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      Der Geistliche Rat begab sich sofort zur Oberin; kurz vor Beendigung der Unterrichtsstunde trat Schwester Clementina wieder ein und sagte:

      „Herr Seminarlehrer, die Frau Oberin lässt Sie sogleich zu sich bitten!“ —

      Maria war viel zu sehr mit den Gewohnheiten des Klosters und dem Lehrplan des damit verbundenen Seminars vertraut, als dass sie nicht schon nach den ersten Lehrstunden Thomas Försters mancherlei Besorgnisse gehegt hätte. Der Konflikt zwischen der Oberin und dem Superior auf der einen und diesem freien Lehrer auf der anderen Seite musste zu Ungunsten des letzteren entschieden werden, denn er konnte nirgends gegen seine machtvolle Gegnerschaft Unterstützung finden. Maria Stilke meinte allerdings, dass seine weltlichen Vorgesetzten die Art seiner Lehrtätigkeit billigen müssten.

      Dem war aber nicht so.

      Nachdem sich zwischen der Oberin und Thomas Förster ein kurzer, heftiger Auftritt abgespielt, wurde ihm erklärt, dass man auf seine weitere Lehrtätigkeit im Kloster verzichte.

      Der Geistliche Rat war aufs Äusserste empört. Er hielt es nicht nur für seine Pflicht, dem weltlichen Seminar gegenüber diese Entlassung, die dort den Eindruck einer einseitigen klösterlichen Lehrtätigkeit erwecken konnte, zu rechtfertigen, sondern auch alles aufzubieten, die Schüler und Schülerinnen des, weltlichen Seminars vor einem Lehrer zu bewahren, der atheistische Grundsätze entwickelte und eine förmliche Anarchie in den Schulplan des Seminars zu tragen wagte.

      Der ausführliche Bericht, den er an den Seminardirektor sandte; veranlasste diesen, nicht nur Thomas Förster selbst sehr ausführlich zu vernehmen, sondern auch unerwartet einer seiner Unterrichtsstunden beizuwohnen.

      War es nun der Trotz, der dieser jungen, kraftvollen Natur innewohnte und sich gegen jede Bevormundung auflehnte, oder war es die Unmöglichkeit, sich von der Gewalt des Stoffes, der ihn jeweils mitriss, zu befreien — genug, es kam auch mit dem Seminardirektor zu einem Konflikt, der mit der vorläufigen Suspendierung Thomas Försters vom Amte endete.

      Nun folgten endlose Verhandlungen und schliesslich eine Disziplinaruntersuchung von seiten der Regierung.

      Thomas Förster legte frei und unumwunden seine Grundsätze dar und erwartete sorgenlos das Ergebnis dieser Untersuchung, die, wie er meinte, nur zu seinen Gunsten ausfallen konnte.

      Indes merkten die Seminaristinnen, die bisher in atemloser Aufmerksamkeit dem Unterricht ihres Lehrers gefolgt waren, wieviel die Glocke geschlagen hatte. Thomas Förster kam nicht mehr nach dem Kloster; der Unterricht in Geschichte und Naturlehre wurde zunächst von Schwester Alfonsa gegeben, bis ein neuer Seminarlehrer für die beiden Fächer gefunden war.

      Maria hatte immer noch gehofft, es möchte sich alles zum besten wenden. Sie verehrte Thomas Förster wegen seiner freudigen Wahrheitsliebe und war bisher begeistert seinem Geistesflug gefolgt. Aber sie empfand doch instinktiv, dass ihm trotz des ausgedehnten Wissens, über das er verfügte, die klare Abgeschlossenheit des Charakters fehlte, jene Überlegenheit, die allein den Lehrer befähigt, mit der Beherrschung seines Stoffes auch sich selbst und andere zu meistern.

      Sie schloss in rührendem Glauben Abend für Abend den Seminarlehrer in ihr Gebet ein, flehend, der Himmel möchte ihm Erleuchtung senden, dass ihm aus seinem rücksichtslosen Streben keine Unbill erwachse und das Klosterseminar ihn nicht verlieren müsste.

      Bis zu ihren letzten Ferien in Tannenau hatte sie die Disziplin des Klosters nie als drückend empfunden, die Vorschriften, nach denen sie und die übrigen Zöglinge leben mussten, als selbstverständlich hingenommen. Von dem Tage ihres Eintritts an waren ihrem Gesichtskreis ganz bestimmte Grenzen gezogen worden. Das Kloster gab ihrem Denken und Fühlen die Perspektive und hielt jeden höheren Gedanken, der sich etwa über das Schema erhob, mit Strenge nieder. Denn nicht nur der Schulplan war schematisch festgelegt; das ganze Leben, durch dessen Tor diese jungen Mädchen eigentlich erst treten sollten, war für sie in ein bestimmtes Schema zurechtgelegt, das wohl ausreichte, so lange die schützenden Mauern des Klosters diese Jugend umgaben und alle äusseren Gefahren von ihr fernhielten, mit dem Augenblick aber zerschellen musste, wo die Wogen des lebendigen Seins an diese papiernen Wände prallen würden.

      Das war die Weisheit, die Maria Stilke in dieser letzten Zeit in sich aufgenommen. Sie war, bis sie Thomas Förster kennen gelernt, mit geschlossenen Augen umhergegangen. Es war ein bedeutungsvoller Zufall, dass zu der gleichen Zeit, da dieser ungebärdige Geist in ihren Lebenskreis trat, sich die Tragödie des Pfarrers in Tannenau abspielte. Da trafen plötzlich so viel Konflikte zusammen, die bislang völlig ausserhalb des Gesichtskreises des jungen Mädchens gelegen waren, dass es verwundert die Augen auftat und mit einemmal in dem bisher bekannten Leben ein zweites erblickte. Ein Leben, das nicht allein von klösterlichen Gesetzen geleitet wurde und sich einem bestimmten Zweck, der ihm anbefohlen war, unterordnete. Ein Leben vielmehr, das von dem gewaltigen Räderwerk der Leidenschaften getrieben wurde, in dem unergründliche Mächte sich ununterbrochen in gigantischem Ringen befanden, dessen Ausgang stets zweifelhaft war, ein Leben, das so mit Rätseln und Geheimnissen erfüllt schien, dass Maria Stilke zuerst angesichts der Kräfte, die diese Lebenssymphonie dirigierten, erschrak und nur ganz allmählich sich in die Erkenntnis neuer Wahrheiten hineinfinden konnte.

      Ihr Geist war seitdem unablässig beschäftigt, die empfangenen Eindrücke zu verwerten, und so entstand eine neue Lebensanschauung in ihr, die manchen Gegensatz zu der im Kloster gelehrten aufweisen musste.

      Ihre Nachdenklichkeit, die vermeintliche Verschlossenheit, die ihr stilles Wesen auslöste, erregten alsbald die Aufmerksamkeit der Schwestern. Schwester Benedikta, die Maria Stilke ins Herz geschlossen hatte, näherte sich ihr in dieser Zeit mehr als früher. Sie begriff, dass in Maria ein innerer Kampf begonnen hatte, der all diesen jungen Mädchen bevorstand, dem keine der Schwestern entkommen war, mit dem sich jede abfinden musste, wenn erst geheimnisvolle Töne im Herzen klangen, dunkle Triebe aufwachten, die ihre Rechte forderten, Ströme, die aus den lebendigen Quellen des äusseren Lebens aufsprangen und sich voll leidenschaftlicher Glut in die dürstende Seele ergossen.

      „Du bist in letzter Zeit so in Dich gekehrt, mein Kind“, begann sie eines Nachmittags während einer Ruhepause, die das junge Mädchen mit einer Handarbeit ausfüllte. „Hast Du Sorgen? Quält Dich ein Kummer, den Du niemandem anzuvertrauen wagst?“

      Maria, zu rein, zu naiv in ihrer Denkungsweise, um der geringsten Verstellung fähig zu sein, antwortete mit der impulsiven Frage:

      „Wird der Herr Seminarlehrer Förster uns keinen Unterricht mehr erteilen?“

      Schwester Benedikta hob das Haupt und liess die Hand mit der feinen Stickerei im Schoss ruhen.

      „Soviel ich weiss, wurde er von der Frau Oberin entlassen.“

      „Also doch!“ stammelte Maria, die noch immer gehofft hatte, es möchte nur eine kurze Unterbrechung des Unterrichts eingetreten sein, während sie hinwiederum die Furcht peinigte, er könnte krank sein und der Hilfe bedürfen.

      Nun sie die Wahrheit erfuhr, wurde alles öde und leer um sie. Sie sah plötzlich, was sie nie vorher bemerkt: dass die Mauern, die das Seminar umgaben, grau und trostlos waren. Dass ein namenloser Druck über dem Kloster lag, dass die Atmosphäre, die es erfüllte, dumpf und ohne Frische war.

      Sie war eine zu stille und anschmiegende Natur, um sich gegen die herrschende Strenge zu empören. Sie empfand sie aber als Ungerechtigkeit, und damit war in einem Augenblick aller Einfluss, den das Kloster seit Jahren auf sie ausgeübt, erloschen.

      Schwester Benedikta betrachtete indes ihr Mienenspiel. Diese klugen, grauen Augen, deren milder Glanz von der Harmonie eines abgeklärten Charakters zeugte, schienen alles zu durchdringen. Obgleich sie wohl schon vierzig Jahre zählte, hatte sie sich ein jugendliches Aussehen bewahrt. Der schwarze Schleier, die düstere eintönige Tracht schienen das rosige, gesunde Antlitz eher zu heben als zu verdüstern, und die weisse Stirnbinde, die nie auch nur den Schatten eines Stäubchens zuliess, war wie ein Symbol ihres Lebens, das so rein, abgeklärt und ohne jede Furche war, wie eben diese Binde, deren blendendes Weiss für alle Äusserlichkeit unempfänglich schien.

      Doch so, wie dieses Linnen stets erneuert werden musste, um ihre Frische

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