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leidvolle Wissen, alle heilige Liebeskraft Hauptmanns ist in dessen Christusroman eingegangen, aber in der Dumpfheit seiner Umwelt entringt er sich nicht dem Sektierer- und Quäkerhaften, zur Höhe von Dostojewskis "Idiot".

      Wie aber Kleist von der tragischen Unbedingtheit seines Lebens und Schaffens ausruht in der sinnlichen Lebens- und Listenfülle des Dorfrichters Adam, in der humorvollen Gestaltung eines parodistischen Heldenkampfes, so ruht Hauptmann im freiem lächelnden Anteil an der amoralischen, ungebundenen, ungebrochenen Natur der Waschfrau Wolff. An Kraft und Geschlossenheit des Aufbaus steht die Diebskomödie "Der Biberpelz" (1893) hinter dem "Zerbrochenen Krug" erheblich zurück; an Kraft und Fülle ihrer Hauptgestalt ist sie ihm nahe verwandt.

      Mit "Pippa tanzt" (1906) beginnt die schöpferische Kraft Hauptmanns zu versiegen. Alle späteren Dramen muten — wie auch die Erzählung "Der Ketzer von Soana" — nicht mehr ursprünglich, sondern literarisch an. Es ist bedeutsam, daß "Pippa tanzt" zugleich das letzte Werk ist, das aus dem Boden der schlesischen Heimat wächst. Nie war ein Dramatiker so tief, so schicksaltief der seelischen und sinnlichen Atmosphäre seiner Heimat verbunden. Da er ihr entwächst in die Welt seiner literarischen Erfolge und Interessen, der allgemeinen deutschen und europäischen Geistigkeit, sterben seine tiefsten Wünsche ab. Schon auf der Höhe seiner Kraft war ein großgeplanter Versuch mißlungen, eine Tragödie statt aus der Natur, der seelisch-sinnlichen Natur seiner Heimat, aus der Geschichte aufzubauen: "Florian Geyer" (1896), die Tragödie des Bauernkrieges war trotz gewaltiger Einzelszenen in der Überfülle des Stoffs und der Studien steckengeblieben. Jetzt sucht Hauptmann in fränkischen, italienischen, griechischen, peruanischen Sphären seine verlorene Lebens- und Schaffenskraft wieder — vergebens: er empfängt nur Leben aus zweiter Hand.

      Hauptmanns gerader weltanschaulicher Gegensatz ist Frank Wedekind (1864-1918). Ist Hauptmann der Anwalt der unterdrückten Seele, so ist Wedekind der Anwalt des unterdrückten Leibes und Fleisches. Er wendet sich gegen "die Geringschätzung und Entwürdigung" des Fleisches, gegen jene, denen "der Geist das höhere Element, der absolute Herrscher" ist, "der jede selbstherrliche, revolutionäre Äußerung des Fleisches aufs unerbittlichste rächt und straft" ("Über Erotik"). In der Kindertragödie: "Frühlings Erwachen" (1891) — neunzehn locker gereihten, kurzen Szenen im Stile Lenz' und Büchners — gestaltet er die dunklen Wirren und Leiden der Pubertät, der aufwachenden sinnlichen Triebe, die von allen Seiten, von Eltern und Lehren, verleugnet, verdächtigt und mißleitet werden, Gymnasiasten und vierzehnjährige Schulmädel, die auf der gefährlichen Grenzscheide zwischen Kindheit und Reife weglos allein gelassen, aller Unruhe und allem Dunkel der neuen Lebensmächte preisgegeben und in Verbitterung, Tod und Selbstmord hinausgedrängt werden, Kämpfer, die an der Eingangspforte des Lebens fallen. Im "Erdgeist" (1895) formt er dann die volle entfesselte Macht der Triebe. In Lulu zeichnet er die "Urgestalt des Weibes" die schon in der Bibel, im Leben der Kirchenväter und Heiligen immer wieder als das dämonische, verführerische sinnliche Element des Lebens zerstörend auftaucht, die Schlange, "das wahre Tier, das wilde, schöne Tier". "Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften, — Zu locken, zu verführen, zu vergiften, — Zu morden, ohne daß es einer spürt". Lulu nennt sie der eine, Nellie, Eva, Mignon der andere; sie hat keinen Namen, wie sie keinen Vater hat: sie ist das Urelement der Schöpfung. Jeder sieht sie anders, legt seine Sehnsucht, seine Seele in sie hinein, behängt sie mit seinen Träumen und Phantasien. Sie aber bleibt "die seelenlose Kreatur". Gleichgültig schreitet sie über das Leben der Männer hinweg, die ihr zu Füßen stürzen, immer neue Opfer fordernd, in rastloser Gier — bis sie demselben Dämon verfällt, der sie getrieben, und (im 2. Teil der "Büchse der Pandora") unter dem Messer Jack des Aufschlitzers endet.

      Es war nicht leicht für Wedekind, diesem weiblichen Urbild sinnlicher Schönheit und Wildheit ein männliches zur Seite zu geben. Mit der kulturellen Entwicklung ist die geistige Kraft zum eigentlichen Wesen des Mannes geworden. Aber Wedekind ging in die Welt der Zirkusmenschen und Hochstapler, der elastischen Abenteurer, die in zäher Lebensgier durch Strom und Strudel jagen, untertauchen, nie untersinken, immer wieder in die Höhe kommen. "Der Marquis von Keith" (1900) ist Wedekinds dramatisch stärkste Gestaltung dieses Typus.

      In all diesen Dramen kann der Trieb, das Fleisch, nie gegen den Geist kämpfen, da er ihn nicht begreifen, nicht übersehen kann. Vertreter des Geistes, die gegen das Fleisch auftreten — wie Lehrer und Pfarrer in "Frühlings Erwachen" —, sind bloße Karikaturen. Immer kämpfen Triebe gegen Triebe. So kommt es nie zur Klärung und Lösung, sondern nur zur Katastrophe. Der Aufstieg und Absturz des Ideendramas zerfällt hier nach der Zahl der Akte in ebenso viele parallele Krisen und Katastrophen. Auch die Szenen, die Dialoge entwickeln sich eher in linearem Nebeneinander als in einem steigenden In- und Miteinander. Denn diese triebhaften, "unbeseelten Kreaturen" sind ganz in sich gebunden, in die Einsamkeit alles Sinnlichen. Sie reden nicht zueinander, sie sprechen aneinander vorbei. Und so dunkelt über dieser lebensverlangenden, lebensbejahenden Triebwelt die heimliche Melancholie der unerlösten Kreatur, eine Tragik, die tiefer gründet als die äußeren Kämpfe ihrer Instinkte.

      Die Bejahung und Verherrlichung des Fleisches, die dem jungen Wedekind quellende Natur ist, wird dem alternden zur Lehre, die er predig und verteidigt. All seinen späten Gestalten gibt er sie in den Mund. Das widerspricht aber dem Wesen dieser triebhaften Gestalten, die nicht über sich theoretisieren können. So zerfällt die durchaus unnaturalistische, großumrissene, sinnenbunte Bildwelt Wedekinds in graue fanatische Deklamationen.

      Zwischen den polar bestimmten Werten und Welten Hauptmanns und Wedekinds schwankt die ungewisse Welt Arthur Schnitzlers (geb. 1862). Die Wiener Kultur, schon in Grillparzer voll unsicherer Selbstreflexion, ist ganz Ausgangskultur geworden: ihre Ideenwelt hat den zwingenden Gehalt verloren, nur ihre Formen sind geblieben. Mit ihnen drapiert und maskiert man sich, man spielt mit ihnen. Das Leben selber wird zum Spiel. In lächelnder Skepsis ist man sich dieses Spiels bewußt, sucht man es zu vervollkommnen und auszukosten. Aber die Schwermut lauert über jenen Augenblicken, wo man des Spielens müde ist, wo man auf festem Ideen- und Lebensgrund ruhen möchte und nur erkennt:

      Es fließen ineinander Traum und Wachen,

      Wahrheit und Lüge. Sicherheit ist nirgends.

      Wir wissen nichts von andern, nichts von uns.

      Wie spielen immer; wer es weiß, ist klug.

      In den sieben graziösen Dialogen des "Anatol" (1894) ist diese Skepsis und Müdigkeit, diese Selbstreflexion und weiche Selbstverhätschelung zum erstenmal Wort und Gestalt geworden. Anatol, der junge, verwöhnte Dichter, der "leichtsinnige Melancholiker" der in tändelnden Abenteuern, in "zärtlicher Liebe ohne das Bedürfnis der Treue" sein Leben verträumt, der nur in Stimmungen lebt und so viel Mitleid mit sich selbst hat — keine moralische Forderung, kein Schicksal dürfte an diese Welt klopfen: sie würde in Staub verwehen. Aber da sie ganz in sich verbleibt, nehmen wir lächelnd Anteil an ihrem weichen, morbiden Stimmungszauber, ihrer Liebenswürdigkeit und Gebrechlichkeit.

      Die Melancholie, die aus dieser Welt steigt, kann sich nie zur wahren Tragik härten. Auch aus den fröstelnden Schauern des "Einsamen Wegs": "Und wenn uns ein Zug von Bacchanten begleitet — den Weg hinab gehen wir alle allein", weht weniger Lebenstragik als Lebemannstragik. Aber wenn in diese Welt ein Vorstadtmädel gerät mit der ganzen frischen Innigkeit und Unbedingtheit seines Herzens, die Liebe gibt und sucht in dieser Welt der "Liebelei", dann greift einfache Tragik ans Herz. Christin', die blasse Violinspielerstochter, die ihre Seele hingibt an den leichtsinnig-schwermütigen Menschen, der ihr auch in der tiefsten Stunde wehrt: "Sprich nicht von Ewigkeit. Es gibt vielleicht Augenblicke, die einen Duft von Ewigkeit um sich sprühen... Das ist die einzige, die wir verstehen können, die einzige, die uns gehört", wird zu einem holden Urbild, zu einem unvergeßlichen Klang, daraus die Innigkeit und Traurigkeit eines Volksliedes weht.

      Die größeren Kompositionen Schnitzlers lehnen sich an fremde Stile, an Ibsen oder Shakespeare, lösen sich in epische Episoden oder zergehen in dialektische Konversationszenen, deren geistreich-schwermutvolle Feinheit die Menschen mehr verschleiert und verwischt als gestaltet. Nur im "Grünen Kakadu" wird Schnitzler die Ausgangswelt, ja der Ausgangstag des ancien régime (der Tag des Bastillensturms) zum großen historischen Spiegel des Wiener Ausgangs. Ein Irrspiel zwischen Sein und Schein, das den Verfall aller Werte, die Zersetzung aller Seele in grellen

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