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hörte man vom Kirchturm aus dem Dorf die Uhr schlagen. „Zehne, Vater!“

      Die letzten Gäste brachen auf und zogen singend durch die stille Sommernacht heim. Herr Lemke schloß die Gartentür, drehte die trübe brennenden Lampen aus und kam ins Haus. In der Gaststube stand seine Frau, einen Leuchter in der Hand, und starrte vor sich hin. Jetzt hob sie den Kopf und sagte: „Vater, Willem is nich da!“

      Herr Lemke kniff das linke Auge zusammen und zielte mit dem andern starr auf seine Frau. So stand er einen Augenblick unbeweglich, dann nahm er ihr plötzlich den Leuchter weg und stieg die Bodentreppe hinauf. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder herunterkam. Schweigend stellte er den Leuchter hin und begann, hinter dem Ladentisch stehend, Kasse zu machen. Seine Frau war auf einen Stuhl gesunken, die Hände lagen ihr schlaff im Schoß.

      „Vater – –?“ sagte sie.

      Er machte eine ärgerliche Kopfbewegung, weil er sich verrechnen konnte, wenn er jetzt auf ihre Frage einging, und zählte weiter. „So, det stimmt so unjefähr“, die Spannung in seinem Gesicht ließ nach, „also hat er bloß die Sparbüchse von sich mitjenommen!“ Er schob das Geld in einen Leinwandbeutel und sagte: „Na, nu komm man, Mutta, nu woll’n wa man schlafen jeh’n!“

      „Ick – kann – nich schlafen“, sagte Frau Lemke, sie schluckte und würgte und wischte sich die Tränen mit der Hand ab, „ick hab’ doch so jut mit’n jeredet und ihm noch meen Schnupptuch jejeben!“

      „Da wird er sich die Aussteier ’rinjeknippert haben“, sagte Herr Lemke, „hör’ man uff mit die Heulerei, det hat nu keen Zwech mehr. Wenn’t Jeld alle is, wird er schon wiedakommen, denn schmeiß ick’n aba ’raus!“

      „Vater, wie kannste so reden“, sagte Frau Lemke, „hätt’ste det von unsen Willem jedacht?“

      „Ja, Mutta, du bist aber ooch dran schuld, wie kannste’n da oben schlafen lassen! Du hast immer jetan, als müßt’ er sich bei dir noch an’n Rockzippel festhalten!“

      „Nu, jib mir man die janze Schuld, ick jloobe ja noch nich, det er wech is, vielleicht will er uns bloß’n Schreck injagen. Wo soll er denn ooch hin mit die paar Talers!“

      „Wenn ihn det Meechen in die Mache hat, det is ’ne Kanalje, die denkt sich, wir werd’n schon kleen beijeben, die spekuliert uff dein weeches Herz. Aber se soll sich jeschnitten haben, ick rühr’ keenen Finger, und wehe dir, Mutta, wennste etwa hinter meen’ Rücken wat anfängst. Loofen lassen, det is det richtje, imma loof, loof mit die Karline, ihr werdet eich schon dicke kriejen!“

      Immer mehr redete sich Herr Lemke in Wut hinein. Sein Gesicht war braunrot geworden. Nun drehte er die Lampe über dem Schanktisch aus, nahm den Leuchter und ging vorneweg. „Schlafen jehen, wer weeß, wie morjen die Jeschichte aussieht, heite kann ick mir nich mehr ärjern, sonst platzt ma die Jalle!“

      „Zur unterirdischen Tante“

      In der Ackerstraße, im äußersten Norden Berlins, betrieb Anna Zanders Tante eine Kellerwirtschaft. Frau Puhlmann war eine schiefgewachsene kleine Person mit kümmerlichem grauen Scheitel und einem roten Wolltuch um den Hinterkopf.

      „Scheene Jeschichte det“, sagte sie, als ihr Anna alles erzählt. „Und wo is er denn nu?“

      „Draußen wart’t er!“

      „Na, wat heeßt denn det, se werden dir’n stehlen, deen’ Willem, den tu’ dir man in de Kommode und heb’ dir’n uff oder laß’n for Angtreh sehen, det scheint mir ja der richt’ge Held zu sind!“

      „Tante, wenn du so anfängst, zieh’ ick sofort wieder Leine. Desterwejen bin ick nich herjekommen! Du kannst froh sind, wenn du mir in die Wirtschaft hier kriest!“ „Ja, dir!“

      „Und Willem gehört zu mir, et is imma jut, wenn ’ne Mannsperson bei is, hier bei die Sorte, wo alle Oojenblicke mal Krach is!“

      „Ja, wo soll ick eich denn aba untabringen, wa können doch nich alle drei in die kleene Kamurke schlafen!“

      „Nee, det jenierte mir ooch, aber in die Loschiestube!“

      „Det jeht nich!“

      „Na, wa’m soll denn det nich jehn? Jeht allens, wenn man bloß will. Natürlich krieste deen Jeld!“

      „Ach so, wa’m hasten det nich jleich jesagt, na, denn hol’n man ’rin, aber laß’n nich fallen!“

      „Tante, ick sag’s dir noch ma’, laß det sind, koppschei derfsten nich machen!“ Sie klopfte an die Fensterscheibe und winkte Wilhelm herein. Dann stellte sie vor: „Jestatte, liebe Tante, meen Breitjam Willem Lemke – –! Lieber Willem, meene Tante Marie!“

      „Na – det is sehr feierlich, wat, Herr Lemke,“ sagte Frau Puhlmann, „aber meene Nichte is von kleen uff so jewesen – immer jroßartig, det hat se jeerbt – von ihre Mutta – die war ooch immer for det Jroßkotzige. Uff mir wirkt det imma ansteckend, also wenn ick bitten derf, nehmen Se jefälligst Platz – womit kann ick dienen, meene Herrschaften, denn ihr werdet woll mächtjen Hunger hab’n?“

      „Tante, laß doch det Affentheata“, sagte Anna mit einem verweisenden Blick, „natürlich haben wa Hunger, det Jeschleppe mit den Korb! Wenn uns der Kutscha nich mitjenommen, krauchten wa womöglich noch draußen ’rum!“

      Als die Tante hinter den Schanktisch ging, faßte Anna Wilhelm um die Schulter: „Na, dir is woll noch ’n bisken bammlich? Det vazieht sich, morjen früh is allens wech! Und denn kannste je deene Eltern schreiben, wo du bist. Und nu jräm dir nich, Willem, und jib ma etwa keene Schuld, det is allens so von alleene jekommen. Et is sehr gut, dette nu lernst, uff eejene Beene zu stehen, du wärst sonst ewich ’n Schlappschwanz jeblieb’n. Det sag ick dir!“

      Nachher, als sie die Bouletten und die Soleier gegessen hatten, wurde die Quartierfrage nochmals besprochen.

      „Du brauchst dich wahrhaftig keene Umstände zu machen, Tante, du hast deene Kamurke, Willem nimmt die Loschiestube, und ick weeß schon, wo ick bleibe. Ick werd’ dir noch deen Bette beziehn, Willem - Tante, jib man die Blaukarierten ’raus, un denn wollen wir machen, det wa in die Posen kommen, sonst knick’ ich um!“

      Wilhelm hatte gleich am nächsten Tage an seine Mutter geschrieben und auf Antwort gehofft, aber zwei Wochen waren seitdem vergangen, ohne daß ein Brief eingetroffen wäre. Heimlich hatte er ganz fest damit gerechnet, daß die Mutter kommen und ihn und Anna zurückholen werde; nun, als es nicht geschah, erbitterten sich seine Gedanken, und das half ihm über die Traurigkeit und den Trennungsschmerz hinweg. In der ersten Zeit glaubte er, sich gar nicht in die neue Umgebung einleben zu können; der dunkle Keller, die engen Räume und Tante Maries Wesen bedrückten ihn.

      Aber Anna ließ ihm keine Zeit zum Kopfhängen, er mußte ihr fortwährend zur Hand gehen. „Det is keen Betrieb hir, Tante“, hatte sie gesagt, „hi muß feste Zuch hinter jemacht werden, sonst vaschimmeln wir allesamt in det Kellerloch. So kommen wir uff keenen jrienen Zweich, wenn hi abends zwee, drei sonne ollen Bowken sitzen und an ihre Neeje nippen. Wozu jibt’s denn hi Bier, die Jäste müssen Durscht kriejen. Außerdem, Tante, wie sieht det von draußen aus, mit die roten Kattunvorhänge und die bekleckerte Wand, da traut sich ja keen Mensch ’rin, denkt jeder, et is ’ne Reiberhöhle. Und denn, Tante, det Kind muß doch ’n Namen haben, die Leute müssen doch wissen, wo se hinjehören. Da müssen wa uns ’mal alle drei hinsetzen und wat Feines ’rausknobeln. ‚Zur Tante Marie‘ oder ‚Zun strammen Willem‘ oder so wat Ähnliches, det zieht! Ooch mit die Soleia und die Buletten, Tante, det is doch nischt, wer soll denn det jeden Tach hintakriejen, da verjeht ee’n ja der App’tit. Nee, der Jeruch muß jleich jeden in die Neese fahren - saura Hering, oder ooch Heringssalat, oder Kartoffelpuffa, und Sonntags machen wa ’mal Schweinebraten oder Jänsebraten, und jeben ’ne ordentliche Portsjon, det die Jäste denken, se kriejen’s immer so!“

      Und so sehr sich Tante Marie auch gegen diese Reformen wehrte, weil sie tief in den Beutel fassen mußte, schließlich gab sie doch nach, denn Anna ließ keine

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