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die Verrückten. Ziehen. Und ziehen. Und spüren kurz darauf endlich einen Ruck, und das Ferkel wird mit der nächsten Wehe herausgepresst. Es lebt sogar noch. Wahnsinn!

      «Wahnsinn», sagt auch Finn neben mir. «Wir haben gerade ein Schweinebaby zur Welt gebracht.» Er grinst über beide Ohren. «Und noch dazu einen ziemlich dicken Brummer. Kein Wunder, dass sich die Schweinemutter so abgemüht hat.»

      Ich bin fertig. Fix und fertig. Und trotzdem fühle ich mich so gut wie noch nie. Gemeinsam rubbeln wir unseren Brummer trocken und legen ihn an die Zitzen der Mutter. Seine Geschwister saugen schon daran. Danach kommen die Ferkel im Rekordtempo. Eines nach dem anderen flutscht heraus. Elf an der Zahl. Dann ist Schluss. Die Nachgeburt kommt, und ich bin unglaublich stolz auf mich. Oder noch besser: auf uns.

      Als wir aus dem Stall treten, ist die Luft draußen kühl und angenehm. Eine Million Sterne funkeln am Himmel. Wir stinken wie die Schweine, aber das ist uns schnurz-piep-egal. Wir legen uns ins feuchte Gras mitten in den Obstgarten. Zwischen Apfel- und Birnbäumen. Und dann ... küssen wir uns. Zuerst nur ein bisschen. Ganz sanft. So zum Probieren. Aber dann immer mehr. Und mein Herz pocht. Mein Kopf dröhnt. Und meine Wangen glühen. Es fühlt sich total berauschend an, sogar in meinen Ohren rauscht es. Vor Glück, wahrscheinlich. Oder?

      Oder, doch nicht ... das Rauschen kommt nämlich von ganz wo anders her. Es kommt von einem Auto, das die Zufahrtsstraße zum Hof entlangfährt. Meine Eltern, fährt es mir durch den Kopf. Sie kommen. Vom Fest. Schon.

      «Schnell», zische ich Finn ins Ohr und befreie mich aus seiner Umarmung. «Du musst gehen!»

      Finn sieht mich fragend an. Doch mir bleibt keine Zeit, die Situation zu erklären. Denn schon kommen die Lichtkegel des Autos näher.

      «Bitte!»

      Finn nickt. Ausdruckslos.

      «Ich rufe dich morgen an», flüstere ich ihm nach. «Versprochen!»

      Dann verschluckt ihn die Dunkelheit.

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      «Dass du die Geburt so gut hingekriegt hast», meint Papa am nächsten Morgen und strubbelt mir im Vorbeigehen durchs Haar. Dann lässt er sich auf die Küchenbank plumpsen und schneidet eine dicke Scheibe Brioche ab. «Wird ja doch noch eine Bäuerin aus dir!» Zufrieden tunkt er das Hefegebäck in den Milchkaffee ein, beißt ab und deutet mit vollem Mund auf den vergilbten Bauernkalender, der schon seit Ewigkeiten dort an der Wand hängt. Gleich neben dem Herrgottswinkel. «Menschensinn und Juniwind ändern sich oft sehr geschwind!», nuschelt er grinsend.

      «Mhm», sage ich nur und nehme ein paar Zuckerwürfel aus der Dose, Stück für Stück. Sechs oder sieben. Und lasse sie langsam im Kaffee untergehen. Dabei klimpere ich mit dem Löffel, eine Spur zu laut. Denn als sich Mama zum Tisch setzt, schaut sie mich vorwurfsvoll an. Automatisch greift ihre Hand nach der Zuckerdose. «Hannah, glaubst du nicht, dass du schon genug hast?», fragt sie streng und stellt die Dose aufs Fensterbrett.

      Genug. Habe ich genug? Nein, brüllt es in mir. Ich habe nicht genug! Und mein Menschensinn hat sich wegen der beschissenen Bauernregel auch nicht geändert! Aber alles, was ich zustande bringe, ist ein mickriger Giftblick, der überhaupt keine Wirkung zeigt, weil die Morgensonne gnadenlos zum Fenster hereinscheint und ich blinzeln muss. Ich finde Mamas Verhalten zum Kotzen. Seitdem Raphael diesen Anfall hatte und Diät halten muss, ist sie total anders geworden. Besonders zu mir. Dabei finde ich, dass mein Bruder mit der Heustauballergie gar nicht so schlecht dran ist. Jedenfalls muss er seitdem nicht mehr die Schweine füttern. Und überhaupt braucht er am Hof nicht mehr mitzuhelfen. Ich dafür umso mehr. Vielleicht ist das ja der Grund, warum Mama jeden Tag die Zuckerdose aufs Fensterbrett stellt. Damit ich weiterhin die Stallarbeit erledigen kann. Na super ...

      Wütend nippe ich an meinem Kaffee, der scheußlich schmeckt. Viel zu süß. Und trotzdem werde ich beim nächsten Mal aus Protest noch mehr Zucker hineingeben.

      Als sich ein paar Sonnenstrahlen auf die Tischdecke verirren, fällt mir ein, dass ich Finn anrufen sollte. Vielleicht können wir ja zum See gehen. Während ich noch darüber nachdenke, sagt Papa plötzlich: «Und ohne Hilfe», und sieht mich schon wieder so komisch an. «Bei dem fetten Kerl hast du sicher ganz schön ziehen müssen. So alleine ...»

      «Brummer», antworte ich leise. Und als mich Mama und Papa nur verständnislos anschauen, erkläre ich: «Der fette Kerl heißt Brummer und ist gar nicht fett! Nur groß!» Dann schießt mir wieder diese blöde Tomatensuppenfarbe ins Gesicht. Daher beschließe ich, für heute genug gefrühstückt zu haben. Als ich die Küchentür aufstemme, steht Raphael vor mir. Mit verstrubbelten Haaren und geröteten Augen. Und einer Alkoholfahne, die mich beinahe umhaut.

      «Auch schon wach!», gifte ich ihn an. Schnell dränge ich mich an meinem Bruder vorbei.

      Raphael grinst nur: «Für so junge Hühner wie dich heißt es eben früh ins Bett gehen!» Er lässt sich wie Papa auf die Küchenbank fallen und schnappt sich die Zuckerdose. Das reicht! Mit einem Knall schlage ich die Tür hinter mir zu und verschwinde zu Lanzelot.

      Doch die Pferdebox ist leer. Sicherlich hat Papa Lanzelot frühmorgens auf die Weide gelassen. Weil um diese Uhrzeit die Fliegen nicht so lästig sind. Also schnappe ich mir den Führstrick und marschiere in Richtung Koppel. Auf dem Weg dorthin summt es in meinem Jeansrock. Jelly is calling.

      «Wo warst du denn gestern?», flötet meine Freundin. «Es war so geil, sag ich dir! Tobias war da. Und sogar diese Motorradtypen vom Nachbardorf.»

      Ich stelle auf Lautsprecher, so kann ich mich mühelos über den Zaun schwingen. Schon kommt Lanzelot angaloppiert. Schnuppernd durchsucht er meine Taschen nach Leckereien.

      «Hannah ... bist du noch da?», tönt es aus dem Handy.

      «Ja», sage ich und muss kichern, weil Lanzelots Barthaare so kitzeln. «Wir reden später weiter, okay? Ich muss grad was erledigen. Ich melde mich dann bei dir», versuche ich Jelly abzuwimmeln. Ich will unbedingt vorher mit Finn sprechen. Vielleicht klappt es ja mit dem See.

      In der Leitung knistert es. «Ja, gut», meint sie nach einer Weile. «Aber beeil’ dich. Wir treffen uns später nämlich mit den Jungs am See.»

      In meinem Kopf schlägt die Alarmsirene an. «Welche Jungs?», frage ich vorsichtig.

      Jelly schnaubt. «Tobias natürlich. Und dein Lover soll auch kommen – hab ich jedenfalls gehört. Er war ja gestern auf einmal wie vom Erdboden verschluckt ...»

      «Er ist nicht mein Lover. Das weißt du ganz genau!»

      Jelly fängt zu lachen an. «Hannah, für wie blöd hältst du mich?!»

      Als ich nicht antworte, sagt sie: «Das mit Finn ... das ist ja wohl klar. Immerhin hat er gestern auf der Party ungefähr hundertsiebzigmal nach dir gefragt. Und jetzt pack deinen Bikini ein und schwing deinen Arsch schnellstens her. Klaro?»

      Darauf weiß ich keine Antwort. Außer dass Jelly das mit mir und Finn nun doch gewittert hat ... und mich fröstelt, obwohl es schon über dreißig Grad draußen hat.

      Ich liege unter der großen Birke im Schatten. Ich mag diesen Platz. Er hat etwas Besonderes, etwas Mystisches. Auch wenn man sich am Seeufer durchs Unterholz schlagen muss, um hierher zu kommen. Und das bei dieser Hitze. Das macht nicht jeder. Aber die Mühe lohnt sich. Denn hier sind kaum Leute. Das liegt nicht nur am beschwerlichen Weg, sondern auch daran, dass das Ufer auf dieser Seite des Sees steil abfällt und das Wasser noch dunkler ist. Wenn man also hinein will, muss man entweder durchs hohe Schilf waten oder von dem Felsen springen, der ein Stück weit vom Ufer ins Wasser ragt. Das ist gar nicht so einfach. Nur die wenigsten trauen sich das. Doch wenn man sich traut, dann wird man jedes Mal aufs Neue belohnt. Denn das Wasser ist so dunkel, dass ich immer das Gefühl habe, in ein schwarzes Loch zu springen. Ohne zu wissen, ob es

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