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Ich weiß nicht, warum das so ist. Aber das Gefühl, wenn man wieder auftaucht, ist überwältigend. Befreiend.

      Ich drehe mich auf den Rücken und lasse meinen Blick über den See schweifen. Alles ist so wie immer. Der dunkle Moorsee, umsäumt von weißen Birken. Das Wasser, das leise und unaufhörlich gegen die Felsen schwappt. Das Schilf, das im Wind raschelt. Und Jelly, die mit ihrem rosa Bikini neben mir in der Sonne liegt. Keine zwei Meter entfernt.

      Wie immer.

      Ich, im Schatten.

      Sie, in der Sonne.

      Und trotzdem ist etwas anders. Heimlich schiele ich auf das Display meines Handys. 11:47 steht drauf. Sonst nichts. Keine Anrufe in Abwesenheit. Keine neuen SMS. Schon gar nicht von Finn. Ich habe mindestens dreimal bei ihm angerufen. Aber er hat nie abgehoben. Warum?

      Ist es doch wegen der Schweinehand? Oder war es der Kuss? Der Kuss mit Schweinegestank? Oder was?

      Mein Magen zieht sich düsterlich zusammen. Die winzigen Sonnenstrahlen, die durch das lichte Blätterdach der Birke fallen, können die Kälte in mir nicht vertreiben.

      Jelly scheint meine Unruhe zu spüren. Sie schaut über den Rand ihrer Sonnenbrille und fragt mit Kennermiene: «Magst du mir nicht endlich erzählen, was gestern los war?»

      Reflexartig verstecke ich mein Handy unter dem Badetuch und winke ab. «Da gibt es nichts zu erzählen. Ich hatte Stalldienst und konnte nicht weg. Wegen der Geburt. Du weißt schon ...»

      Meine Freundin stöhnt. «Mensch, Hannah. Setz dich endlich bei deinen Eltern durch! Das kann doch nicht ewig so weitergehen. Willst du zu Hause versauern, oder was?» Mit einer lässigen Handbewegung rückt sie ihre Sonnenbrille zurecht und kramt einen Sonnenspray aus der Tasche. Sorgfältig beginnt sie ihre Beine damit einzusprühen. Danach sind Bauch, Arme und Gesicht dran. Ein Hauch Kokos weht zu mir herüber, gefolgt von: «Kannst du mal?» Jelly dreht mir ihren Rücken zu. «Eigentlich dachte ich, dass Tobias das übernehmen würde. Aber selbst schuld, wenn diese Affen zu spät kommen! Wo bleiben die eigentlich?»

      Ja, wo blieben sie? Noch einmal lasse ich meinen Blick über den See streifen. An der Südseite beginnt sich langsam die Liegewiese zu füllen. Familien mit Kindern und aufblasbaren Rennautos, Ponys und Delfinen. Pärchen, die in der Nähe des Schilfgürtels ein Versteck suchen. Pensionisten mit Akkuradios, die leise dudeln und ab und zu Fetzen von Blasmusik über den See schweben lassen. Aber von Finns bestem Freund Tobias und vor allem von Finn – keine Spur. Ein leises Seufzen kommt mir über die Lippen.

      «Na gut, dann spraye ich mich halt selber ein», sagt Jelly neben mir schnippisch.

      Ich gucke sie irritiert an, dann begreife ich, dass sie mein Seufzen auf das Einsprühen bezogen hat. «Klar sprühe ich dich ein», sage ich schnell. «Gib schon her dein Kokosnusswunderbräunungszeugs.» Ich schnappe mir die Flasche und spraye ihren Rücken damit ein. Um sie versöhnlich zu stimmen, sage ich: «Erzähl, wie war es gestern sonst noch so?»

      Jelly kichert. «Ach, es interessiert dich also doch? Und ich dachte schon, du bist krank oder so.» Und dann fängt Jelly zu erzählen an. Von der coolen Band, die in dem kleinen Zelt neben dem großen gespielt hat, und von der Motorradgang, die aus dem Nachbardorf angerollt ist. Von Goldlöckchen alias Lena, die zur amtierenden Maisprinzessin gewählt wurde (auch kein Wunder, immerhin ist ihr Vater der Bürgermeister). Vom riesigen Sonnwendfeuer, das gebrannt hat wie Zunder. Von Raphael und seinen Freunden Sebi und Manuel, die gesoffen haben wie die Stiere, weil sie ihre bestandene Führerscheinprüfung gefeiert haben. Und natürlich von Tobias. Und Finn.

      Als ich fertig mit Einsprühen bin, nimmt sie mich ins Visier. «Also, Hannah», fragt sie. «Was ist denn nun wirklich zwischen euch?» Ihre linke Augenbraue beginnt in Richtung Haaransatz zu wandern. Das tut sie immer, wenn Jelly auf eine heiße Spur gestoßen ist. Dafür scheint sie eine Begabung zu haben. Und obwohl ich meine Freundin schon lange kenne, kann ich ihr einfach nicht sagen, was da läuft. Ich mag Jellena. Wirklich! Sie ist schon immer meine Freundin gewesen. Seit dem Kindergarten. Obwohl sie so anders ist als ich. Aber ich glaube, das ist auch der Grund, warum wir uns so super verstehen.

      Ihre Mutter hat den Friseursalon im Dorf. Jellys Vater lebt schon lange nicht mehr hier. Der ist irgendwann abgehauen, als Jelly noch klein war. Nachdem der Krieg zu Ende war, ist er wieder zurück nach Bosnien, ohne die beiden mitgenommen zu haben. Das war schon ziemlich gemein von ihm! Aber Jellena kommt eigentlich super damit zurecht. Das hat sie schon früh gelernt oder einfach in die Wiege gelegt bekommen. Das Alleine-klar-kommen-Gen.

      Und ich...? Meine Eltern haben den Bauernhof. Da gibt es immer Arbeit. Meist schmutzige. Dementsprechend läuft man den ganzen Tag dreckig herum. Und zum Fragen hat man nie viel Zeit. Man macht einfach. Man muss einfach. Das habe ich auch schon früh gelernt. Oder es ist mir auch in die Wiege gelegt worden. Das Man-muss-einfach-machen-Gen.

      Aber obwohl ich Jellena schon ewig kenne, kann ich ihr einfach nicht sagen, was mit Finn läuft. Ich weiß es doch selbst nicht. Und wer weiß, was los ist, wenn es jeder hier im Dorf erfährt. Jeder. Auch meine Eltern. Und vor allem Raphael! Daran will ich gar nicht denken. Wenn der rauskriegt, dass ich mit dem Sohn seines Chefs ...! Der macht mich fertig. Er ist ja auch so kaum noch auszuhalten, seitdem er letztes Jahr diesen Anfall hatte.

      Deshalb springe ich auf und sage: «Ich weiß nicht, was du meinst!» und düse in Richtung Wasser ab. «Kommst du mit?»

      Jelly sieht mir empört nach. «Dann eben nicht.» Schlendernd folgt sie mir in Richtung See. «Nur damit du es weißt», schnaubt sie, als sie neben mir zum Stehen kommt, «ich springe nicht von diesem Selbstmörderplatz. Verstanden?» Ihr Kopf nickt in Richtung Felsen.

      Ein Spiegelbild beginnt sich vor unseren Füßen auf dem Wasser auszubreiten.

      Jelly und ich. Beide gleich groß. Die eine schlank, die andere dürr.

      Die eine braun, die andere blass. Die eine hat einen rosa Bikini an. Die andere einen braunen. Die eine hat lange, blonde Haare. Die andere hat ihre mausbraunen zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden. Der Pony hängt ihr tief ins Gesicht. So stehen wir. Und das schwarze Wasser schlägt über uns Wellen. Schaukelt uns hin und her. Und hin und her. Und dennoch sind wir da. Seite an Seite. So, wie wir es immer gewesen sind. Und wahrscheinlich immer sein werden. Da bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich meiner besten Freundin kein Vertrauen schenken kann. Ich drehe mich zu ihr hin und flüstere: «Ich weiß einfach nicht, was da ist. Verstehst du?» Und ich muss kämpfen, damit ich nicht anfange zu weinen.

      Jelly lächelt mich an. Wissend. «Erwischt, mhm?» Und dann nimmt sie mich in ihre Arme und flüstert: «Du weißt ja, wo du mich findest, wenn du jemanden zum Reden brauchst!»

      Ich nicke. Stumm. Und klettere auf den Felsen, den wir Jungfrauenfelsen nennen. Meine Zehen krallen sich in den Spalten fest. Ich richte mich auf und blicke ins Wasser. Vor mir tut sich das tiefe schwarze Loch auf. Ich hole Luft. Tief Luft. Und dann springe ich ...

      ... rauschendes Wasser, kitzelnder Morast, wogende Haare, alles stürzt auf mich ein. Ich lasse mich sinken, es zieht mich hinunter, tiefer und noch tiefer. Um mich herum wird es still. Ich koste den Augenblick aus. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Drei Sekunden. In meinen Lungen fängt es zu kribbeln an. Jetzt ist es Zeit. Mit einer kraftvollen Bewegung drücke ich mich in Richtung Licht. Wieder rauschendes Wasser, kitzelnder Morast und wogende Haare. Als ich auftauche, hat mich die Welt wieder. Ich ringe nach Luft, öffne die Augen und ...

      ... blicke direkt in das Gesicht von Finn.

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      Finn liegt neben mir unter der Birke. Seine Augen sind geschlossen. Schläft er? Sein Atem geht gleichmäßig und riecht nach Alkohol. Ich beuge mich über ihn und betrachte sein Gesicht. Sein Mund ist leicht geöffnet. Die nassen Haare kleben an der Stirn. Dazwischen spiegeln sich kleine Wassertropfen im Sonnenlicht.

      «Lass ihn schlafen!», ruft Tobias, als er mit Jelly aus dem Wasser kommt. Händchen haltend.

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