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Staaten nicht veranlasst, ähnlich tiefgreifend umzudenken. Ethnische und religiös motivierte Morde und Vertreibungen hat es seitdem an vielen Orten gegeben. Sie sind heutzutage in aller Bewusstsein.

      Die Türkei bildet hier keine Ausnahme. Noch 1955 sahen sich Tausende von Griechen nach einem Pogrom mit 30 Todesopfern in Istanbul gezwungen, das Land zu verlassen. In der Nacht vom 6. zum 7. September 1955 erreichte die anti-griechische Stimmung ihren Höhepunkt. Vergleiche zur Reichspogromnacht in Deutschland im Jahre 1938 drängen sich auf. Nachdem in sorgfältiger Vorbereitung alle türkischen Geschäfte als solche markiert waren, konnte sich der Mob in einer im Nachhinein als türkische «Kristallnacht» bekannten Gewaltorgie an den Geschäften, Kirchen, Friedhöfen und Schulen der Griechen austoben – angestachelt durch eine Kampagne der Regierung, die den Griechen die Schuld an der angeblichen Schändung des Geburtshauses von Atatürk in Thessaloniki zuschob. Nicht nur die griechisch-orthodoxe Minderheit, auch die türkischen Juden und Armenier wurden zu Leidtragenden dieser Verbrechen.

      In den 1960er Jahren setzte sich die Vertreibung der Griechen fort, diesmal als angeblich Mitschuldige an der Zypernkrise. 1962 wurde der Gebrauch der griechischen Sprache auf der Straße verboten – eine Kulturgeschichte von 2000 Jahren fand so ein gewaltsames Ende. 1963 – auch hier bieten sich Vergleiche zur Vorgehensweise während der NS-Zeit an – folgte die Kampagne «Der Türke kauft beim Türken». Schilder mit der Aufschrift «Kauft nicht bei griechischen Händlern» lagen in den türkischen Geschäften aus. 1964 kündigte die türkische Regierung den Türkisch-Griechischen Freundschaftspakt und erzwang die Auswanderung von noch einmal etwa 50000 Griechen – jeder durfte 22 US-Dollar bei sich tragen. Auch hier werden Erinnerungen an Deutschland wach. Man erinnere sich: Die Höchstsumme, die die deutschen Juden bei der Auswanderung mitnehmen durften, belief sich auf 10 Reichsmark und 20 Kilogramm persönliches Gepäck. Die Vertriebenen erhielten keinen Zugriff auf ihre Bankkonten und durften ihre Immobilien nicht verkaufen. Das so in den Besitz des türkischen Staates gelangte Eigentum der Griechen wurde bis heute nicht restituiert.

      Der seinerzeit in der Türkei weitverbreitete Hass auf die Griechen speiste sich aus dem Versuch der Griechen, gegen Ende des Ersten Weltkriegs aus den Wirren des zerfallenden Osmanischen Reiches eigenen Nutzen zu ziehen. Die griechische Politik hatte bekanntlich bis 1917 abgewartet, auf wessen Seite sie in den Ersten Weltkrieg eintrete, und sich dann, als sich deutlich Sieger und Verlierer abzuzeichnen begannen, für die Entente entschieden, um die Gunst der Stunde wahrzunehmen und sich die Kontrolle über die mehrheitlich von Griechen bewohnten Regionen auf der kleinasiatischen Halbinsel zu sichern. Nach anfänglichen Erfolgen im Griechisch-Türkischen Krieg von 1919 bis 1920 erlitt Griechenland eine unerwartete Niederlage, nicht zuletzt auch deswegen, weil Italien seine eigenen Interessen durch die Ausdehnung Griechenlands auf das Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches beeinträchtigt sah und die Truppen Kemal Atatürks militärisch unterstützte.

      Es folgte ein Friedensschluss, der auf dem Prinzip ethnisch-religiöser Einheit in den Jahren 1922/1923 einen Bevölkerungsaustausch zwischen den beiden Staaten vorsah und zur Vertreibung von 1,2 Millionen Griechen aus der Türkei nach Griechenland, und in der Gegenrichtung zur Vertreibung von etwa 500000 muslimischen Türken aus griechischem Territorium in die Türkei führte. Der «Bevölkerungsaustausch» war begleitet von der Ermordung Zehntausender Griechen nach der Eroberung der von ihnen zuvor bewohnten Regionen durch die Türken, die alles daransetzten, die in einer von ihnen selbst durchgeführten Volkszählung von 1914 erwiesene griechische Bevölkerungsmehrheit auszulöschen.

      Der von Atatürk 1923 ausgerufenen Türkischen Republik fehlten folglich bereits zwei der drei großen Bevölkerungsgruppen, die der ethnisch-religiösen Einheit entgegenstanden. Es blieben noch die Kurden, die immerhin als Muslime ein gewisses Bleiberecht genossen. Sie erhielten freilich keine Rechte als ethnische Minderheit, sondern wurden in der türkischen Terminologie als «Bergtürken» gewissermaßen eingemeindet, natürlich unter dem Verbot, ihre eigene Sprache zu nutzen und ihre Kultur weiterzuleben. Eine vorsichtige Lockerung der türkischen Politik schien in jüngster Zeit erkennbar. Doch am 27. Juli 2015 rechtfertigte der türkische Staatspräsident die militärischen Angriffe auf Kurden-Stellungen im Nachbarland – unter Aufkündigung des bis dahin geltenden Waffenstillstands – allein mit der Begründung, die «Kurden untergraben die Einheit der Türkei».

      Eine ethnisch und weltanschaulich vielfältige Türkei ist für Recep Tayyip Erdoğan und seine Mitstreiter undenkbar. Es ist der den Entwicklungen in Deutschland entgegengesetzte Weg. Es wäre nicht überraschend, wenn die Argumente des Präsidenten in anderer Richtung am rechten Rand in Deutschland Anklang fänden. Die Weigerungen, wie es türkische Integrationsaktivistinnen mit Bedauern feststellen, immer größerer Anteile der hier lebenden Türken, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, lässt sich auch als ein «Untergraben der Einheit Deutschlands» bezeichnen. Freilich wird sich nur wer rückwärtsgewandt ist und es noch für gegeben hält, eine solche «Einheit» als politisches Ziel anzustreben, den Argumenten des türkischen Präsidenten öffnen können.

      Die Reinheit des nationalistisch-religiösen Selbstverständnisses der modernen Türkei baut auf diesen Grundlagen. Zwar hatte Atatürk die Republik als laizistischen Staat in der Verfassung definieren lassen, aber knapp 100 Jahre nach der Gründung dieser Republik ist das Verlangen einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung nicht nur nach Fortdauer, sondern sogar nach Ausweitung des nationalistisch-religiösen Einheitsgedankens ungebrochen. Wie groß die Zustimmung in der Bevölkerung zu der von Präsident Erdoğan im Juli 2020 verfügten Rückumwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee ist, ist wohl nur Insidern bekannt. Ein überaus symbolträchtiger Meilenstein auf dem Weg des Landes in die religiöse Einfalt ist dieser weitere Affront gegen das Erbe von Atatürk allemal. Die Türkei, das ist der Schluss, den der Blick auf dieses Land nahelegt, hat den Schritt in eine moderne Gesellschaft bislang nicht vollzogen, und es sind auch kaum Anzeichen erkennbar, dass sich daran etwas grundlegend ändern könnte.

      Alle diese Entwicklungen sind innere Angelegenheiten der Türkei und können von außen mit Zustimmung oder Missbilligung wahrgenommen werden. Wenn die türkische Bevölkerung mehrheitlich diesen Islamisierungskurs durch die Wahl entsprechender Regierungspolitiker unterstützt, dann ist das zu akzeptieren. Bemerkenswert ist hier allerdings, und daher diese knappe Auflistung einiger ausgewählter Daten aus der jüngsten Geschichte der Türkei, dass das Bestreben, ein nationalistisch-religiös homogenes Staatsgebilde zu schaffen, in der Türkei nach wie vor höchste Priorität im Bewusstsein weiter Bevölkerungsteile und daher auch in der staatlichen, regionalen und lokalen Politik genießt. Die politischen Aktionen der türkischen Regierungen im abgelaufenen Jahrhundert gegenüber ethnischen Minderheiten und religiös Andersgläubigen – das sind für die Einen notwendige Aktionen zur Schaffung einer rein islamischen türkischen Gesellschaft, und das sind für die Anderen Scheußlichkeiten, die im 20. Jahrhundert einfach nicht hinnehmbar sind – seien hier aus dem Grunde angeführt, weil im Juli 2015 59,7 % der Türken, die in die Bundesrepublik Deutschland eingewandert sind und sich an türkischen Parlamentswahlen beteiligt haben, die für diese Aktionen verantwortliche Regierung gewählt haben. Bei der vorgezogenen Präsidenten- und Parlamentswahl am 24. Juni 2018 wählten 64,8 %, das sind zwei Drittel der in Deutschland lebenden Wähler, Erdoğan zum Präsidenten und stimmten damit für die neue Verfassung, die ihm noch deutlich mehr Macht einräumen sollte.2 Sie bringen damit zum Ausdruck, dass sie eine solche Politik für angemessen und wünschenswert halten. Der Glaube, dass ein Leben in Deutschland die türkischen Mitbürger allmählich auf den Wertekanon der demokratischen Gesellschaft in Deutschland einstimmen wird, erweist sich zunehmend als Irrglaube. Tatsächlich verfestigt sich das Nebeneinander von Parallelgesellschaften.

      Manch ein Leser der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mag sich am 7. September 2015 die Augen gerieben haben.3 Da beklagt sich Ahmet Davutoğlu, ehemaliger Ministerpräsident der Türkei und Absolvent des zur Hälfte mit deutschen Lehrern ausgestatteten und von deutschen Steuerzahlern finanzierten Elite-Gymnasiums İstanbul Lisesi, über die «Errichtung einer christlichen Festung Europa» und spricht von Geschichtsvergessenheit im Hinblick auf die historischen Fakten. Eine «christliche Festung Europa», in der mehr als zehn Millionen Muslime unbehelligt leben, allerorten Moscheen eröffnen dürfen und alle Rechte genießen, die christlichen Gemeinschaften in der Türkei nicht zugestanden werden? Wahrscheinlich

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