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selbst gesehen, wie ich damals, hilflos und starr vor Angst, immer nur gehofft habe, dass es bald vorbei ist.«

      Ella wandte den Blick nicht von ihrem Mann, sie hielt seine Hand, während sie versuchte, ruhig weiter zu atmen. Aber wie atmete man ruhig, wenn einem eine unsichtbar Hand aus Eisen die Kehle zusammendrückte?

      »Man könnte nun denken«, fuhr Florian nach einer Weile fort, »dass meine Mutter und ich zusammengehalten hätten, gegen ihn, aber so war das nicht: Sie liebte ihn – oder jedenfalls hielt sie ihre Gefühle für ihn für Liebe, also hat sie alles getan, um ihm zu gefallen. Ab und zu war er deshalb nett zu ihr, und dann war sie ein paar Tage lang glücklich.

      Zu mir war er nie nett. Ohne Ausnahme nie. Und meine Mutter war es auch nicht. Im Gegenteil, oft hat sie mich beschuldigt, dass ich meinen Vater gereizt hätte und deshalb die Schuld an seinen Ausfällen trug.

      Und eines Tages war er dann weg. Er hatte uns verlassen. Statt erleichtert zu sein, dass unser Martyrium zu Ende war, gab meine Mutter mir die Schuld, und von da an war sie es, die mir das Leben zur Hölle machte. Zwar schlug sie mich nicht, wie er, aber an jedem einzelnen Tag machte sie mir klar, dass sie mich für ihr Unglück verantwortlich machte und ich ihr deshalb eine Last war. Immer wieder hat sie mir gesagt, wie froh sie wäre, wenn ich endlich aus ihrem Leben verschwände.

      Ich muss etwa zehn gewesen sein, als sie selbst anfing zu trinken, und von da an wurde es noch schlimmer, denn nun wandelte sich ihre Liebe zu meinem Vater in blanken Hass, und auf einmal war sie überzeugt, dass ich werden würde wie er. Es verging kein Tag mehr, an dem sie mir nicht eingebläut hat, dass ich nichts tauge und dass ich bloß nicht auf die Idee kommen solle, meine schlechten Gene an eigene Kinder weiterzugeben.«

      Abgründe taten sich vor Ella auf, während sie ihrem Mann zuhörte. Sie konnte nicht fassen, dass er ihr das alles erst jetzt erzählte.

      »Ich bin gegangen, sobald ich die mittlere Reife hatte, da war ich sechzehn. Trotz allem war ich nämlich ein guter Schüler, weil die Schule für mich so etwas wie das Paradies war. Andere haben sich über ungerechte oder gemeine Lehrer aufgeregt, ich konnte darüber nur müde lächeln, und habe oft gedacht: Wenn ihr so leben müsstet wie ich, würdet ihr euch über die Schule nicht beklagen.

      Immerhin in einem Punkt hatte ich Glück: Ich hatte eine tolle Klassenlehrerin, die an mich geglaubt hat. Sie war die Einzige, die geahnt hat, wie es bei uns zu Hause zuging. Sie hat mir jedenfalls geholfen, die Schule abzuschließen. Danach habe ich ihr genug erzählt, um sie davon zu überzeugen, dass sie die gesetzliche Vormundschaft für mich übernimmt. Ich hätte gern studiert, aber dann hätte ich noch zwei Jahre länger zur Schule gehen müssen, das wollte ich nicht. Außerdem fehlte es mir natürlich an Selbstbewusstsein.

      Und dann hatte ich noch einmal Glück: Ich habe eine Lehre in einer Autowerkstatt bei einem Mann gemacht, mit dem ich mich von Anfang an gut verstanden habe. Er ist dann gestorben, aber bei ihm habe ich so viel gelernt, dass ich nach der Ausbildung keine Probleme hatte, eine gute Stelle zu finden. Aber das weißt du ja, denn dann sind wir uns ja schon bald begegnet.«

      »Und deine Mutter? Ist sie wirklich gestorben?«, fragte Ella.

      »Ja, ein Jahr, bevor ich dir begegnet bin. Ich konnte nicht um sie trauern, und ich habe andere Leute gebeten, ihre Wohnung auszuräumen. Es war mir unmöglich, dorthin zurückzukehren. Von da an habe ich versucht, alle Erinnerungen an die Zeit mit ihr und mit ihr und meinem Vater einfach auszulöschen.«

      »Aber das ist dir nicht gelungen.«

      »Nein, es ist mir nicht gelungen, die Vergangenheit hat mich immer wieder eingeholt.«

      Florian schloss die Augen. Es hatte ihn angestrengt, so lange zu reden, aber zugleich fühlte er sich von einer großen Last befreit. Aber etwas musste noch gesagt werden. »Ich liebe dich, Ella, von ganzem Herzen, das musst du mir glauben.«

      Sie küsste ihn. »Aber das weiß ich doch, Liebster.«

      Er schlief ein, aber sein Gesicht wirkte wie verwandelt: Da war keine Spur von Anspannung mehr, von Unruhe, Angst und Verzweiflung. Selbst die Falten zwischen Mund und Nase schienen weniger scharf geworden zu sein, und seine Mundwinkel zeigten im Schlaf nach oben.

      Als sie sich das Kind vorstellte, das er einmal gewesen war, liefen ihr Tränen über die Wangen. Zugleich fühlte auch sie sich ruhig und zuversichtlich. Sanft strich sie über seine Wange und seine Stirn. Sie würden Zeit brauchen, sie und er, bis die Wunden der Vergangenheit verheilt waren, aber zum ersten Mal seit längerer Zeit glaubte sie wieder daran, dass sie es schaffen konnten.

      *

      »Gute Neuigkeiten?«, fragte Antonia, als sie ihrem Mann einige Tage später einen Besuch in seinem Büro abstattete, nachdem sie mit Britta Stadler die neuen Pläne für ihre Praxis durchgegangen war.

      »Herr Ammerdinger ist bereit, sich einem Psychologen anzuvertrauen«, berichtete Leon. »Seine Frau ist überglücklich, wie du dir vorstellen kannst.«

      Sie kannten Florian Ammerdingers Geschichte mittlerweile, denn der junge Mann hatte sie noch ein zweites Mal erzählt. »Sie haben ein Recht darauf, Sie beide«, hatte er zu Antonia und Leon gesagt, »und meine Frau hat gemeint, es würde mir gut tun, sie auch Ihnen anzuvertrauen.«

      Sie waren beide erschüttert gewesen, als er seinen Bericht beendet hatte, und seitdem hatte Antonia ihm jeden Tag einen Besuch abgestattet.

      »Ich war gerade bei ihm«, sagte sie jetzt mit einem Lächeln, »aber er hatte Besuch, da bin ich wieder gegangen.«

      »Bisher hat ihn nur seine Frau besucht, so viel ich weiß, er wollte das so.«

      »Peter Stadler war bei ihm, und ich kann dir verraten, dass die beiden sich sehr angeregt darüber unterhalten haben, ob Florian Ammerdinger ein guter Vater sein kann oder nicht.«

      »Das glaube ich dir nicht, Antonia!«

      »Es stimmt aber. Peter Stadler ist­ ein bemerkenswerter Junge, schließlich ist unsere Kyra ein bisschen in ihn verliebt, wie du weißt, und das will schon etwas heißen. Er hat jedenfalls ziemlich logisch dargelegt, dass ein Mann, der einen elfjährigen Jungen vor vierzehnjährigen Rüpeln rettet und es dann noch schafft, Ruhe und Gelassenheit zu verbreiten, ziemlich gute Voraussetzungen dafür mitbringt, zumindest ein akzeptabler Vater zu werden. So ungefähr hat sich das angehört, was ich aufschnappen konnte. Herr Ammerdinger schien durchaus nicht abgeneigt, dem Jungen zu glauben.«

      Es klopfte kurz, dann wurde die Tür auch schon geöffnet, und Ella Ammerdinger stürzte herein. Sie umarmte erst Antonia, dann Leon und rief: »Das musste jetzt einfach sein, weil ich so glücklich bin. Und Sie beide haben sehr viel zu meinem Glück beigetragen. Bitte, entschuldigen Sie die Störung!«

      Und weg war sie wieder. Moni Hillenberg erschien an der Tür. »Sie war zu schnell«, sagte sie, »tut mir schrecklich leid, dass sie hier einfach so hereingeplatzt ist.«

      »Das war völlig in Ordnung!«, erwiderte Leon mit breitem Lächeln.

      Als die Sekretärin die Tür wieder geschlossen hatte, fragte Antonia: »Und? Glaubst du mir jetzt?«

      »Ja, und ich möchte diesen Peter Stadler bald einmal kennenlernen.«

      »Ich schätze, das wird sich machen lassen«, lachte Antonia.

Cover Angriff am Nachmittag

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