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Primat des Geistes über das nackte Leben. Der historische Materialismus hat dem einen doppelten Riegel vorgeschoben: Den materialistischen Monismus und den dialektischen Zugriff auf alle Lebensbereiche. Wenn ich mich recht an einen Gedanken meines alten Professors für Physiologie erinnere, dann ist die Wissenschaft von den psychischen Erkrankungen nur der letztmögliche und wahrscheinlich gefährliche Versuch, den Menschen als abstraktes biosoziales Wesen göttlicher Natur zu begreifen. Dein Bär.« Als Unterschrift hatte er den Namen benutzt, den ich und meine Schwestern ihm gaben, nachdem er sich einen Bart hatte wachsen lassen. Und mit dieser melancholischen Erinnerung schlief ich ein.)

       Heringswürfel

      Im Namen der Lebensreform hat Itten im Vorkurs eine Reihe von morgendlichen Gymnastikübungen eingeführt: Arme, Beine, Rumpf werden bewegt, gleichzeitig ist es fortan Schülern und Lehren erlaubt, festliche Themenabende zu veranstalten. Das ist alles Strategie, sagt Alex. Wir sollen uns dadurch mit dem Menü in der Mensa abfinden, das immer mehr in Richtung eines seltsamen Mystizismus vegetarisch-supergesunder Natur abgleitet. Deswegen sind wir zum ersten Fest, das der Farbe gewidmet war, ganz in schwarz erschienen, mal abgesehen von zwei roten Sternen am Revers.

      Wassily, wie wir Wilhelm unter uns nennen, hat in einer alten Prawda einen Schnittmuster-Bogen gefunden, entworfen von Studenten der Moskauer Kunstgewerbeschule, mit dem man ganz einfach und ohne viel Stoff zu verschwenden, einen Anzug nähen kann. Es gibt vier verschiedene, sehr bequeme Schnitte, und wir haben von jedem drei Stück angefertigt. Während wir nähten, bat ich Greta, mir von ihrer Moskauer Studienzeit zu erzählen. Wie immer reagierte sie ausweichend, wegen ihrer Saudade, behauptet sie. Diesmal aber verriet sie mir doch etwas Neues und Kurioses. Ihr Vater hatte mit Otto Weininger zusammengearbeitet, bis zu dessen Tod. Eines Tages suchte er ihn auf, um ihm Bücher zurückzubringen, die er sich geliehen hatte und um ihm bei der Korrektur der Fahnen von »Geschlecht und Charakter« zu helfen. Als er in Weiningers Wohnung ankam, erfuhr er, dass der sich in der Nacht zuvor umgebracht hatte.

      Meine Eltern waren damals ganz fasziniert von dem, was man die »sexuelle Frage« nannte. Sie glaubten, die sexuelle Energie müsse dazu erzogen werden, sich in all ihren Bestandteilen ausdrücken zu können. Mein Vater teilte da aber längst nicht mehr Weiningers Furor, was die angeblich grundsätzliche Andersartigkeit der Frau anging, die sich in der Realität eben als kulturelle, soziale und politische Minderwertigkeit ausdrücken sollte. Das lag vor allem an meiner Mutter, denke ich. Sie konnte die Idee nicht akzeptieren, dass die Frau unerbittlich ihrer Sexualität unterworfen sei – eine These, die Weininger dann dazu führte, die Prostituierte als ideale Gefährtin des Condottiere und Politikers, die Mutter aber zu der des Künstlers und Poeten zu erklären. So führte sie der Weg in die Liga für die freie Liebe und ich wuchs in aller Freiheit auf. An was erinnerst Du Dich aus dieser Zeit? Greta schüttelte lächelnd den Kopf: Die Dreistigkeit, mit der ich Tango tanzte, die Angewohnheit, keine Unterwäsche zu tragen und mit den Männern zu spielen. Du weißt, wie sie reagieren, wenn man ihnen sagt: Ja, ja ich geh mit dir ins Bett, aber bitte keine Versprechungen oder Intimitäten. Ich musste lachen und sagte nichts mehr – auch ich hatte eine Menge Tango getanzt … Dies ist Gretas Rezept. Sie hat es von einer Freundin bei einem Hochzeitsessen bekommen. Wahrscheinlich kommt es aus Finnland.

      Man braucht ganz frische Heringe, einen pro Gedeck. Sorgfältig putzen, Kopf und Schwanz abschneiden, beiseite stellen. Den Rest waschen und filetieren, in Würfel schneiden. In eine Schüssel die gleiche Menge in Würfel geschnittene gekochte Kartoffeln und ein paar geschälte, entkernte Äpfel füllen. Ein halbes Glas Olivenöl, 1 EL Essig, den Saft einer Zitrone, Salz und Pfeffer dazugeben. Durchmischen und mit einer fein gehackten Mischung aus Petersilie, Kerbel, wildem Fenchel und Pinienkernen würzen. Köpfe und Schwänze etwa 1 min in Wasser kochen. Auf einer Platte die Heringe wieder zusammensetzen: Kopf, Würfel, Schwanz. Mit Minze und in Julienne geschnittenen Zitronen servieren. Kleinbürger ruinieren die Sache, sagte Greta mit einem abschätzigen Grinsen, indem sie die armen Fische in Mayonnaise und Worcestersauce ertränken. Hans hingegen wusste, wie die in Odessa stationierten Matrosen der russischen Marine sie zubereiten: Sie legen die geputzten Heringe für ein paar Stunden in Milch ein, filetieren sie dann, tauchen sie in Wodka und zünden sie auf den Schutzschilden ihrer schweren Maschinengewehre an. Sie essen dazu Schwarzbrot und rohe Zwiebeln.

       Gefüllte Zwiebeln

      Die jungen Frauen in Weimar haben begonnen, ein Bändchen am Knöchel zu tragen. Die Mode kommt aus Paris, man zeigt, dass man eine Liaison hat, aber nicht verheiratet ist. Durch das Glasfenster der Werkstatt sehen wir vor Goethes Gartenhaus die ersten Anzeichen des Frühlings. Weiter entfernt wirbt eine Wirtschaft mit roter Schrift auf schwarzem Grund: »Direkt vom Fass«. Die Jungs sagen, es sei das beste Bier der Stadt. Ich habe mir einen Bubikopf schneiden lassen, Ewa und ich haben uns Sachen aus Organdy gemacht. Ihr steht all das besonders gut, weil es ihre slawische Figur betont.

      Des Weibes Inhalt ist der Mann, hat Hans sich lustig gemacht, als er mich sah. Aber eigentlich meint er es gar nicht ironisch – ihm gefällt meine neue Frisur so wenig wie meine aktuelle Lektüre: Lou Andreas-Salomé, Rosa Mayreder und Laura Marholm, die Frau des schwedischen Dichters Ola Hansson. Wir haben auch über die Misogynie an der Schule hier gestritten. Zwar akzeptiert man Studentinnen, der Lehrkörper bleibt aber renitent gegen eine weibliche Kollegin. Offensichtlich ist alles viel komplizierter als gedacht. Dahinter stecken wohl einerseits eine Renaissance der »Auslebetheorie«, wie sie in Wien sagen, und andererseits bestimmte Thesen der Kritiker der modernen décadence – in Wirklichkeit Reste eines abgestandenen Konservatismus, analysiert Wilhelm: Diese Leute vertreten die haarsträubende These, es gebe einen Zusammenhang zwischen Homosexualität, Masturbation und künstlerischer Sensibilität, und diese Perversion finde eben im Bauhaus ihren deutlichsten Ausdruck.

      Wie auch immer – heute hat Hans mich verärgert mit einem Zitat von Lou Andreas-Salomé, für die die Frau immer noch Hort der Mystik ist, auch der sexuellen. Ich habe mir den Satz gemerkt und ihn mit Ewa diskutiert. Sinngemäß: Auf eine seltsame und sublime Art bewahrheitet sich das, was die schamlos-sinnliche Brutalität von einer zufällig aufgegabelten Frau sagt: Eine ist wie die andere.

      Man braucht große, süße Zwiebeln – eine Weimarer Spezialität, die man in den Volksgärten findet, da wo die Überreste der Militärbaracken stehen. Die Zwiebeln schälen und mit der Messerspitze rund um die Wurzel einschneiden. Für 5 min in mit Salzwasser verlängertes kochendes Bier geben. Die Zwiebeln dem Einschnitt folgend aushöhlen und in eine gut gebutterte Form legen. Das Innere fein hacken und mit einer Nuss Butter für vier Zwiebeln bei niedriger Flamme anschwitzen. Sobald sie Farbe angenommen haben, ein paar gekochte und mit der Gabel zerdrückte Kartoffeln, eine Handvoll in Scheiben geschnittene Champignons, einen Hauch Muskat, Salz und weißen Pfeffer beigeben. Das Ganze bei niedriger Flamme ein paar min vermischen. Vom Feuer nehmen und mit Brühe zu schöner Konsistenz bringen. Die Masse in die Zwiebeln füllen, mit Semmelbröseln und etwas Paprika bestreuen; auf jede Zwiebel eine halbe Nuss Butter geben und bei niedriger Hitze im Ofen backen, bis sich eine goldbraune Kruste gebildet hat. Dabei die Zwiebeln immer wieder mit dem Fond und Brühe begießen. Man kann statt Kartoffeln auch Fleischreste nehmen. Sofort servieren.

       Austern auf Endivien

      Ein wunderschönes Exemplar, sagte der Baron, und sah uns ergriffen an. Er stammt in gerader Linie von der Urmutter dieser Rasse ab. Seit dem 15. Jahrhundert kann man sie auf Bildern mit dem Weimarer Adel sehen: 65 cm bis zum Widerrist, Fell dicht und silbergrau wie der Mond über Thüringen. Das »wunderschöne Exemplar« sah aus seinem goldenen Rahmen auf uns herab, die Augen wie aus Glas, der Körper in höchster Muskelspannung, einen Vorderlauf angehoben. Dieses Bild stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert, fuhr unser Gastgeber fort, mein Großvater ließ es anfertigen, um den Führer seiner Jagdmeute zu ehren, der sowohl als Apportierals auch als Spürhund Bedeutendes leistete. Wieder pathetisches Schweigen. Mein Vater war 1897 einer der Gründer des »Vereins zur Reinzucht des silbergrauen Weimaraner-Vorstehhundes« gewesen. Wir müssen die Weimaraner bewahren.

      Er wurde etwas lauter: Aber gewiss retten wir in jedem

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