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Frau Dr. Holger zehn Minuten später in den OP kam, um die Rettung des Neugeborenen zu melden, begriff sie sofort, daß Ungewöhnliches geschehen sein mußte, denn normalerweise wäre die Operation jetzt schon beendet gewesen. Sie trat näher, sah das wächserne Gesicht der Patientin, blickte auf Dr. Schumann. Ihre Augen begegneten sich.

      »Luftembolie?« fragte die Ärztin.

      Dr. Schumann nickte. Er war außerstande, ein Wort hervorzubringen.

      »Und der Professor?« fragte sie. »Weiß er es schon?«

      Niemand antwortete ihr.

      Erst nach einer ganzen Weile sagte Dr. Gerber, der sich jetzt ebenfalls den überflüssig gewordenen Mundschutz abgenommen hatte: »Bitte, Kollegin … sprechen Sie mit ihm!«

      Frau Dr. Holger sah erschrocken die drei Ärzte an – den schweren, breitschultrigen Rainer Schumann, den schmalen, intellektuellen Erich Gerber und den jungen, noch ganz unbelasteten Günter Bley. Sie alle waren Männer, starke, selbstbewußte Männer, und doch brachte keiner von ihnen den Mut auf, dem Chef die Wahrheit zu sagen. Diese Aufgabe schoben sie ihr, der Frau, zu. Warum sollte ausgerechnet sie –? Sie hatte eine Ablehnung schon auf den Lippen, da besann sie sich. Sie begriff, daß jeder dieser drei Männer am Ende seiner Kräfte war.

      »Gut«, antwortete sie, »ich werde es tun.«

      Dr. Schumann drehte sich um, verließ den Operationssaal und trat in den Waschraum. Dr. Gerber folgte ihm. Eine Schwester nahm ihnen Kittel und Kappen ab, drehte die Hähne auf.

      »Es ist nicht deine Schuld«, meinte Dr. Gerber, während sie sich nebeneinander die Hände wuschen. »Frau Overhoff hätte dieses Kind niemals bekommen dürfen. Eine Frau, die schon bei zwei Schnittentbindungen Komplikationen hatte! Es wäre das reinste Wunder gewesen, wenn alles gut gegangen wäre.«

      »Manche Menschen glauben eben an Wunder«, erwiderte Dr. Schumann und hielt sein Gesicht unter das fließende Wasser, wusch sich Nacken und Augen. »Schön und gut«, konterte Dr. Gerber, »wenn ein Laie solche Geschichten macht, will ich gar nichts sagen. Aber ein Frauenarzt!« Er warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter, aber die Schwester stand in einiger Entfernung, war damit beschäftigt, Dr. Leopold und Dr. Bley aus ihren Kitteln zu helfen. »Wirklich leichtsinnig von dem Alten. Frau Overhoff hätte schon nach der zweiten Geburt sterilisiert gehört.«

      »Das wäre gegen Professor Overhoffs Überzeugung«, sagte Dr. Schumann müde.

      »Wenn ich so etwas schon höre! Auf normale Weise hätte Susanne Overhoff überhaupt kein Kind bekommen, ihr Becken war viel zu eng. Dabei hätte ihr auch der liebe Gott nicht helfen können. Ohne ärztliche Hilfe wäre sie schon bei der ersten Geburt gestorben. Weißt du, was diese Schwangerschaft war? Eine Herausforderung an das Schicksal, mein Lieber!« Er schüttelte die nassen Hände ab. »Komm mit auf meine Bude, trinken wir einen Schnaps; den können wir jetzt wohl brauchen.«

      Dr. Schumann hatte wenig Lust, dieser Aufforderung zu folgen. Er wußte, daß Dr. Gerber die Gelegenheit ausnützen würde, wieder einmal seine Theorien vorzutragen, die im krassen Gegensatz zu Professor Overhoffs und auch seiner eigenen Anschauung von den Pflichten und Aufgaben eines Frauenarztes standen. Er wußte, daß er nach dieser Erschütterung ein sehr schlechter Diskussionspartner sein würde.

      Aber noch mehr graute ihm vor einer Aussprache mit seiner Frau. Er warf einen Blick auf die Wanduhr. Falls er noch blieb, konnte er wenigstens hoffen, daß Astrid schon eingeschlafen war, wenn er nach Hause kam.

      »Gut«, sagte er, »ich komme mit.«

      Professor Overhoff saß hinter dem Schreibtisch seines Arbeitszimmers, als Frau Dr. Holger eintrat, im weißen Kittel, das blonde Haar schlicht zurückgekämmt. Overhoff sprang bei ihrem Eintritt so heftig auf, daß der schwere Aschenbecher vom Schreibtisch fiel und Zigarettenasche und Stummel sich über den Perserteppich ergossen.

      »Ist es … vorbei?« fragte er.

      »Ja«, antwortete Irene Holger beherrscht. »Sie haben einen gesunden kleinen Jungen bekommen, Herr Professor!«

      »War die Geburt sehr schwer?«

      »Ihre Gattin hat nichts davon gespürt.«

      »Und wie geht es ihr? Wie geht es ihr jetzt?«

      »Gut. Bitte, setzen Sie sich doch, Herr Professor!«

      Irene Holger trat auf Professor Overhoff zu, drückte ihn sanft in den Sessel zurück. »Ihrer Frau geht es gut«, sagte sie noch einmal, »sie hat keine Schmerzen und keine Ängste mehr … Gott hat sie zu sich genommen.«

      Professor Overhoff saß ganz starr. Sie spürte, wie sich seine Muskeln verkrampften. Er öffnete den Mund – aber der Schrei seines Herzens blieb stumm. »Sie ist in dem Augenblick gestorben, in dem sie ihr Ziel erreicht hatte … gerade als ihr kleiner Sohn den ersten Laut von sich gab. Sie hat glücklich gelebt, und sie ist glücklich gestorben. Das ist wohl mehr, als man von den allermeisten Menschen sagen kann.« Mit einer Stimme, die seltsam fremd und undeutlich klang, so als ob es ihm schwerfiele, die Laute zu artikulieren, sagte Overhoff: »Gehen Sie jetzt. Bitte, lassen Sie mich allein!«

      »Wenn Sie Ihren Sohn sehen wollen …«

      Er holte tief Luft. »Nein!« Seine Stimme schnappte über. Frau Dr. Holger stand ganz still und sah auf ihn herab. Sie wußte, daß es für diesen Mann keinen Trost gab und keine Rechtfertigung. Dennoch widerstrebte es ihr zutiefst, ihn in dieser Verfassung allein zu lassen.

      »Herr Professor …«, versuchte sie es noch einmal, aber es gelang ihr nicht, den Satz zu Ende zu sprechen.

      »Raus!« stöhnte er. »Raus!«

      Wortlos, mit zusammengebissenen Zähnen, verließ Frau Dr. Holger das Arbeitszimmer des Professors. Erst als sie auf dem langen, spärlich beleuchteten Gang stand, spürte sie, daß auch ihre eigenen Nerven zu versagen drohten. Aber sie straffte die Schultern und wandte sich entschlossen zum Säuglingszimmer.

      2

      Als Dr. Rainer Schumann nach Hause kam, war es zwei Uhr vorbei. Erleichtert stellte er fest, daß das Haus im Dunkel lag. Die Party war vorüber.

      Er schloß die Haustür auf, so lautlos wie möglich, hängte seinen Mantel in die Garderobe und stieg auf Zehenspitzen die Treppe hinauf. Sein Gang war nicht mehr ganz sicher, denn er hatte zusammen mit seinem Kollegen eine volle Flasche Kognak geleert. Aber der Alkohol hatte nicht vermocht, seine bohrenden Gedanken zu beruhigen.

      Er ging ins Bad, stellte fest, daß die Verbindungstür zum Schlafzimmer seiner Frau nur angelehnt war und wollte sie sacht ins Schloß ziehen.

      Aber Astrid hatte ihn schon gehört. »Rainer!« rief sie, und ihre Stimme klang sehr wach.

      Wohl oder übel mußte er eintreten.

      Astrid hatte das Nachttischlämpchen angeknipst. Sie lag in den weißen Kissen, verführerisch schön. Das Dekolleté ihres zartblauen Nachthemdes war verrutscht, ihre schlanken, glatten Arme waren bloß, ihr Haar leicht zerzaust.

      »Du kommst spät«, sagte sie kühl.

      »Ja, ich weiß …« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Entschuldige, bitte, ich …« Er trat näher.

      »Du hast getrunken«, stellte sie sehr sachlich fest.

      »Ja.«

      »Gab es einen Anlaß zu feiern?«

      »Ich verstehe nicht«, sagte er unbehaglich, obwohl er sie nur zu gut verstand.

      »Ist Susanne glücklich? Hat sie endlich ihren heißersehnten Sohn?« fragte Astrid spöttisch.

      Dr. Schumann mußte sich räuspern. »Ja. Es ist ein Junge.«

      »Und Susanne?«

      Er antwortete nicht sofort, und plötzlich begriff sie alles.

      Sie setzte sich mit einem Ruck steil in den Kissen auf, ihre Augen flammten. »Mörder!«

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