Скачать книгу

Ferdinand schwieg natürlich. Weshalb hatte die „Vossische Zeitung“ auch so viele Verlobungs- und Verehelichungsanzeigen, die jede Frau zum eifrigen Studium des Inseratenteils drängten.

      Zwei Tage später hatte Herr Ferdinand sich weidlich gerächt, denn als nun unten, eine Treppe tiefer, Herr Johannes Leineweber die Spalten der „Vossischen Zeitung“ überflog, las er folgenden Herzenserguss, der wie der hämische Gruss eines engen Verwandten klang: „Für Hutmacher, die in beschränkten Verhältnissen leben! Alte und dicke Filze werden von einem erfahrenen Buchhalter einer der ersten Firmen (die letzten vier Worte waren gesperrt gedruckt) nach Noten gegerbt. Auf Wunsch auch gratis. Dickwämse vorgezogen. Offerten Postamt Oranienstrasse.“ Es war wohl nur ein leidiger Zufall, dass Herr Johannes Leineweber an diesem Tage genau die Zeit abpasste, wo sein Bruder an seiner Ladentür vorübergehen musste; wie ein Schild hielt er das „Berliner Tageblatt“ vor das halbgesenkte Haupt, so dass jedermann den Titel des Journals beim Vorübergehen lesen musste. Herr Ferdinand Leineweber aber schien seine Pappenheimer zu kennen. „Ha, ha, ha,“ lachte er ganz laut, „wer gestern noch die ‚Vossische Zeitung‘ gelesen hat, liest sie heut auch noch. Man ist doch nicht aus Dummsdorf.“ Dann hatte der Buchhalter die Genugtuung zu hören, wie sein Bruder wütend die Ladentür ins Schloss warf. Beim Weiterschreiten murmelte Herr Ferdinand vergnügt vor sich hin: „Na — die Filzgerberei wird er aber wohl verstanden haben. Ha, ha, ha!“

      Wo die Eltern im Hader liegen, da haben die Kinder am meisten zu leiden. Klein Fritzchen und Lottchen wussten davon zu erzählen. Frau Julie bemerkte eines Tages vom Küchenfenster aus, wie ihre Schwägerin unten auf dem Hof sich so weit verstieg, ihrem Kleinen das Haar aus der Stirn zu streichen und dem rosigen Buben schliesslich einen Kuss zu geben. Die Gattin des Buchhalters war empört. „Lene!“ rief sie ganz laut zu ihrem Mädchen herunter, „komm sofort mit dem Jungen herauf, hörst du?“ Oben gab es dann eine Flut von Vorwürfen. „Wenn du noch einmal erlaubst, dass diese Person da unten mein Kind küsst, dann bist du sofort aus dem Dienst entlassen, hast du verstanden?“ Lene war eine echte Berlinerin, die, wenn sie sich keines Unrechts bewusst war, nicht ohne weiteres Vorwürfe hinnahm. „Jotte doch, Madamken, nun soll ich wohl noch dafor können, wenn die Herrschaften sich meilenweit aus dem Wege gehen. Ihr Mann hat gestern erst im Hausflur das kleine Lottchen geküsst, und da dachte ich, es würde wohl nichts schaden, wenn Ihre Frau Schwägerin auch mal wieder unser Fritzchen küsst. Das war doch früher so. Die armen Würmer die, — nun sollen die noch for die Sünden ihrer Eltern aufkommen.“

      Die Frau Buchhalter unterbrach sie sofort: „Mein Mann hat das getan?“ Frau Julie schien das Unerhörte nicht begreifen zu können, als ihr Lene den Kelch noch voller machte: „Gewiss, Madamken, sogar auf den Arm hat er Lottchen genommen und sie ‚seine kleine liebe Prinzessin‘ genannt. Sie wird jetzt auch wirklich zu reizend, die kleine Jöre.“ Frau Julie hätte weinen mögen vor Zorn, wenn sie nur im Augenblick die üblichen Tränen gefunden hätte.

      So trug der Baum der Zwietracht also allgemach die giftigsten Früchte: Die Eltern versuchten die beiden Kleinen sich gegenseitig zu entfremden und die frommen Kindergemüter im zartesten Alter zu trüben. Wenn nun die Dienstmädchen der beiden Leineweber des Nachmittags wie gewöhnlich, jedes das Kindchen seiner Herrschaft auf dem Arme, den nahegelegenen Mariannenplatz aufsuchten, wo inmitten schöner Parkanlagen unter grünenden Bäumen und Sträuchern während Stunden hindurch Hunderte von kleinen Weltbürgern unter der Aufsicht ihrer Mütter und Wärterinnen sich gar ergötzlich belustigten und mit strahlenden Gesichtern so fröhlich dreinschauten, als sendete der blaue Himmelsdom hoch oben nur ihretwegen die Sonnenstrahlen hernieder, — dann war es Fritzchen und Lottchen nicht mehr vergönnt, wie sonst, Händchen an Händchen des Weges zu schreiten, drollige Dinge zu plappern, so dass die Leute zuweilen stehen blieben und den beiden Liliputanern mit einem Lächeln nachblickten, als wollten sie laut ausrufen: Seht doch nur diese kleinen Rangen, wie reizend sie gekleidet gehen, was für wunderschöne Gesichtchen sie haben, wie altklug sie tun, als wären sie Braut und Bräutigam, das ist ja köstlich. O, die Eltern sind zu beneiden, die sie besitzen.

      O gewiss, die Leute hatten recht. Wer könnte auch grosse blaue Kinderaugen sehen, wer könnte das in seiner unklaren Aussprache ebenso komisch wie rührend wirkende Geplapper kleiner, noch halb hilfloser Seelen hören, ginge ihm das Herz dabei nicht auf? Nun war das anders wie sonst. Da sass auf der einen Bank Herrn Johannes Leinewebers Küchenfee und getrennt von ihr auf einer anderen Herrn Ferdinand Leinewebers Lene, jede sorgsam bemüht, die Kinder voneinander fernzuhalten. Das war nun einmal der Befehl ihrer Herrschaften, und den suchte man zu befolgen. Und während ringsherum das laute Jubeln der Kinderscharen ertönte, endloses Schreien, helles Jubilieren die Luft erfüllte, diese ganze kleine, rosige Welt im Genuss der Freiheit schwelgte, suchten über die Köpfe hinweg stumm zwei Augenpaare sich, als wollte eins dem anderen zurufen: Was habe ich dir getan, dass ich hier nicht herunter darf, um mit dir zusammen, wie die anderen Kinder dort drüben, im Sande Kuchen zu backen und ein Schloss zu bauen? Und was diese stummen Blicke nicht noch alles weiter erzählten!

      Vier Wochen hindurch hatten die beiden Kleinen ihr unverschuldetes Schicksal zu ertragen, als eines Nachmittags die gute Fee für sie auftauchte, die nun einmal im Leben der Kinder eine grosse Rolle spielt. Es war wieder auf dem Spielplatz. Die beiden dienenden Geister der beiden Brüder sassen sich in dem breiten, schattenbedeckten Wege gegenüber, jedes krampfhaft bemüht, der beiden Leinewebersprösslinge geheime Sehnsucht durch möglichstes Kneifen in die Arme und nicht gerade zarte Äusserungen zu besänftigen; dabei ergingen sie sich in einer höchst bedeutsamen Küchenphilosophie, die darin gipfelte, ob es für ihre eigene Ruhe nicht schliesslich vorteilhafter wäre, einmal von den Befehlen der Herrschaft abzugehen und den „unnützen Rangen“ den Willen zu lassen. „Es ist gar nicht mehr zum Aushalten mit diesem Bengel!“ sagte Herrn Ferdinand Leinewebers Lene mit entschieden zorniger Miene; und ihr Gegenüber fiel sogleich ein: „Ist das möglich? Nun sehn Sie mal, die will zu dem Jungen rüber. Is nich, Lotte! Sei ruhig und schrei nicht, sonst gibt’s einen Klaps.“ Die armen Kleinen fingen nun laut an zu weinen und erzürnten dadurch ihre sorgsamen Hüterinnen noch mehr. Plötzlich schrieen sie ganz laut durch ihr Weinen hindurch: „Gomama, Gomama!“ wandten ihre grossen Augen nach der Mitte des Weges und machten nun ganz unbändige Anstalten, vom Schoss der würdigen Dienstboten zu gelangen. Nun zeigte sich auch den Blicken der beiden Wärterinnen die würdige Frau Henriette Leineweber, Witwe des weiland pflichtgetreuen Bankbeamten Leineweber, die Mutter des hageren Buchhalters und des korpulenten Hutmachers. Frau Henriette war am Morgen erst nach zweimonatlicher Abwesenheit von Berlin vom Besuche einer Schwester zurückgekehrt, und ihr erster Gang sollte ihren Söhnen gelten. O, und was musste sie nun erleben! Nach einer Minute bereits sass sie auf der Bank zwischen den beiden Dienstboten, in jedem Arme eins der beiden Kinder. Über diese gottvergessene Zeit, die nur Hass und Zwietracht sät und unschuldige Wesen darunter leiden lässt! Madame Henriette genierte sich vor den Dienstboten ihrer Kinder nicht; sie würde den beiden grossen Jungen, die sich wie die kleinen Kinder benähmen, ganz gehörig die Köpfe zurechtsetzen, dass ihnen Hören und Sehen verginge. Während sie bei den Erzählungen der beiden Küchenfeen ihrer Entrüstung immer erneuerten Ausdruck gab, strich sie den beiden Kleinen sorgsam das Haar aus der Stirn und überschüttete sie mit Liebkosungen aller Art. „Ja, du mein Herzblättchen, mein süsses Zuckerpüppchen, das soll jetzt anders werden; ich werde euch jetzt nicht mehr aus den Augen lassen, ihr werdet jetzt immer zu mir kommen und eure Spielstube bei mir aufschlagen.“ Die Kleinen lebten auf; es begann ein Geplapper, ein gar drollig anzuschauendes Bewegen, Rumoren und Gemisch ergötzlicher Gesprächsweise, das auf den Kinderfreund rührend wirkte. Nun strahlten die Augen wieder in lichter Bläue wie der Himmel dort oben, nun röteten sich die Wangen, zeigten sich die Grübchen im pausbackigen Gesicht von Fritzchen und beim herzigen Lachen die kleinen Zähne Lottchens.

      Am Abend desselben Tages gab es in jeder Wohnung der beiden Brüder eine grosse Beratung. „Wir uns wieder vertragen?“ meinte Frau Julie und schien dabei sogar den Respekt vor ihrer Schwiegermama verloren zu haben. „Das hätte mir gerade gefehlt! Diese Person gönnt mir nicht einmal meine sauer erworbenen Kleider. — Nimmermehr! Ich sage dir, Ferdinand, es bleibt dabei: Ich lass mich von dir scheiden, wenn du zuerst nachgibst.“ Und als nun Frau Henriette, ganz und gar nur beflissen, dem unsinnigen Zanke ein Ende zu machen, zum dritten Male bereits den Weg eine Treppe tiefer

Скачать книгу