungweltrekord zwei Jahre später auf 2,43 Meter schrauben und vor den Olympischen Spielen 2000 wegen Kokaindopings gesperrt werden würde. Ihm mussten wir seine Antrittsgelder in bar aushändigen, unbemerkt von seinem Trainer und Betreuer. Sonst wäre er, wie im kommunistischen und diktatorisch regierten Kuba üblich, gezwungen gewesen, das Geld seinem Verband auszuhändigen. Also falteten wir die Geldscheine so klein wie möglich, verbargen sie in der Handfläche und übergaben sie ihm heimlich bei der Begrüßung.

      Schon das Springen selbst war eine große Party. In der Sporthalle herrschte Diskothekenlautstärke, jeder Springer lief zu seiner persönlichen Begleitmusik an. Das Meeting war ein Familienprojekt, meine Eltern verschickten die Einladungen, Carlo rekrutierte die Athleten, meine Freundin entwarf die Plakate. Meine Aufgabe war es, gemeinsam mit Carlo im Vorfeld Sponsoren zu finden und vor allem die Halle und das anschließende Fest vorzubereiten und für einen reibungslosen Ablauf der Veranstaltung zu sorgen. Ich war für jede Heftklammer, jedes Lautsprecherkabel, jeden Stuhl und jede Werbebande verantwortlich, verlegte mit Hilfe von Freiwilligen, die ich im örtlichen Sportverein rekrutiert hatte, die Matten und sorgte für den Aufbau der Sprunganlage. Viel Zeit blieb dafür nicht, der Umbau der Halle musste in einem Tag und einer Nacht vonstattengehen. Ich arbeitete unter Hochdruck. Alles sollte perfekt sein.

      Der Wettkampf in seinem Heimatdorf, vor den Augen seiner Familie, hatte die Nerven meines Bruders aufs Äußerste strapaziert. Wenige Stunden vor Beginn des Springens hatte er unter Fieberschüben gelitten und sich noch geweigert, sein Bett zu verlassen. Seine Anspannung übertrug sich auf uns. Mein Vater verließ die Halle, noch bevor Carlo anlief. Er fuhr in die nächste Kneipe und genehmigte sich ein Bier und einen Schnaps zur Entspannung.

      Ich fieberte mit meinem Bruder. Sah, wie er die Laufbahn betrat. Und zunächst stockte, mit wütendem Blick in die Runde sah. Meine Freundin hatte versehentlich die falsche Musik eingelegt, ein Sakrileg. Als dann die ersten Töne von Europes »The Final Countdown« aus den Boxen dröhnten, versank er in sich selbst, sein Gesicht eine Maske vollständiger Konzentration. Er lief an. Dieses Mal würde er es schaffen, der Rekord würde fallen. Dessen war ich mir schon bei seinen ersten Schritten sicher. Tatsächlich, er übersprang die 2,40 Meter im ersten Versuch, überwand als erster Mensch diese magische Grenze. Laut schreiend riss er die Arme hoch, tobte wie ein Derwisch durch die Halle. Ich rannte auf ihn zu, riss ihn in meine Arme. Er war aufgelöst und fassungslos, beinahe verstört, konnte das Glücksgefühl kaum verarbeiten. Mir ging es ähnlich. Mein kleiner Bruder war Weltrekord gesprungen. Er war jetzt einer von denen, die wir früher gemeinsam im Fernsehen bewundert hatten, Sportler, die in einer anderen Welt zu existieren schienen. Es war schier unfassbar. Auf diesen Augenblick schien alles in seinem Leben hingelaufen zu sein.

      In diesem Moment fühlte ich mich meinem Bruder tief verbunden. Ich sah den erwachsenen Athleten und gleichzeitig den kleinen Kerl, den ich als Dreijähriger auf der Ladefläche meines Plastiktraktors transportiert hatte. Den Jungen, mit dem ich in unserem Garten um die Wette gelaufen war, den Teenager, an dessen Seite ich Handball gespielt hatte. Carlo, der Schulverweigerer, mein sensibler, schüchterner Bruder, hatte seinen Platz in der Welt gefunden, mehr noch, er hatte es dort bis ganz nach oben geschafft, in jeder Hinsicht. Das vor allem löste eine wilde Freude in mir aus.

      Die folgende Party war so himmelstürmend wie die Sprünge zuvor. In großer Runde aßen und tranken wir in einer Gaststätte im Nachbarort, im Anschluss feierten wir im engen Kreis im Haus meiner Eltern weiter. Die Stimmung war ausgelassen und euphorisch, ein Gewirr unterschiedlicher Sprachen erfüllte den Raum, aber jeder schien jeden zu verstehen, alle Grenzen waren verschwunden, Herkunft, sportliche Konkurrenz, nichts davon spielte mehr eine Rolle. Wir waren Freunde, Familie, lachten und tranken. Ich schwebte durch den Raum, genoss die Wärme, die Nähe, das Miteinander, den Zusammenhalt, flog einer Flipperkugel gleich von einem zum anderen. Meine gute Laune warf ich in vollen Händen wie Kamelle unter das Feiervolk, die anderen griffen freudig zu. Bald war ich ein Zentralgestirn der Party, die anderen Gäste kreisten in meiner Umlaufbahn, mein Magnetismus, so schien es mir, hielt alles und jeden in Bewegung.

      Ich war wie losgelöst, berauscht, glückdurchströmt, trank Champagner, Bier, Malteser. Der Alkohol war Entspannungsmittel, Stimmungsbeschleuniger, Kommunikationstreibstoff und Belohnung. Ich hatte diese Veranstaltung, die im Weltrekord meines Bruders gipfelte, und die dazugehörige Party organisiert, hatte sozusagen das Feld bestellt, auf dem die sportlichen und festlichen Höhepunkte dieses Tages gedeihen konnten. Jetzt konnte ich mich gehen lassen. Wer hart arbeitete, hatte jedes Recht, ebenso hart zu feiern. Mehr noch, beides war untrennbar miteinander verbunden. Ich wollte allen zeigen, wie eine Hochleistungsparty auszusehen hatte, und nebenbei, wie viel ich vertrug. Die anderen sprangen vielleicht höher als ich, aber beim Feiern und Trinken konnte niemand mit mir mithalten. Ich war der Hochleistungsorganisator, der Hochleistungsstimmungsmacher und der Hochleistungstrinker unter den Hochleistungssportlern. Kurz, ich war in meinem Element.

      Dass mein Bruder, selbst kein Asket und weit davon entfernt, sich von Sport-Puristen seine Zigaretten und sein Bier madig machen zu lassen, mich zunehmend nervös und angespannt beobachtete, immer auf dem Sprung, eine mögliche Entgleisung zu verhindern, bemerkte ich nicht. Auch nicht, dass ich immer eine Spur lauter, schriller, exzessiver und aufgedrehter war als die anderen, alle Aufmerksamkeit auf mich zog und kurz davor stand, die Latte des Kontrollverlusts zu reißen. Meine alkoholsatte Euphorie war wie ein großer Hund, der unter dem Gejohle der anderen Gäste ausgelassen Kunststücke vorführte, allen durch die Beine wuselte, laut bellend an ihnen hochsprang und ihnen durch das Gesicht leckte; auch dann noch, wenn deren Begeisterung verflogen und der Jubel verstummt war.

      Bat Carlo mich, mich zu mäßigen, lachte ich ihn aus. Mir ging es doch prächtig, alles war gut, ich sorgte für Stimmung, hatte mich unter Kontrolle und amüsierte mich darüber hinaus königlich! Die anderen tranken doch auch, und ohne jemanden wie mich war eine Party nur ein Kaffeekränzchen. Den Kater würde ich locker wegstecken, schließlich war ich Sportler, jung und stark.

      Am nächsten Tag waren Carlo und Jacek Wszoła als Studiogäste ins »Aktuelle Sportstudio« geladen, Patrik Sjöberg und ich begleiteten die zwei. Das ZDF bezahlte uns jungen Kerlen Übernachtung und Abendessen in einem teuren Hotel, wir fühlten uns wie Fremdkörper inmitten der distinguierten älteren Herren im Anzug. Und wir ließen es gehörig krachen – zum 5-Gänge-Menü tranken wir Champagner und Cognac, nach dem Essen zündete sich jeder von uns eine dicke Zigarre an. Ein wenig fühlten wir uns wie Rockstars.

      Das Leben war ein einziger Rausch, alles floss, war in Bewegung. Unsere Partys und Besäufnisse waren nie hohler Selbstzweck, sie waren eingebettet in den Sport, die Erfolge; in arbeitsreiche und nüchterne Wochen, die in neue, aufregende Erfahrungen mündeten.

      Ein Jahr später, als Carlo in Berlin mit 2,42 Meter abermals einen neuen Hallenweltrekord aufgestellt hatte, waren wir zum Ball des Sports eingeladen. Wir kamen etwas zu spät, Carlo hatte noch eine Dopingprobe abgeben müssen. Der Fahrdienst chauffierte uns mit einem S-Klasse-Mercedes nach Mainz, auf dem roten Teppich erwartete uns das Blitzlichtgewitter der Fotografen. Carlo stand im Zentrum der Aufmerksamkeit, er war ein Star und wurde hofiert. Ich war an der Seite meines Bruders inmitten des Trubels, unterhielt mich mit Richard von Weizsäcker, der uns, als Bundespräsident Schirmherr der Veranstaltung, mit Handschlag begrüßt hatte. Später am Abend stand ich mit Udo Jürgens an der Bar, wir prosteten uns zu und kamen ins Gespräch. Der kleine Carlo und der kleine Bernd waren in der großen Welt angekommen, eine unglaubliche Erfahrung. Ich war wie im Rausch, geblendet vom großen Glanz und schönen Schein. Eine Art Droge, die die Eitelkeit nährt.

      Thränhardt, du Tier!

      Der Rolls-Royce stand im absoluten Halteverbot, keine zwanzig Meter vom Eingang des Nijinsky entfernt. Metalliclackierung, getönte Scheiben und blitzendes Chrom, ein Klischee auf vier Rädern. Wir waren zu viert, der Besitzer des Rolls-Royce, ein Unternehmer aus Düsseldorf, den ich nur flüchtig kannte, saß auf dem Fahrersitz, neben ihm Dieter, ein erfolgreicher Schauspieler; der breite Paul, ein Zuhälter, und ich saßen auf dem Rücksitz. Ich hatte nur eine vage Vorstellung davon, was mich erwartete.

      Im Laufe des Abends hatte ich beobachtet, wie Dieter und die beiden anderen immer wieder für einige Minuten die Diskothek verließen und ziemlich aufgekratzt zurückkamen.

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