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Deutsches Leben der Gegenwart. Paul Bekker
Читать онлайн.Название Deutsches Leben der Gegenwart
Год выпуска 0
isbn 4064066118716
Автор произведения Paul Bekker
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Als 1885 die süßlich-leere Epigonenzeit unserer Dichtung durch die literarische Revolution der Jungen abgelöst wurde, glaubten diese im "Naturalismus" eine neue Lebens- und Kunstanschauung gefunden zu haben. Wilhelm Scherer verkündete: "Die Weltanschauungen sind in Mißkredit gekommen. ...Wir fragen: wo sind die Tatsachen? ...Wir verlangen Einzeluntersuchungen, in denen die sicher erkannte Erscheinung auf die wirkenden Kräfte zurückgeführt wird, die sie ins Dasein riefen. Diesen Maßstab haben wir von den Naturwissenschaften gelernt... Dieselbe Macht, welche Eisenbahnen und Telegraphen zum Leben erweckte, dieselbe Macht regiert auch unser geistiges Leben; sie räumt mit den Dogmen auf; sie gestaltet die Wissenschaften um; sie drückt der Poesie ihren Stempel auf. Die Naturwissenschaft zieht als Triumphator auf dem Siegeswagen einher, an den wir alle gefesselt sind." Arno Holz und Johannes Schlaf glaubten dieser Weltanschauung, im "konsequenten Naturalismus" die entsprechende Kunstanschauung erobert zu haben: "Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein. Sie wird sie nach Maßgabe ihrer jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren Handhabung." In den drei Skizzen des "Papa Hamlet", dem Drama "Die Familie Selicke" schufen sie ihrer Lehre die Leistung. "Papa Hamlet" erschien unter dem Decknamen "Bjarne P. Holmsen". Ihm hat Gerhart Hauptmann sein erstes Drama "Vor Sonnenaufgang" (1889) zugeeignet, als "dem konsequentesten Naturalisten, in freudiger Anerkennung der durch sein Buch empfangenen, entscheidenden Anregung".
In Wirklichkeit war diese Anregung, war der ganze konsequente Naturalismus weder für Gerhart Hauptmann, noch für irgendeinen Dichter von "entscheidender" Bedeutung; seine Lebens- wie seine Kunstanschauung war unhaltbar. Von einer rein beschreibenden Wissenschaft, wie der Naturwissenschaft, kann man niemals zu einer Weltanschauung, zur Sinn- und Wertsetzung, vom Sein niemals zum Sollen vordringen. Und ebensowenig ist ein bloßes Abkonterfeien des Lebens durch eine naturalistische Kunst möglich; schon der Erkenntnisprozeß ist — hat Kant dargetan — kein passives Abbilden, sondern ein Formen der Wirklichkeit; alle Kunst ist die Umsetzung der natürlichen in eine von Geist und Gefühl des Künstlers stilisierte Welt.
Mehr als die Formenwelt des Naturalismus, als seine unhaltbare Kunstanschauung haben Ansätze zu einer Lebensanschauung aus der Stoffwelt des Naturalismus Gerhart Hauptmann den Weg zu sich selber frei gemacht. Dem Naturalismus der Form hatte sich fast überall der Sozialismus des Stoffs verbunden und in ihm die Keime eines neuen Gehalts: des sozialen Mitgefühls. Zu den ästhetischen waren ethische Tendenzen getreten. Die Entwicklung der Industrie und der Großstadt, die Einflüsse Zolas, Ibsens, Tolstois hatte sie geweckt. Von der erstarrten und zersetzten Ideen- und Formenwelt des dritten Standes, des Bürgertums, hatten sich die jungen Dichter in sozialem Mitleid zu der ringenden formbedürftigen des vierten Standes, den Arbeitern, gewandt. Und hier war der Weg, der Hauptmann in seine Tiefen führte.
Schon seine erste veröffentlichte Dichtung, das Epos "Promethidenlos" (1885), hatte sein soziales Verantwortungs- und Mitgefühl bekundet. Ergriffen rief sie den Armen und Elenden zu: "So laßt in eurem Schmutz mich hocken — Laßt mich mit euch, mit euch im Elend sein." Und ein Gedicht von 1888 sprach die heilige Leidverbundenheit des Künstlers und Menschen aus:
Ich bin ein Sänger jenes düstren Tales,
Wo alles Edle beim Ergreifen schwindet. — — —
Ihr, die ihr weilt in Höhen und in Tiefen,
Ich bin ihr selbst, ihr dürft mich nicht beneiden!
Auf mich zuerst trifft jeder eurer Pfeile.
Daß diese Leidverbundenheit nicht nur sozialen, daß sie größeren: metaphysischen Tiefen entwuchs, wurde der Urgrund des Dramatikers. Obersalzbrunn, Hauptmanns Geburtsort, lag unweit der pietistischen Urgemeinden Gnadenfrei und Herrnhut. Ihre christliche Innerlichkeit war ihm daheim und mehr noch im Hause seines Oheims zu Striegau, das den Sechzehnjährigen aufgenommen, zum Lebensgefühl geworden. In ihr fühlte er sich dem Rationalismus und Materialismus, der leeren Kultur des technischen Zeitalters fremd. Aus der Schein- und Außenwelt zog es ihn zur wahren, inneren Welt: zur Welt der Seele. Die aber offenbarte sich ihm nicht bei den Satten, Besitzenden, Hochmütig-Klügelnden, sondern bei den Armen im Geiste, den Ringenden und Leidenden. In ihnen glühte der ewige Funke, und sie eroberten und behaupteten ihn im Sturm und Streit ihres Schicksals, nicht mindere Helden in diesem metaphysischen Kampf als die Heroen der großen Tragödie. Ihnen fühlte sich der Dramatiker Hauptmann verbunden, nicht sozial nur, wie der Epiker Zola seinen Gestalten, sondern metaphysisch. In ihrem Leid stellte er das Weltleid, in ihrem Kampf den Zwiespalt alles Lebens dar.
Die Dramen, in denen so das Stoffliche des Naturalismus und Sozialismus überwunden, in denen diese Weltanschauung Gestalt geworden ist, sind "Die Weber" (1892), "Hanneles Himmelfahrt" (1893), "Fuhrmann Henschel" (1898), "Rose Bernd" (1903).
Der Aufstand der Weber im Jahre 1844 war Hauptmann aus Erzählungen des eigenen Großvaters, der noch Weber gewesen, vertraut. Ein Buch Alfred Zimmermanns "Blüte und Verfall des Leinengewerbes in Schlesien" (1885) gab den persönlichen Einzelheiten geschichtlichen Zusammenhang. Den Antrieb gab die soziale Erregung der Zeit. Aber der Kampf der Weber wurde Hauptmann zum erschütternden Abbild alles Menschheitskampfes.
Wie hier die Fabrikanten und die Kreaturen der Fabrikanten bis zum jüngsten Lehrling den hungernden, verhungernden Webern entgegenstehen, hartherzig, hohnlachend, während die abgemergelten Kinder ohnmächtig zu Boden schlagen, während die entkräfteten Greise verwirrt werden und in Zungen reden, das bedeutet nicht mehr einen sozialen Zwiespalt, der mit Geld und Brot geschlichtet werden könnte, es bedeutet die metaphysische Einsamkeit alles Endlichen, das brückenlose Nichtverstehen und Mißverstehen von Mensch zu Mensch. Und wenn nach not- und arbeitdumpfem Leben, am Rande des Grabes die alten Weber in weinendem, verzweifeltem Ingrimm ihre Knochenarme emporrecken: "Das muß anderscher wer'n, mir leiden's ni mehr!", so ist das nicht der Kampfruf sozialer Rebellion, so ist das die Anklage Karl Moors: "Menschen haben Menschheit vor mir verborgen, da ich an Menschheit appellierte," so ist das der tragische Aufschrei der Rütliszene:
Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht:
Wenn der Gedrückte nirgend Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last, greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
Und holt herunter seine ewigen Rechte...
Der alte Urstand der Natur kehrt wieder,
Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht...
Wie stehn für unsre Weiber, unsre Kinder!
Den Unterdrückten Schillers wird wenigstens das Wort zur Befreiung, der Gedanke zur Erlösung. Hin ist die Kreatur in der ganzen Dumpfheit und Gebundenheit des Endlichen. Und wenn sie anmarschieren gegen ihre Peiniger: "Am liebsten wär ich abgestiegen und hätte glei jed'm a Pulverle gegeben" — erzählt Chirurgus Schmidt, der vorüberfuhr — "Da trottelt eener hinter'm andern her wie's graue Elend und verfiehren ein Gesinge, daß een' fermlich a Magen umwend't"; und wenn der greise Baumert als Rebell erscheint, von den paar Tropfen ungewohnten Alkohols unsicher, einen geschlachteten