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er keine Chance. Warum gilt der eigentlich nicht als Arsch?, fragt sich der Ältere wütend und verzweifelt.

      Nun, auch diese Antwort ist ganz einfach. Der junge Mann ist jünger und sieht besser aus. Das Auge hasst halt mit. Und weil er jünger ist, denken die anständigen Leute, dass der vielleicht noch irgendwie die Kurve kriegt und später nicht so wird wie der Boomer. Wird er am Ende aber leider meistens doch.

       Böse Menschen kennen viele Lieder

      Es ist ein Uhr morgens. Von der Grünanlage neben dem Haus dröhnt elektronische Musik zu uns nach oben in den vierten Stock. Na gut, dann machen wir eben das Schlafzimmerfenster zu. Draußen ist es Sommer, drinnen ist es warm – wir bleiben trotzdem cool. Dit is eben unsa Ballin. Da steppt der Bär nach dem achten Bärenpils schon mal ein bisschen lauter, wa.

      Halb zwei. Im Zimmer ist es heiß. Trotz geschlossenem Fenster ist es zu laut zum Schlafen. Inzwischen ertönt auch hinten auf der Oberbaumbrücke Musik. Unter den Arkaden dort hallt das ganz wunderbar, da bräuchte man eigentlich keine Verstärker. Mit fetzt allerdings noch mehr. Ich stülpe mir das Kissen wie einen Sturzhelm über den Kopf und stelle mir vor, wie ein Streifenwagen nach dem anderen stumm staunend die öffentlichen Lärmquellen passiert. Ruhestörung ist offenbar kein Offizialdelikt. Ruft niemand bei der Polizei an, unternehmen die auch nichts. Finde ich ja eigentlich gut. Schließlich sind wir gar nicht die Bösen. Also bürgerliche Edelwaldschrate, die, sobald nach 22 Uhr auch nur das zarte Stimmchen einer nachtwandernden Elfe ans empfindliche Ohr dringt, nach dem SEK brüllen. Die Kneipentöter, die Clubkiller, die schwarz-grünen Dorfdeppen vom Helmwitzplatz. Von mir aus können die fröhlichen jungen Leute ja draußen bis, sagen wir, Mitternacht rumlärmen. Selbst danach würde ich nicht einfach die Bullen rufen, wie so ein Spießer, für den die Krachmacher uns dennoch halten. Schlafen kann man ihrer Meinung nach noch lang genug, wenn man entweder tot ist oder so alt wie wir – was für die ja sowieso dasselbe ist. Und wer möchte sich schon von Toten, toten Spießern noch dazu, vorschreiben lassen, wo und zu welcher Nachtstunde er Pauke, Signalhorn oder Stalinorgel aufstellt, um frohgemut zu musizieren. Natürlich rufen wir nicht die Bullen. Da sind Petze, Blockwart, Denunziant gefordert. Aber doch nicht wir. Eine Frage muss trotz alledem gestattet sein: Warum kann es immer nur das eine oder andere Extrem geben?

      Zwei Uhr. Am Eingang zur Hochbahn spielt jetzt eine Rockband. Die Gitarre jault, der Bass puckert, das Schlagzeug scheppert. Dazu singt – gemäß meiner aus dem Kontext getroffenen Ferndiagnose – ein Arschloch. Das Arschloch singt laut. Eine hörbar wachsende Menge Schaulustiger jubelt dem Arschloch zu. Das Inferno tobt nun von allen Seiten. Mir wird klar, warum hier keiner die Bullen ruft. Mitten im Tsunami schreit auch niemand nach der Badeaufsicht.

      Halb drei. Betrunkene grölen und werfen mit Flaschen, Glas splittert. Tatütata. Vier Live-Acts werben gleichzeitig um die Aufmerksamkeit eines entfesselten Mobs. Lautes Lachen, Hilferufe und lautes Lachen über Hilferufe. Tatütata. Irgendwer göbelt mit dem Sound eines gepfählten Orks in einen Hauseingang, wahrscheinlich unseren. Wir sind allein mit unserer Verzweiflung und unserer Schlaflosigkeit. Das kann man ja alles niemandem erzählen. Da kämen eh bloß die üblichen Totschlagsprüche wie »Na, wer keinen Lärm aushält, darf eben nicht in der Stadt wohnen« oder »Zieh doch nach Brandenburg zu deinen Nazifreunden«. Was man eben so sagt, wenn man jung ist. Und dumm. Und rücksichtslos und gemein, so gemein, brunzdumm und hundsgemein. Bin ich so nassgeschwitzt, oder sind das alles meine Tränen?

      Drei Uhr. Wir stehen todmüde auf dem Balkon und blicken ungläubig nach unten auf das brodelnde Meer aus zugedröhnten Menschenfeinden. Irres Lachen mischt sich in unser Weinen, als uns die absurdeste Redensart der Welt einfällt: »Böse Menschen kennen keine Lieder.« Denn in Wahrheit kennt keine Personengruppe auch nur annähernd so viele Lieder wie die bösen Menschen. Kaiser Nero, Horst Wessel, Dieter Bohlen. Die Leute denken ja immer gern, klar, Krieg, Folter, Mieterhöhungen – so in etwa sehen sie aus, die klassischen Kernkompetenzen des bösen Menschen –, aber auf die nächstliegende kommen die meisten mal wieder nicht: Lieder.

      Es ist ein unendliches Repertoire; die meisten Texte handeln von Ruhestörung, Rücksichtslosigkeit und dem Wahnsinn lächerlicher Liebesprojektionen. Böse Menschen haben das Lied quasi erfunden. Den Trommelwirbel zur Hinrichtung. Den Takt für die Galeerensklaven. Die Marschmusik. Auf den Schlachtfeldern der Geschichte trommelten eigens aufgestellte Musikkompanien den bewaffneten Kollegen den Rhythmus zum Sterben.

      Halb vier. Jemand muss nun doch die Polizei gerufen haben. Eine Wanne hält an der Kreuzung, meine lieben Freunde, die wackeren Beamten – formerly fälschlich known as »Drecksbullen« –, steigen aus. Sie begeben sich zur U-Bahn-Combo, man sieht Taschenlampen leuchten, kurz verstummt die Musik. Dann gehen sie zurück auf die andere Straßenseite, wo mittlerweile die Wanne geparkt steht. Rotzfrech fängt die Band sofort wieder an zu spielen. Na, ich hoffe, die Wachtmeister holen bloß schnell ihre Waffen.

      Als sie zurückkehren, bin ich enttäuscht. Soweit ich das vom Balkon aus erkennen kann, läuft da unten nur so ein windelweiches Deeskalationsgelaber. Wäre ich der Einsatzleiter, würde ich den Knüppel aber mal im 1/32-Takt tanzen lassen und anschließend den Brei großzügig mit Pfefferspray nachwürzen. Das machen sie doch schließlich schon bei friedlichen Demos, am helllichten Tag und ohne Musik. Warum ist das ausgerechnet hier zu viel verlangt, wo endlich mal ein guter Grund vorliegt? Ich würde sogar noch weiter gehen. Erst eine Salve über die Köpfe hinweg – die hört man auch gut – als allerletzten Warnschuss. Und wenn dann immer noch nicht Ruhe ist: die Bande einfach niedermähen. Die Köpfe der Rädelsführer abschlagen und überall in der Umgebung oben auf Ampeln und Verkehrsschilder stecken, zur Abschreckung. Die Instrumente verbrennen, das Schlagzeug in winzig kleine Teile schreddern. Und natürlich auf die Reste draufscheißen, auf alles und alle gründlich draufscheißen, gähn, bin ich müde.

       Ein Buch mit leeren Seiten

      Jedes Mal, wenn Radfahrer auf dem Bürgersteig für meinen Geschmack zu dicht an mir vorbeifahren, bekommen sie von mir verlässlich ein in die Seite gebrummeltes »Arschloch« mit auf den Weg. Es ist wie ein Reflex.

      Und so habe ich den bewährten Fluch schon auf den Lippen, als sich eine Frau mit einem sperrigen Lasten-Bike, in dem offenbar ihr ganzer Wurf verstaut ist, zwischen mir und einem Baugerüst hindurchquetschen möchte. Doch stattdessen lasse ich sie, wohl aus einer instinktiven Eingebung heraus, stumm passieren, ja trete sogar noch freiwillig ein Stück beiseite. Erst dann erkenne ich in ihr die Freundin einer Kollegin. Ein kurzer Gruß, ein schlampig aufgesetztes Lächeln und weiter. Sie ahnt nicht, welchem Schimpf sie gerade knapp entgangen ist. Puh.

      Umso mehr, da ich in solchen Fällen zu gegenderten Beleidigungen neige. Als eine mir flüchtig bekannte Radiomoderatorin mich mit ihrem Rad mal ohne hinzugucken übel schnitt, entfuhr mir automatisch ein »Och nö, Häschen«. Sie drehte sich kurz um und zwitscherte: »Sorry.« Ich lächelte so säuerlich wie falsch und hegte die begründete Hoffnung, dass sie mich nicht gehört hatte. Andernfalls hätte sie sich ja wohl kaum entschuldigt, weil dann wären wir ja quitt gewesen.

      Man kann das Kind ruhig beim Namen nennen: Das ist nicht korrekt. Ich weiß das natürlich. Ich bin kein Heiliger, auch wenn die meisten das von mir denken, das ist mir schon klar. Für sie bin ich immer nur Ikone, silbergraues Sexsymbol, Liebling der Massen. Die enttäusche ich nun natürlich, doch ich will hier wenigstens dieses eine Mal ehrlich sein.

      Natürlich niemals das F-Wort. Gegenüber Frauen schon mal prinzipiell nicht, und ohnehin wäre das, am Anlass gemessen, ein gewaltiger Overkill. Aber so ein halb ironisches »Häschen« kann mir schon mal entschlüpfen. Das fände ich normalerweise auch nicht so ganz die feine Art, doch genau deshalb mache ich das ja. Wie Jod brennt es erst, bevor es heilt und nützt. Sie merken sich das auf diese Weise Erlernte besser, und ich kann die alte Sau rauslassen – eine klassische Win-win-Situation.

      Vierzigjährigen rufe ich im Wilden Westen des Straßenverkehrs hingegen gerne mal ein »Ach nee, Muttchen« zu, im gespielt gutmütigen Tonfall des in der Routine bitter gewordenen Altenpflegers, denn obwohl oder eben gerade weil auch die mittlerweile

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