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Vollmilchschokolade und Todesrosen. Franziska Dalinger
Читать онлайн.Название Vollmilchschokolade und Todesrosen
Год выпуска 0
isbn 9783862567416
Автор произведения Franziska Dalinger
Издательство Bookwire
Wie kann man nur so verlogen sein?
Alles nur Fassade. Nichts an dir ist echt. Merken die anderen das denn nicht? Wie kann man so blind sein?
Webhexe, Blogeintrag vom 12. August
2.
»Da bist du ja endlich, Miriam. Deck schon mal den Tisch, wir essen gleich.«
Ich verziehe das Gesicht und seufze. Da kommt man gerade hundemüde aus der Schule und muss gleich mithelfen. Na toll.
Missmutig knalle ich die Teller hin. Sechs Personen. Ich bin nicht nur mit einem Vater geschlagen, der meistens mittags zu Hause isst, mit einer Mutter, die uns unbedingt gesund ernähren will, sondern auch mit zwei Geschwistern, bei denen es sich mit Abstand um die nervigsten Blagen der Welt handelt. Silas ist neun und hat die dumme Angewohnheit, einen pausenlos vollzuquatschen. Für Tabita mit ihren elf Jahren bin ich leider nicht das große Vorbild – obwohl ich ab und zu versuche, sie dazu zu bringen, dass sie mir gehorcht. Sie denkt jedoch nicht daran. Sie beobachtet mich bloß sehr scharf und ist eine gnadenlose Petze.
Der einzige Lichtblick bei der täglichen Mittagsfolter ist Goliath, ich meine Michael, Papas Praktikant. Er ist lang und dünn, seine Beine passen kaum unter den Tisch, aber irgendwie ist er witzig. Da haben wir schon ganz andere Praktikanten erlebt. Michael kann man auch gut nachmachen. Ich bin inzwischen eine Expertin im Michael-Imitieren.
»Die Messer müssen so liegen, mit dem Scharfen nach innen«, sagt Tabita und vergewissert sich, dass ich auch alles richtig gemacht habe. »Und du hast die Servietten vergessen.«
»Na und? Sonst noch was?«, fahre ich sie an. Ich bin wirklich nicht in bester Stimmung. Der Vorfall nach der Schule geht mir nicht aus dem Kopf. Der kleine Harry oder wie er heißt. Tut er mir leid? Kim würde mit ihrer ätzendsten Stimme sagen: Ach, er tut dir leid, der arme Kleine ... Na so was ... Stimmt, Hendrik war der Name. Aber Harry Potter passt noch besser. Ich bin ganz gut im Erfinden von Spitznamen. Wer braune Haare hat und eine runde Brille, muss sich da echt nicht wundern.
»Na, Miriam, wie war dein Tag?«
Mein Vater poltert herein und wuschelt mir durchs Haar. Ich habe ihm schon tausend Mal gesagt, dass ich das nicht leiden kann, aber es ist zwecklos. Einfach jeder in unserer Familie beharrt auf seinen nervigen Angewohnheiten. Manchmal träume ich davon, Mandys Eltern würden mich adoptieren. Die sind wenigstens cool. Nicht so wie meine. Hände hoch – wer möchte gerne einen Pastor zum Vater? Im Angebot: der wunderbare, unvergleichliche Pastor Manfred Weynard! Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten ... was, wirklich niemand? Die letzte Gelegenheit. Niemand? Ach.
Tja, niemand meldet sich. Ich hätte es auch nicht getan. Aber mich hat ja niemand gefragt, in was für eine Familie ich hineingeboren werden möchte.
»Hi, Miriam.« Michael duckt sich unter der Lampe hindurch. Ein gläsernes Schirmchen hat er bereits auf dem Gewissen. Ich find’s nicht schlimm. Die Lampe ist sowieso potthässlich gewesen, und er ist so süß, wenn ihm etwas peinlich ist. Dann wird er knallrot. Sogar sein Ziegenbärtchen fängt an zu glühen. Sehenswert. Gut, dass ich nicht die Einzige bin, der es so geht. (Aber schlecht, dass das Rotwerden nicht unbedingt aufhört, wenn man erwachsen ist. Das muss doch irgendwann besser werden!)
Wir setzen uns an den Tisch. Silas beginnt mit seinem Redeschwall, Tabita weist mit penetrant lauter Stimme daraufhin, dass ich die Messer falsch hingelegt habe. »Wir beten«, bestimmt mein Vater und spult sein Lieblings-Tischgebet herunter. »Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast, und segne, was du uns gegeben hast. Amen.«
»Es heißt aber eigentlich: was du uns bescheret hast«, verbessert Tabita. »Und Onkel Johannes sagt immer: aus Gnaden. Was du uns aus Gnaden bescheret hast.«
»Onkel Johannes hat ein Motorrad«, weiß Silas und beglückt uns mit seinen Zukunftsplänen, in denen er ein Profi-Motorradfahrer ist. Papa und Michael setzen ein Gespräch fort, das sie im Büro begonnen haben – irgendwas mit dem Gottesdienst am nächsten Sonntag.
Ich konzentriere mich auf meinen Teller und versuche, den Geräuschpegel auszublenden, aber als ich irgendwann doch hochsehe, begegne ich dem Blick meiner Mutter. Sie lächelt.
»Na, Miriam, wie ist es mit der Englisch-Arbeit gelaufen?«
Ich zucke die Achseln. »Geht so.«
»Hattest du nicht geübt?«
»Let’s speak English together«, schlägt Michael vor. »What about an English – äh, Predigt, on Sunday?«
»Sermon«, meint Tabita. »Oh Mann, ich bin erst elf und ich kann besser Englisch als du.«
»Then you may help me.«
»Oh wie schrecklich«, stöhnt sie. »Du bist ein hoffnungsloser Fall, Michi.« Sie ist die Einzige, die ihn Michi nennt. Die meisten anderen finden wohl, dass ein Mann, der zwei Meter misst, auch einen eindrucksvollen Namen verdient.
Aus diesem Grund nenne ich ihn Goliath, wenn er nicht dabei ist.
»Ich kann auch Englisch«, ruft Silas dazwischen und beginnt, alles in seiner Reichweite zu benennen, wobei Tabita ihn ausdauernd verbessert.
Es nützt nichts, schneller zu essen als die anderen. Papa erwartet, dass wir sitzen bleiben, bis alle fertig sind. Danach werde ich dazu verdonnert, die Spülmaschine einzuräumen – warum eigentlich immer ich? Kann mir das jemand mal verraten? –, und dann ist es endlich vorbei.
Mehr oder weniger.
Nicht einmal in meinem Zimmer habe ich wirklich Ruhe. Silas hört Musik, Tabita übt Klarinette, und mein kleines Reich liegt natürlich genau dazwischen. Wieder einmal bereue ich, dass ich mir diesen Raum habe aufschwatzen lassen, nur weil er ein bisschen größer ist als die anderen. Ich hätte lieber die Kammer auf dem Dachboden nehmen sollen, die urgemütlich ist und weit weg vom Rest der Familie. Aber die hat jetzt meine Mutter und benutzt sie für ihr Mittagsschläfchen. Echt ungerecht ist das – schlafen kann man bei mir jedenfalls nicht. Es ist nur zu ertragen, wenn man sich Stöpsel in die Ohren steckt. Mama will nicht, dass ich die benutze – sie meint, man könnte davon schwerhörig werden. Ach ja, Mama mit ihrem Gesundheitsfimmel. Sie ist, wen wundert’s, natürlich auch gegen Handys. Wegen der Strahlung und so. Ich war die Letzte in der Klasse, die eins bekommen hat. Dafür habe ich eins, das wasserdicht ist und als Taschenlampe benutzt werden kann. Papa fragt mich manchmal, ob ich die Kerzen damit anzünden kann oder ob auch eine Nagelfeile dabei ist. Das findet er überaus witzig. Aber man kann mit meinem Handy tatsächlich auch telefonieren.
»Messie? Bist du da?«
»Klaro. – Was?«
Selbst meine Mutter kann nicht verhindern, dass ich mit meinen Freundinnen wichtige Gespräche führe – aber meine Geschwister leider schon. Nicht Handys sind schädlich. Kleine Brüder und Schwestern sind viel gefährlicher für die Gesundheit. Wegen dieser Blagen werde ich irgendwann noch einen Nervenzusammenbruch kriegen. Ich kann Mandy bei dem schrillen Gepiepse, das Tabita mit ihrer Klarinette veranstaltet, kaum verstehen.
»Was? Moment mal.« Ich hämmere gegen die Wand. »Ruhe da! – So, was ist?«
»Wir treffen uns gleich«, sagt Mandy. »Im Park.«
»Ich kann nicht«, gebe ich zu. »Muss noch Hausaufgaben machen.«
»Ich hab meine schon längst fertig.« Das liegt nicht etwa daran, dass sie superschlau ist, sondern dass sie sich ihre Hausaufgaben immer von Steffi machen lässt. Steffi ist die Schnellste von uns vieren, was das Lernen angeht. Kim macht sowieso nie etwas, aber Mandy ist schon einmal sitzengeblieben und will auf keinen Fall, dass das noch mal passiert. Sie will mit mir und Steffi aufs Gymnasium wechseln, nach diesem