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die fünf Sprossen bereits gnädig entlassen waren und er sich noch einen grossen Löffel Flammeri, den er leidenschaftlich gern schleckerte, auf den Teller getan hatte. „Hatte er nicht die Influenza? Es interessiert mich eigentlich nicht, durchaus nicht! Aber deine Schwester hat ihn doch nun mal, und wiederum, siehst du —.“ Dieses „Wiederum“ war sein beliebtes Stichwort, womit er die meisten Nachsätze schmückte. Wie er sich auch daran gewöhnt hatte, niemals „mein“ Schwager zu sagen, um dadurch die Verwandtschaft auf die kleine, runde Frau abzuwälzen.

      Der Mangel jeglichen Spottes in seinem Ton überraschte sie, so dass sie ihn vorerst bat, sich noch mehr Kirschsaft zu dem Flammeri zu nehmen, weil sie seine gute Laune aus diesem Genusse herleitete. „Er hat alles gut überstanden,“ erwiderte sie dann. „Ist ihm auch zu gönnen, jetzt, wo das Geschäft blüht.“

      „So, so, das Geschäft blüht also,“ sprach er dann weiter, gewissermassen vor Aufregung zerstreut. „Na ja, da draussen wächst das Obst auch besser. Mehr frische Luft, auch mehr Wasser, als hier in der Frobenstrasse. Wiederum aber, siehst du ... Was kosten denn jetzt die besten Pflaumen bei ihm? Ich esse sie so gern, du weisst es.“

      Sie lachte. „Er verkauft doch nur eingemachte Früchte. Mit den frischen Pflaumen ist’s vorüber.“

      „So, so, mit frischen Pflaumen ist’s vorüber. Aber, liebe Pauline, das weiss ich doch selbst. Ich meinte ja auch die andern ... Man könnte ihn doch eigentlich in Nahrung setzen, aber wiederum, wenn ich bedenke, wie wir miteinander stehen ... Das heisst, mein Kollege Pfau hat mich darauf gebracht, er möchte gern ein Quantum billig beziehen.... Hat deine Schwester, als sie zuletzt hier war, nichts besonderes gesagt? Gar nichts besonderes? Nein?“ Und nach einem Kopfschütteln seiner Frau: „Das heisst, es interessiert mich durchaus nicht ... durchaus gar nicht, aber wenn man ein Buch ‚Über das Mitleid‘ geschrieben hat, siehst du, in dem sich so ein grosser Schatz erschöpfender Worte und Gedanken befindet, dann, siehst du, kommt man sich abgeklärter vor, zur Versöhnung geneigter, und doch muss ich wiederum sagen, dass dein Schwager —. Hat er denn etwas gegen mich?

      „Aber nicht das geringste, Männe. Du warst doch immer derjenige, welcher —“

      „So so, also er hat nichts gegen mich, und ich war immer derjenige, welcher —. Das sagst du! Aber wiederum ...“ Er unterbrach sich abermals. „Sag mal, Paulinchen, du hast doch auch mein Buch gelesen, und, wie ich dich kenne, gründlich gelesen. Hast du darin etwas vermisst, vielleicht ein bestimmtes, gebräuchliches Wort?“ Da er mit dem Essen fertig war, so rieb er sich die Nase, und als seine Frau verneinte, tat er es noch heftiger. „So so, also nichts vermisst. Dann danke ich dir, aber wiederum kann es vorkommen, dass selbst du, mit deinem Scharfsinn —. Übrigens, weisst du, könnte man ja deine Schwester bitten, die Bestellung an ihn zu machen ... Mahlzeit, liebes Kind ...“

      Die vorletzte Instanz war für ihn erschöpft, er musste also die letzte suchen. Bis zum nächsten Nachmittag hielt er es noch aus, dann machte er sich auf den Weg, um Einkäufe zu besorgen, wie er sagte, eigentlich aber nur, um seinem Gelehrtengemüt die Ruhe zu verschaffen. Es war Winter und kalt, als er sich so durch den Weltstadttrubel schob, der mit seinem ewigen Auf und Nieder die Menschen flutenweise durch die Strassen trieb. Aber Johannes Murr sah und hörte nichts. Denn seine Gedanken verdichteten sich zu einem selbstsüchtigen Gelehrtenwahn, der sich inmitten dieser lebensfrohen Menge nur an tote Buchstaben klammerte. Das Wort, das eine Wort, das ihm fehlte! Er schritt dahin über den leise knirschenden, frisch gefallenen Schnee, vorüber an den bunten Schaufenstern, achtlos vorbei an flehenden Kindern, bittenden Frauen und Männern — er, der das grosse Buch „Über das Mitleid“ geschrieben hatte, in dem er bis zur christlichen Legende zurückgegangen war. Was waren ihm die Menschen, wo sein Werk nur zu ihm sprach!

      Endlich bestieg er die Elektrische, und nach drei Viertelstunden hatte er sein Ziel erreicht. Er musste erst über einen grossen Hof schreiten, an allerlei Gerümpel vorbei, bis er an ein stallähnliches Gebäude kam, wohin ihn ein Mann verwiesen hatte. Und als er ohne Antwort auf sein Klopfen eingetreten war, schon draussen gelockt durch das Bellen eines Hundes und durch ein vielfaches Piepen und Tirilieren, genoss er einen seltsamen Anblick. Hermann Tipke, ein Mann noch in den besten Jahren, mit rundem Gesicht, in dem zwei kluge Augen manches zu sagen hatten, sass auf einer kleinen Bank inmitten des wohlig erwärmten Raumes, umringt von grossen und kleinen Vogelkäfigen, hatte eine junge Taube in der Hand und fütterte sie mit Erbsen, die er ihr vorsichtig in den Schnabel steckte. Singvögel machten einen heillosen Lärm, ein Rabe krächzte dazwischen und ein weisser Kakadu sprach unaufhörlich seine Brocken. Der Pudel jedoch, der eine verbundene Pfote hatte, humpelte vor seinem Herrn auf und ab, bellte ihn an und trieb sein Spiel mit der Taube, indem er nach ihr schnappte, was sich fast wie Spass ausnahm.

      „Ei, Herr Professor! Welche Ehre für mich! Das ist aber —. Wirst du ruhig sein, Vagabund ... Darauf hört er nämlich am besten.“ Tipke erhob sich und lachte, denn er hatte den Pudel gemeint, der ihm sofort zu Füssen kroch.

      „Guten Tag. Ich hätte gern Ihre Frau Gemahlin ...“

      „Ach so, ach so! Sie ist vorn im Geschäft. Wenn sie das wüsste! Hier ist nämlich mein Reich, meine Erholungsbude für die Mittagsstunde, wissen Sie, Herr Professor. Diese Tiere sind meine ganze Freude. Eine kleine Passion ziert jeden Menschen ... So, Karlinchen, nun geh’ wieder in dein Stübchen.“ Damit schob er das Täubchen in das Holzbauer und verschloss es. „Sie ist nämlich eine Waise — seit gestern erst. Meine Frau hat ihrer Mutter den Hals umgedreht, zur Suppe für unser Jüngstes. Hinter meinem Rücken natürlich, denn so was kann ich nicht sehen ... Aber wollen Sie nicht, Herr Schwag —, Herr Professor ein wenig Platz nehmen? Sie rauben mir sonst die Ruhe.“

      Johannes Murr, angenehm berührt von dieser offenen Freundlichkeit, erwog rasch, dass er jetzt am schnellsten an sein Ziel kommen würde, und so setzte er sich auf den alten Rohrstuhl, den der Schwager ihm zugeschoben hatte, und behielt Schirm und Hut in der Hand.

      „Entschuldigen Sie, bitte, dass ich Sie bei Ihren Experimenten gestört habe,“ begann er würdevoll, mit einem grossen Blick im Kreise, unter dem die lieben Tierchen aber nicht verstummen wollten. „Ich habe da einen Auftrag meiner Frau zu erledigen, ja hm —, wiederum jedoch möchte auch ich ... Sagen Sie mal, was machen Sie eigentlich hier so?“ unterbrach er sich, weil er sich scheute, gleich auf sein Ziel loszugehen.

      Tipke, der in einem zwar sauberen, aber ausgeblichenen Hausrock steckte und sich wieder bescheiden auf die Bank niedergelassen hatte, zeigte aufs neue seine kernigen Zähne, wobei die überroten Wangen sich blähten. „Ich beschäftige mich mit dem Mitleid, wie Sie, Herr Professor, nur auf andre Art. Ich übe es an lieben Tierchen,“ sagte er zwar einfach, aber doch mit einer kleinen Spitze, wie es den Schulmann dünkte. „Was glauben Sie wohl, wie mir dieser Pudel hier dankbar ist. Vor zwei Wochen hat er sich angefunden, mit zerquetschter Pfote, nun will er nicht mehr fort. Würd’ ich ebenso machen, wenn ich’s so gut hätte.“ Er lachte abermals. „Seinen Herrn kenn’ ich nicht, er kann ihn auch suchen, wenn er ihn haben will. Nicht wahr, Vagabund? ... Meine Frau lacht mich aus darüber, aber soll sie nur! Sie hat vorn mit den toten Früchten zu tun, ich hier mit den lebenden ... Aber jetzt sollen Sie zu ihr, Herr Professor. Sie werden doch unser Gast sein? Frau Gemahlin beehrte uns oft hier, aber nur zum Nachmittagskaffee, wissen Sie. Länger hält sie’s nicht aus — aus Furcht vor Ihnen. Aber es ist doch hübsch, dass auch Sie sich nun herablassen ...“ Diesmal lächelte er nur, aber die herzliche Laune sprach aus seinen Zügen. „Wir müssen erst überwinden, unsere eigenen Schwächen zuerst, ehe wir uns ganz erkennen.“

      Der Professor hörte nur zerstreut zu. „Sagen Sie, mein Bester, Sie haben sich da mein Buch gekauft ... Um kurz zu sein, wie heisst denn das Wort, das Sie meinten?“

      Tipke lächelte pfiffig. „Ich sagte es ja soeben, Herr Professor, — das Wort, das allein selig macht und das Sie zu mir hergetrieben hat ... oder sagen wir lieber: unbewusst gedrängt hat: nämlich überwinden. Wir müssen alles überwinden, was Böses in uns schlummert: den Hass, den falschen Stolz, den Hochmut, die Selbstsucht und den Eigendünkel. Es gibt kein Mitleid ohne Überwindung, denn wenn wir es üben sollen, so müssen wir erst mitleiden, das heisst, die Vorstellung in uns erwecken, wie uns zu Mute sein würde, wenn wir in die Lage andrer kämen. Und diese

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