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Heute beißen die Fische nicht. Ina Westman
Читать онлайн.Название Heute beißen die Fische nicht
Год выпуска 0
isbn 9783866483903
Автор произведения Ina Westman
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
EMMA
Plötzlich scheint sich der Wind zu legen, es wird ruhig und sonnig, ein wolkenloser Morgen folgt dem anderen, und keine Boote sind in Sicht. In diesem Stadium des Sommers sind die Segler weit draußen, bei Jurmo und Kökar oder den Åland-Inseln. Dort wäre auch Joel am liebsten, wehmütig späht er zum Horizont und geht ruhelos auf der Insel hin und her.
Schließlich bricht er mit Fanni für einen ganzen Tag zum Fischen auf dem offenen Meer auf. Ich selbst rechne mit Gewitter, ich weiß, dass das Wetter überraschend und ohne Vorwarnung umschlagen kann, wir hören uns nicht einmal den Seewetterbericht im Radio an. Ich warne die beiden, zu weit hinauszufahren, aber Joel macht sich nicht die Mühe, mir zu antworten. Zu dem übrigen Proviant im Boot lege ich noch eine zusätzliche Wasserflasche und eine Banane.
Die Kopfschmerzen hämmern wieder mit scharfen Spitzen in meinen Schläfen. Ich setze mich auf die Terrassenstufen und ziehe spontan einen Joint aus der Tasche. Ich habe keine Lust, mich damit im Wald zu verstecken, jetzt, da Fanni weg ist und vor allem Joel mit seiner mürrischen Miene.
Großvater erscheint nach seinem Mittagsschlaf auf der Terrasse, als ich noch rauche. Zuerst will ich den Joint intuitiv ausdrücken, aber dann rauche ich doch ruhig weiter. Die befreiende Gleichgültigkeit ist bereits bis in mein Gehirn vorgedrungen, und die Kopfschmerzen sind bald nicht mehr als ein mattes Rauschen. Ich will mir keine Gedanken machen. Großvater setzt sich neben mich auf die Stufen.
»Ich kiffe gegen die Kopfschmerzen. Das ist das Einzige, das hilft. Hoffentlich stört es dich nicht«, sage ich, nachdem wir eine Weile die Seevögel beobachtet haben, die sich auf einer Klippe scharen.
»Mich stört es nicht«, sagt Großvater ruhig. »Stört es Joel?«, fragt er dann.
»Er hat Angst, dass Fanni es sieht, und will auch nicht, dass sie es weiß. Für Joel ist das natürlich eine Flucht vor den Problemen. Aber er weiß nicht, was es heißt, ständig Schmerzen zu haben. Es ist ein Medikament, das muss auch er einsehen. Ich höre sofort damit auf, wenn es mir irgendwann einmal besser geht. Ich werde davon nicht sonderlich high, aber die Kopfschmerzen werden schwächer. Und aus irgendeinem seltsamen Grund verschwinden auch die Halluzinationen, obwohl es eigentlich umgekehrt sein sollte. Ich habe das Gefühl, dass ich einen klaren Kopf bekomme, wenn ich kiffe, und irgendwie wird auch mein Gedächtnis besser.«
Großvater schmunzelt.
»In den Siebzigerjahren habe ich ein paarmal LSD probiert. Die Erfahrung war so großartig, dass ich damit aufhören musste. Großmutter hat damals ziemlich viel gekifft, das war sehr in Mode. Aber dann kam Joel auf die Welt, und die Party war vorbei. Mit dem Ausprobieren hatte es sich. War bestimmt auch ganz gut so. Vielleicht sehe ich deshalb heutzutage diese Engel. Manchmal spüre ich sie nahe bei mir, aber vielleicht ist das nur ein Nachhall der LSD-Trips. Eine tolle Zeit war das schon, das muss ich zugeben, frei und revolutionär.«
Ich kann dazu nichts sagen. Mit dem eigenen Schwiegervater über Drogen zu reden, ist etwas, das ich mir in meinem früheren Leben und zu Hause nicht hätte vorstellen können. Auf der Insel ist alles anders. Wir befinden uns außerhalb von Gesetz und Ordnung, in unserem eigenen Reich, wo die Normen gewöhnlicher Gespräche und Verhaltensweisen gedehnt werden.
In Ermangelung von Worten biete ich ihm einen Zug an.
»Aha«, sagt er. »Vielleicht sollte ich doch mal.«
Er nimmt ein paar genussvolle Züge. Von Stille erfüllt sitzen wir nebeneinander, weiche Watte hüllt mein Gehirn ein und dämpft das Hämmern so weit, dass es aus meinem Bewusstsein verschwindet. Ich schließe die Augen in der Sonne, hoffe, dass Joel und Fanni lange wegbleiben, lausche dem unablässigen Rauschen der Insel wie einem Atmen: ein und aus. Wir werden von hier verschwinden, aber die Insel wird bleiben. Dieser Gedanke hat etwas Tröstliches, das ist Großvaters Einfluss auf mich. Er ist voller Trost, er ist der Einzige von uns, der noch an das Leben glaubt.
EMMA
Joel überredet mich nach langer Zeit zu einer gemeinsamen Einkaufstour. Normalerweise macht er sich zufrieden summend mit der Einkaufsliste allein auf den Weg, das bedeutet Abwechslung, und er kommt für eine Weile von seiner Familie los, oft ist er den ganzen Tag unterwegs. In den Schären wird er lockerer und sozialer, er kennt alle Einwohner des Dorfes und unterhält sich mit ihnen über das Wetter und über Boote.
Aber jetzt besteht er darauf, dass Fanni und ich mitkommen, er sagt, auch Fanni müsse ab und zu unter Leute und ein Eis essen. Ich willige ein, um einen Streit zu vermeiden.
Das hätte ich nicht tun sollen. Auf dem Weg vom Anleger zum Laden verkrampft sich Fanni, die zwischen uns geht. Schon von Weitem sehe ich eine Familie, deren Mutter uns schiefe Blicke zuwirft. Ich umfasse Fannis Hand fester. Fanni merkt es und blickt zu Boden, sie versucht, so zu tun, als wäre sie unsichtbar.
Ich versuche zu bremsen, aber Joel zieht uns weiter. Der älteste Sohn der Familie schlurft hinter seinen Eltern her, wirft uns einen Blick zu, und ich grüße ihn fröhlich. Er lächelt und sagt hei, sein Lächeln ist übermütig. Seine Mutter dreht sich um und äußert vernehmlich: »Komm jetzt, Lauri, wir spielen nicht mit Negerkindern.«
Wut schäumt in mir auf. Ich halte Fanni weiterhin fest an der Hand und blicke auf Joel, dessen Mund zu einer straffen Linie zusammengekniffen ist.
Dann betrachte ich die Kinder: Sie haben Kartoffelnasen, matte, wimpernlose, tief liegende und kleine Augen, blassrosa Haut und dünnes Haar. Neben Fanni sehen sie mit ihrem anämischen Weiß eigenschaftslos aus, wie aus Hefeteig geformte, unfertige Figuren, bei denen der Künstler die Farben vergessen hat.
Ich schaue Fanni an: dickes, lockiges Haar, große dunkle Augen mit langen Wimpern, runder, schöner Mund und kupferfarbene Haut. Fanni ist ein schönes Kind, selbst ein Rassist kann diese Tatsache nicht leugnen.
Ich atme tief ein und aus, Fanni darf meine Wut nicht bemerken. Sie muss lernen, dass solche Menschen egal sind, sie muss sie ignorieren, über ihnen stehen, jedenfalls solange wir in diesem Land leben. Ich muss ihr mit gutem Beispiel vorangehen. Mit Hass erreicht man nichts, ich muss Großvaters Lehren von der Liebe und der Gelassenheit, die sich auf alles erstreckt, befolgen. Diese Leute sind es nicht wert, von mir gehasst zu werden.
Letzten Endes können diese Kinder ebenso wenig für ihr Wesen und ihren familiären Hintergrund wie Fanni. Es ist nicht ihre Schuld, dass ihre Eltern Idioten sind. Wir alle versuchen, unsere Kinder zu schützen und sie nach unserem eigenen Weltbild zu formen, und glauben dabei auch noch, richtig zu handeln. Aber wer kann das wissen? Wer weiß, welche Farbe die Welt einmal annehmen wird, wer die künftigen Klimakatastrophen überlebt, ob die Grenzen fallen oder zuwachsen, ob Fanni und die sogenannten Arier lernen müssen, einträchtig zusammenzuleben oder in separaten Bunkern und im Krieg gegeneinander?
Es scheint, als gehörte diese blasse Familie mit ihrer glotzenden Mutter einem untergehenden Volk an, um das wir uns eigentlich nicht zu scheren brauchen. Jedenfalls nicht jetzt und auch nicht auf der Insel.
Also streiche ich einem der Kinder übers Haar, seine Mutter zuckt zusammen, als ich es anfasse, vielleicht glaubt sie, ich wollte es schlagen, aber ich lächle das Kind an und sage: »Vielleicht wirst du einmal klüger sein als deine Mutter.«
Joel starrt die Mutter an und sagt vernehmbar zu mir: »Was hier wieder für ein Pack herumläuft.«
Der Familienvater hat sich bereits in den Laden geflüchtet. Als wir hineingehen, versteckt er sich zwischen den Regalen und sorgt dafür, dass er immer anderswo ist als wir. Als seine Frau nicht hinsieht, versucht er mich versöhnlich anzulächeln. Ich wende den Blick ab.
FANNI
Ich hab dich mehr lieb, als ins Universum reinpasst, sagt Fanni beim Angeln zu Großvater. Dann fügt sie hinzu: Aber am meisten lieb hab ich Mama.
Auch ich hab dich unheimlich lieb, antwortet Großvater. Und Mama und Papa muss man am meisten lieb haben, so gehört sich das.
Fanni ist einen Moment still.
Ellen