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Das muss nicht die klassische Vater-Mutter-Kinder-Familie sein; das können auch andere, unterschiedliche Familienstrukturen sein, denen jedoch allen eines gemeinsam ist: Sie sind zuständig für die Fortpflanzung und vererben einen Generationenvertrag. Die Älteren ziehen die Jüngeren auf, bis sie stark genug sind, selbst wieder Jüngere zur Welt zu bringen, um diese aufzuziehen. Die Jüngeren danken es den Älteren, indem sie sie pflegen und nähren, wenn die Zeit der Schwächung gekommen ist. Es gibt Ausnahmen, in denen die Älteren früher aus dem Dasein gedrängt werden, als vielleicht die Biologie es fordert, und die Verpflichtungen der Jüngeren gegenüber den Älteren können die unterschiedlichsten Formen annehmen. Aber im Mittelpunkt des familiären Zusammenhalts, wie auch immer er im Detail in den verschiedenen Kulturen organisiert sein mag, steht das Vertrauen. Man schläft gemeinsam, man isst gemeinsam und kann nicht jedesmal prüfen, ob das Essen vergiftet und der einzelne Schlafplatz vor Eindringlingen gesichert ist. Vor allem muss der Einzelne nicht horten und sein Eigentum vor den anderen schützen. Alle haben Anteil an allem. Denn die Familie ist auf Vertrauen aufgebaut, und ohne dieses Grundvertrauen ist die Fortdauer der Generationen nicht gewährleistet.

      Dass der Generationenvertrag keine Selbstverständlichkeit ist, zumal in komplexeren Gesellschaften, mag das Beispiel Chinas zeigen. Vor mehr als zwei Jahrtausenden in einer Zeit des «Jeder-gegen-Jeden», in der jahrhundertelangen Periode der «Kämpfenden Reiche» vor der Reichseinigung im Jahre 221 v. Chr., war auch die Familie kein Garant mehr für Sicherheit und Vertrauen. Der Konfuzianismus sah es daher als dringend notwendig an, die Beziehungen in der Familie durch ein enges Netz gegenseitiger Verpflichtungen und somit Erwartungen zu stabilisieren. Erst diese Stabilisierung vermittelte eine Gewissheit der gegenseitigen Abhängigkeit, und aus dieser gegenseitigen Abhängigkeit erwuchs eine Gewissheit des zu erwartenden Handelns eines jeden anderen Familienmitglieds, und diese Gewissheit schließlich bildete die Grundlage des Vertrauens.

      China ist wohl die älteste Kultur, die dem heutigen Betrachter ein recht genaues Bild von den Verhältnissen einer Gesellschaft vermittelt, die als Mischkultur aus unzähligen Gemeinschaften erwachsen war. Die schwierige Aufgabe in der frühen Bildungsphase einer Gesellschaft bestand darin, die Vertrauenskluft zu überbrücken zwischen den nun zum Zusammenleben vereinten Gemeinschaften. Das mögen Familienverbünde mit Hunderten Mitgliedern gewesen sein oder größere Einheiten mit Tausenden von Angehörigen, die sich bereits unter dem Schirm eigener verbindlicher Normen vereint hatten und nun mit denen in engem Kontakt lebten, die ähnliche, andere oder sehr unterschiedliche Grundwerte mit einbrachten.

      Wenn Menschen als Familie oder Familienverbund zusammenleben, dann ist der Austausch von Gütern gegen Güter, von hilfreicher Handlung gegen einen Wertgegenstand oder sonstiger Dinge und Tätigkeiten, die der eine gibt und für die er eine Gegengabe erwartet, informell geregelt. Jeder weiß, wer wem gegeben hat und was der Empfänger schuldet. Und wenn der Empfänger seiner Pflicht zur Gegengabe nicht nachkommt, hat das für ihn unausweichliche Folgen. Jeder weiß, was auf ihn zukommt, wenn er das Vertrauen verletzt.

      Das ist nicht so im Umgang mit Fremden. Auch hier findet ein Austausch von Gütern, Wissen, Handlungen statt, aber der Empfangende kann sich seinen Verpflichtungen entziehen, ohne Folgen befürchten zu müssen. Er kann sich in seine Region, in seinen Clan, in seine Familie zurückziehen, ohne dort eine Strafe befürchten zu müssen. Das ist dann ein Raub, und nicht selten waren die Beziehungen benachbarter Stämme oder Völker durch solche Raubzüge gekennzeichnet. Überall dort, wo sich die Erkenntnis durchsetzte, dass letztlich beide Seiten davon profitieren, wenn Gabe mit Gegengabe vergolten wird, ohne dass die Gegengabe mit Gewalt eingefordert werden muss, bestand die Aufgabe darin, das notwendige Vertrauen zu schaffen.

      Der Vertrag ist nichts wert, wenn es keine Instanz gibt, die seine Durchsetzung ohne Bevorzugung der einen oder anderen Vertragspartei garantiert. Nur wo eine solche Instanz existiert, die das Vertrauen auf Unparteilichkeit aller genießt, kann auch ein Vertrauen zwischen den Mitgliedern verschiedener Gemeinschaften entstehen. Es sind Gemeinschaften, die den Austausch ihrer Güter nicht nur im gleichzeitigen Geben und Nehmen mit der linken und der rechten Hand üben, sondern in komplizierteren Handelsbeziehungen, die immer auch eine Vorleistung einer der beiden Seiten bedingen. Die Lösung lag in der Schaffung von Autoritäten, die gleichsam über den beteiligten, voneinander durch Misstrauen getrennten Parteien standen. Es war die Gründung des Staates mit seinen Behörden und Institutionen, die vermittelnd wirkte. Der Staat gründet auf Institutionen, die sich als neutrale, unparteiische Vermittler für die Rechte aller Beteiligten einsetzen. Das Justizwesen, die Banken, Polizei, die Regierung sollten in einer wohlorganisierten Gesellschaft das Vertrauen aller genießen und über den Partikularinteressen der einzelnen Gemeinschaften stehen, die als Verbund die Gesellschaft bilden.

      Der Blick auf viele Gesellschaften der Gegenwart zeigt, dass die realen Strukturen allzu oft nicht diesen Grundbedingungen einer Gesellschaft entsprechen.

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      Die Türkei – zurück zur einzelnen Gemeinschaft

      Ein naheliegendes Beispiel ist die moderne Türkei, die als Republik im Jahre 1923 gegründet wurde. Das Gebiet der heutigen Türkei war vor einem Jahrtausend ein rein christlicher Siedlungsraum. Die Eroberung Konstantinopels am 29. Mai 1453 besiegelte das Ende des Byzantinischen Reiches und war der Beginn der Islamisierung der fortan von den Türken beherrschten Regionen. Das Osmanische Reich räumte allerdings selbst in seiner Endzeit im 19. Jahrhundert den christlichen Minderheiten immer noch weitere Rechte und Möglichkeiten der Religionsausübung ein als der moderne türkische Staat zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert lebten auf dem Gebiet der heutigen Türkei mehr als zwei Millionen Christen. Doch schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich religiöse islamistische und nationalistische Bestrebungen, die gesellschaftliche Vielfalt im Sinne einer rein islamistisch-sunnitischen Gemeinschaft umzuformen.

      Eine Kette von umfangreichen Mord- und Vertreibungsaktionen setzte in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Im Jahre 1843 wurden durch den kurdischen Stammesführer Bedirxan Beg bei Massakern mindestens 10000 Armenier und Bergnestorianer in Aşita (Hoşut) im Sandschak Hakkâri ermordet. Frauen und Kinder wurden z. T. in die Sklaverei verkauft. Das mal mehr, mal weniger ausgesprochene Ziel der Völkermorde, Vertreibungen und auf sonstige Weise verwirklichten «Säuberungen» war es, ein Territorium unter die Kontrolle oder Herrschaft allein einer Ethnie oder einer religiösen Wertegemeinschaft zu zwingen und somit das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Ziel war es, ebenso wie im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aus der Vielfalt einer Gesellschaft in die Einfalt der einen Weltanschauung, des einen Glaubens, der einen Ethnie zurückzukehren.

      Die islamistisch-nationalistischen Säuberungsaktionen zählen zu den im Rückblick schrecklichsten und im Sinne ihrer Anstifter «erfolgreichsten» jener etwa einhundert Jahre. Bereits zwischen 1894 und 1896 wurden armenische Christen in größerem Ausmaß ermordet. Die Schätzungen gehen naturgemäß weit auseinander, aber die Zahlen von mindestens 80000 bis 300000 Getöteten sprechen für sich. Als sich die Pogrome über die Armenier hinaus auf Christen insgesamt ausweiteten, fielen auch die Assyrer den Aktionen zum Opfer; die Schätzungen belaufen sich auf bis zu 25000 Opfer. Im Jahre 1909 dienten wiederum armenische Christen als Zielscheiben der islamistischen Mord-Aktionen mit geschätzten 30000 Opfern.

      Die Kolonialtruppen des kaiserlichen Deutschlands eröffneten in den Jahren 1904/1905 die Reihe der Völkermorde des 20. Jahrhunderts mit der Vernichtung von etwa 80000 Angehörigen des Herero-Volkes und 10000 Angehörigen des Volks der Nama. Anschließend fand die unter der Bezeichnung «Völkermord an den Armeniern» bekannte umfangreichste «Säuberungsaktion» auf dem Gebiet der heutigen Türkei zwischen 1915 und 1917 statt, als mindestens 300000 bis möglicherweise 1,5 Millionen armenische Christen ermordet und vertrieben wurden; der Rest schrumpfte auf kaum 100000 Überlebende zusammen.1 Ein ähnliches Schicksal wurde den Aramäern und Pontosgriechen zuteil.

      Das Ausmaß des im Namen Deutschlands von den Nationalsozialisten und ihren Helfern weit über die Grenzen Deutschlands hinaus verursachten Holocausts mag im allergrößten Teil der deutschen Bevölkerung für viele Jahre und Jahrzehnte die Sehnsucht nach dem «reinen Volkskörper» erstickt haben. Da die Schuld an jener

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