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Ernährungsberichte einzelner Länder (der Ernährungsbericht Deutschland 2008 kann über die Deutsche Gesellschaft für Ernährung – www.dge.de – oder den Buchhandel bezogen werden) benutzen in vielen Bereichen das Zahlenmaterial der OECD. Sieht man sich die englischsprachige Zusammenfassung der Studie „Obesity and the Economics of Prevention“[2] an, in welcher Daten aus der ganzen Welt in Grafiken gegossen wurden, fällt auf, dass in den Diagrammen, wo einmal die Erwachsenen und ein anderes Mal die Kinder aus der ganzen Welt verglichen werden, ein buntes Gemisch aus Jahreszahlen zwischen 2003 und 2009 anzutreffen ist. Die Datensätze unterschiedlicher Jahre stehen sich gegenüber. Ist es so egal, ob die Daten in sechs unterschiedlichen Jahren erhoben wurden? Stammen sie wenigstens aus den gleichen Quellen?

      Wurde denn in allen genannten Ländern der gleiche Prozentsatz der Bevölkerung aus allen Schichten, Altersgruppen, Landesteilen zur gleichen Tageszeit (am besten nüchtern morgens) ohne Kleider und Schuhe gemessen und gewogen? Das ist weder aus den Diagrammen noch aus dem Begleittext ersichtlich. Von der OECD selbst stammt nur ein Teil der Daten.

      Andere Studien stützen sich auf von den Befragten genannte Daten oder mischen diese mit gemessenen Werten. Dabei stellt sich die Frage der Zuverlässigkeit der Daten. Von den Befragten Genanntes kann geschönt sein; eine Vermischung verschiedener Erhebungsarten kann das Ergebnis ebenfalls verfälschen. So haben beispielsweise zwei Sozialwissenschaftler aus Bremen für einen Artikel im Fachblatt „Gesundheitswesen“ unter anderem die Daten des Bertelsmann-Gesundheitsmonitors benutzt, für den Menschen nach Zufallsprinzip ausgewählt am Telefon von Infratest auch nach Größe und Gewicht befragt wurden. Da solche Angaben mit Vorsicht zu genießen sind, wurden zur Sicherheit alle Befragten drei Zentimeter geschrumpft und zweieinhalb Kilo schwerer gerechnet. Auf diese Weise wurden die Deutschen so übergewichtig, dass Europa von der IOTF (International Obesity Task Force) für die EU aufgefordert wurde, Gelder bereitzustellen, damit der Trend zur Fettleibigkeit umgekehrt werden könnte.[3]

      Wie ernst sind die Warnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) betreffend des „Killers Nr.1“ – gemeint ist das Übergewicht – zu nehmen? Der erste Aufschrei dazu ertönte 1997 in Genf, wo sich eine Expertengruppe der WHO traf, um die BMI-Grenzen[4] festzulegen. Nur wurden diese nicht ausgewürfelt, sondern von einer Arbeitsgruppe vorbereitet, welcher der IOTF angehörte. Heute ist der IOTF Teil der IASO (International Association for the Study of Obesity) und der IOTF-Gründer Philip James wurde Vorsitzender der IASO, deren Etat zu zwei Drittel von Phramaunternehmen gesponsort wird. Mehr noch, für zwei dieser Unternehmen führte Philip James Untersuchungen für Diätmittel durch, die Studien fielen überragend positiv aus. Als Folge der von diesen WHO Experten 1997 festgelegten BMI-Werte, wurden ein Jahr später mit einem Schlag 35 Millionen US-Bürger übergewichtig, denn zuvor galten dort höhere Grenzwerte. Die Veränderung dieser Werte und die damit gestiegene Zahl der übergewichtigen und fettleibigen Amerikaner sorgte für Schlagzeilen und in der Folge für einen erhöhten Bedarf an Schlankheitsmitteln.

      Das ist nicht das einzige Beispiel von Verquickung zwischen Wissenschaftlern und Pharmaindustrie in den USA. So geht z. B. eine Studie der Obersten Gesundheitsbehörde der USA aus dem Jahre 2004 auf einen Wissenschaftler zurück, der finanzielle Unterstützung durch gleich mehrere Unternehmen genießt, welche der Abnehmindustrie zuzuordnen sind. Bezeichnenderweise wurde in dieser Studie das Übergewicht zur vermeidbaren Todesursache von 400.000 Menschen pro Jahr erklärt. Obwohl die Studie im Jahr darauf wegen schwerer mathematischer Fehler und veralteter Daten für nichtig erklärt werden musste, findet sich diese abschreckende Zahl auch Jahre danach noch in Artikeln,[5] die sich um Ursachen und Folgen von Übergewicht drehen.[6] Häufig werden Berichte in Medien des Effektes wegen so formuliert, dass man glauben könnte, jeder mit nur einem Kilo über einer gewissen Grenze wäre mit schwer adipösen Menschen gleichzusetzen, was die negativen Auswirkungen betrifft.[7]

      Bedenklich finde ich die im OECD Bericht angepriesene Wirksamkeit von kombinierten Maßnahmen gegen Übergewicht. Diese Maßnahmen (z. B. Gesundheitserziehung, Gesundheitspromotion, Steuerregulationen und Lebensstil-Beratungen durch den Hausarzt) könnten angeblich allein in Japan jährlich 155.000 Menschen vor dem Tod durch chronische Krankheiten – welche das sein sollen, wird nicht gesagt – retten. In England müssen 70.000 Menschen abspecken, wollen sie nicht an einer chronischen Krankheit sterben und in Mexiko 55.000. Überspitzt formuliert: Wenn Sie also einen BMI über 24 haben, gehen Sie zum Arzt, der Ihnen laut OECD vor allem zu einer Lebensstiländerung raten soll, damit Sie nicht an egal welcher chronischen Krankheit sterben.

      Offenbar ist den Verfassern des OECD-Papiers die bemerkenswerte Untersuchung von Katherine Flegal des staatlichen Centers for Disease Control and Prevention in Atlanta entgangen, welche erstaunlicherweise belegen konnte, dass Menschen mit einem BMI zwischen 25 und 30 länger leben, als „Normalgewichtige“. Menschen mit Adipositas (BMI zwischen 30 und 35) sterben nicht früher als besonders dünne Menschen mit einem BMI unter 18,5.[8]

      Warum so unterschiedliche Ergebnisse? Weil es sich auch mit Blick auf ein Sterberegister nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen lässt, woran diese Menschen tatsächlich gestorben sind. Die auf dem Totenschein eingetragene Todesursache basiert ja nur in den wenigsten Fällen auf einer Autopsie. Zudem müssen Untersuchungen andere Faktoren mathematisch herausfiltern, die auch Einfluss auf die Lebenserwartung haben können, wie Rauchen, Geschlecht und Sozialstatus. Da es keine einheitliche Formel dafür gibt, erhalten unterschiedliche Forscher beim gleichen Datensatz unterschiedliche Endergebnisse, je nachdem wie die Faktoren mathematisch gewichtet wurden. So kann, wenn der Forscher es auf die Spitze treiben will, das übergewichtige Opfer eines Verkehrsunfalls in einem Zahlentopf landen, der angeblich belegt, dass Übergewicht allein schon zu frühem Tode führt. Eines ist auf jeden Fall belegt: Die Menschen leben aller Warnungen zum Trotz selbst mit Übergewicht länger. Betrug die Lebenserwartung für Frauen 1980 noch 77,2 Jahre, so liegt sie laut der Sterbetafel 2008/2010 des Statistischen Bundesamtes Deutschland bei 82,59 Jahren, bei Männern stieg im gleichen Zeitraum die Lebenserwartung von 69,6 auf 77,51 Jahre.[9]

      Je nachdem welche Studie ich also lese, welchem Wissenschaftler und welchen Methoden ich eher vertraue, kann ich sehr unterschiedliche Daten und Schlussfolgerungen finden.

      Doch wie sieht es in der alltäglichen Praxis aus? Mit welchen gesundheitlichen Folgen von Übergewicht und besonders von Fettleibigkeit auf die Gesundheit werden Ärzte tatsächlich gehäuft konfrontiert? Fragen wir einen Facharzt, der tagtäglich auch Patienten mit schwerer Adipositas behandelt:

      Fragen an ...

      ... den Internisten Dr. med. Stephan Dertinger, Teil 1:

      Gibt es erblich bedingte Faktoren, die für Übergewicht mitverantwortlich sein können?

      Ja, das gilt vor allem für diejenigen, deren Übergewicht eine endokrinologische, also eine hormonbedingte Ursache hat. In den betroffenen Familien treten dann immer wieder dieselben Syndrome auf.

      Generell gilt, dass Übergewicht zu einem guten Teil vererblich ist. Das heißt: Dicke Eltern haben oft dicke Kinder. Dabei lässt sich sicher nicht pauschal beurteilen, ob die Genetik oder das Umfeld die Hauptrolle spielt, ob also die Kinder das ungesunde Essverhalten der Eltern lediglich kopieren.

      Was ist „viszerales Fett“ und wie kann es zuverlässig gemessen werden?

      Zuverlässige Messmethoden für viszerales Fett, also jenes Darmfett, das sich an der Darmaufhängung befindet, gibt es nicht. Doch über den Bauchumfang lassen sich darauf Rückschlüsse ziehen: Die sogenannte „Apfelform“, der männliche, bauchbetonte Fettverteilungstyp, hat einen erhöhten viszeralen Fettanteil. Dieser Typus kann auch bei Frauen auftreten. Daneben gibt es auch den spezifisch weiblichen Fett-Typ, die sogenannte „Birnenform“, bei dem das Fett vor allem an Hüfte und Oberschenkel sitzt. Das ist der metabolisch, also auf den Stoffwechsel bezogen, unbedenklichere Fett-Typ. Der Bauchumfang gilt neben Computer- und Kernspintomographie als zuverlässigere Methode als der Body-Mass-Index (BMI), um auf viszerales Fett Rückschlüsse zu ziehen.

      Welche Krankheiten können ausschließlich auf Übergewicht zurückgeführt werden?

      Fast

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