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jede Chance verbaut. Außerdem würde es grausam sein, Karlsons zu erzählen, was geschehen war.

      Oder sie konnte nach Hause fahren, sich beschimpfen lassen, vorher aber versuchen, die Tasche zu verstecken. Dann brauchte sie nur abzuwarten, was mit Regine geschehen war, bevor sie etwas unternahm … Eva unterbrach ihren eigenen Gedankengang — wenn sie jetzt nach Hause führe, wäre es zu spät.

      Obwohl sie manchmal sehr daran zweifelte, ob ihre Eltern sie liebten, wußte sie doch genau, daß sie ihr Verschwinden nicht einfach hinnehmen, sondern sie suchen lassen würden.

      Jetzt, nur jetzt, hatte sie die Möglichkeit zu verschwinden, ohne je vermißt oder gesucht zu werden. Ihr Bruder Peter wußte, daß sie zur ›Remise‹ gefahren war. Wenn sie nicht mehr auftauchte, würden alle glauben, daß sie in den Flammen umgekommen sei. Vielleicht konnte die Polizei sogar die Überreste ihres Fahrrades identifizieren.

      Eva steckte Paß und Führerschein wieder fort. Sie öffnete den Reißverschluß der Futtertasche, und ihre Finger fühlten ein Bündel Geldscheine. Rasch zog sie den Verschluß wieder zu. Sie konnte das Geld hier unmöglich zählen. Immerhin war es beruhigend zu wissen, daß sie sich nicht ganz blank in das große Abenteuer stürzen mußte. Sie selber hatte nicht viel mehr als eine Mark in der Tasche.

      Erst am Hauptbahnhof stieg Eva aus und steuerte geradewegs die Damentoilette an. Hier konnte sie endlich das Geld zählen. Es waren 350 Mark in Scheinen, abgesehen von den Geldstücken im Portemonnaie. Anscheinend hatte Regine den Betrag schon für die bevorstehende Urlaubsreise von ihrer Bank abgehoben.

      Eva entfernte mit Wasser und Seife die letzten Spuren des Rauchs und merkte erst, als sie sich kämmte, daß sie am Hinterkopf eine schmerzende Beule hatte. Dann zog sie sich mit Regines Stift die Lippen nach.

      Die Rußflecken an ihrem hellen Regenmantel ließen sich nicht mit Wasser oder durch Reiben entfernen, sie wurden eher noch schlimmer. Sie legte sich den Mantel mit der Innenseite nach außen über den Arm. Es war ein komisches Gefühl, mitten in der Nacht mit einem ärmellosen Pullover herumzulaufen, aber zum Glück war es ja warm.

      Danach schlenderte sie in die Eingangshalle des Bahnhofs und überlegte, was sie jetzt anfangen sollte. Sie hatte Geld genug, um in ein Hotel zu gehen, doch das schien ihr zu riskant. Ohne Koffer, ohne Nachthemd und ohne Zahnbürste mußte sie auffallen. Außerdem traute sie sich’s nicht zu, ohne jede Übung Regines Namenszug auf der Anmeldung nachzumachen.

      Es war Mitternacht vorbei. Das Restaurant war schon geschlossen. Sie zog sich an einem Automaten eine Flasche Limonade. Dann ging sie die Treppe hinunter in den Wartesaal.

      Hier saßen Leute mit Koffern, Paketen, Taschen und Kinderwagen. Alle wirkten übermüdet. Eva fand einen freien Tisch. Aber sie sollte nicht lange allein bleiben.

      Ein Junge mit gelocktem, schulterlangem Haar kam zu ihr und fragte vertraulich: »Hast ’ne Zigarette für mich?«

      »Tut mir leid, nein.«

      »So’n Pech«, sagte der Junge mit sympathischem Gesichtsausdruck.

      Er trug ausgefranste Jeans, eine alte Militärjacke und Sandalen. Eva spürte, daß er ein Abenteurer war wie sie selber. Sie öffnete Regines Portemonnaie und gab ihm eine Mark.

      Der Junge bedankte sich, zog eine Schachtel Zigaretten und kam zurück. »Willste?« fragte er und hielt ihr großzügig das geöffnete Päckchen hin.

      Eva schüttelte den Kopf.

      Er steckte sich eine an und setzte sich zu ihr. »Willste auch ins Loch?« fragte er. »Oder hast ’ne Fahrkarte?«

      Eva verstand nicht. »Wieso?« fragte sie verdutzt.

      »Du bist wohl janz neu hier, was?« fragte er lachend.

      »Ja«, gab Eva zu.

      »Dann paß auf: Also, hier jibt es mindestens alle Stunde ’ne Razzia. Hast ’ne Fahrkarte, kannste bleiben, haste keine, nehmen sie dich mit.«

      »Ich habe einen Paß«, sagte Eva schlagartig.

      »Nutzt dir nix. Pennen darfste hier trotzdem nicht.«

      »Dann besorge ich mir eben eine Fahrkarte.«

      »Nutzt dir och nichts. Die janze Nacht jehen hier Züge. Spätestens bei der zweiten Razzia schnappen se dich trotzdem. ›Was denn‹, sagen sie, ›Sie wollten doch nach Essen! Warum sind Sie da nicht vor zehn Minuten mit dem Eilzug gefahren?‹ Und schon sitzt du in der Tinte.«

      »Gibt es denn keine Möglichkeit …?«

      »Nein, hier nicht. Zum Pennen ist das keen Ort.«

      Eva erhob sich widerstrebend. »Danke«, sagte sie, »nett von dir, daß du mir Bescheid gesagt hast. Aber was machst du hier?«

      Er schielte auf seine Füße. »Hab’ mir die Quanten durchgelatscht. Muß ein Päuschen einlegen, bis ich wieder lostrampen kann.«

      4

      Eva eilte die Königsallee in Richtung Schadowplatz hinunter, vorbei an strahlendhell erleuchteten Schaufenstern und sorglos promenierenden Menschen. Trotz der späten Stunde herrschte hier noch ein reges Treiben. Eva fühlte sich wie eine Ausgestoßene. Sie war hundemüde und hätte beinahe vor Selbstmitleid geweint. Aber sie erinnerte sich daran, daß sie dieses Schicksal freiwillig gewählt hatte. Noch konnte sie jederzeit nach Hause. Aber wollte sie das? Nein. Also durfte sie sich auch nicht beklagen.

      Trotzdem war sie froh, als sie den Hofgarten erreicht hatte. Sobald sich eine Möglichkeit ergab, wich sie von dem breiten, erleuchteten Hauptweg ab und suchte sich eine leere Bank. Endlich fand sie, was sie suchte. Eine Bank, halb unter einem Fliederbusch versteckt. Sie faltete ihren Regenmantel zusammen, legte ihn unter ihren Kopf und streckte sich aus.

      Sie lag furchtbar unbequem, trotzdem schloß sie die Augen und versuchte einzuschlafen. Aber all die Aufregungen des vergangenen Tages wirbelten noch durch ihren Kopf.

      Noch wußte sie nicht, wie es weitergehen sollte. Sie wünschte sich von ganzem Herzen, daß Regine noch lebte. Wenn es so war, würde sie ihr selbstverständlich die Handtasche samt Inhalt zurückgeben. Wenn aber nicht — wenn sie verunglückt war …? Wem schadete sie damit, wenn sie die Sachen behielt? Regine würde es ihr bestimmt gegönnt haben, wenn sie darüber hätte entscheiden können. Sie hatte ja gewußt, wie unglücklich Eva zu Hause war.

      Eva war fast eingeschlafen, da hörte sie halblaute Stimmen: »Ihre Papiere, bitte!«

      Eva richtete sich kerzengerade auf. Eine Bank weiter blitzte eine Taschenlampe auf. Kriminalbeamte waren unterwegs! Unwillkürlich holte sie Regines Paß heraus. Aber wie sollte sie ihnen erklären, warum sie nicht zu Hause, sondern im Hofgarten schlief ?

      Kurz entschlossen erhob sie sich und rannte, so leise sie konnte, los. Sie drehte sich nach den Polizisten um und rannte geradewegs in jemanden hinein.

      »Hoppla«, sagte eine männliche Stimme, »warum so eilig?«

      »Bitte«, flehte Eva und hängte sich bei dem Fremden ein, »bitte, tun Sie so, als wäre ich Ihre Freundin!«

      »Was ist los …?«

      »Ich heiße Hannes Hausmann«, sagte der Fremde.

      Mühsam paßte sich Eva seinen großen Schritten an.

      Die Polizisten hatten inzwischen ein Gammlerpaar aufgescheucht. Aus den Gesprächsfetzen ging hervor, daß die beiden keinen festen Wohnsitz nachweisen konnten. Sie meuterten zwar heftig, leisteten aber keinen Widerstand, als sie von den beiden Beamten in die Mitte genommen wurden.

      Unwillkürlich versuchte Eva, ihren fremden Bekannten etwas seitlich an den Beamten vorbeizuziehen.

      Vielleicht war es gerade das, was die Aufmerksamkeit der beiden Polizisten erweckte. »Moment mal!« sagte der eine und beschrieb mit seiner eingeschalteten Stablampe einen Kreis.

      Eva und Hannes blieben sofort stehen.

      »Ihre

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