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      Eva sprang hoch, riß Regines Tasche und ihren Mantel an sich. Es brannte. »Regine!« schrie sie. »Regine!« Aber sie konnte die Musik nicht übertönen. »Feuer!«

      Jetzt merkten es auch die anderen. Die Tanzenden stürzten in alle Richtungen auseinander. Tische und Bänke wurden umgeworfen. Alle schrien und brüllten in Todesangst. Der ganze Saal stand in Flammen …!

      In diesem Flammenkessel verlor Eva ihre Freundin Regine aus den Augen und vergaß sie in den nächsten Sekunden vollkommen. Entsetzen hatte sie gepackt.

      Von der Decke fielen brennende Dekorationsstücke herunter. Schmerzensschreie übertönten die dröhnende Musik, die gespenstischerweise immer noch aus der Stereoanlage drang.

      Der Gestank nach verbrannter Dekoration, verbrannten Haaren mischte sich mit den dicken schwarzen Rauchschwaden.

      Eva drehte sich blitzschnell um, glitt über einen Tisch und sprang über Bänke und Stühle dem Ausgang zu. Erst dort wurde ihre Flucht von einer Menschentraube, die sich durch den Gang gekämpft hatte, völlig blockiert.

      Jetzt setzte die Stereoanlage schlagartig aus; Panische Schreie und das Knistern der Flammen wurden überlaut.

      Ein harter Gegenstand traf Eva auf den Hinterkopf. Sie wäre zusammengebrochen, wenn nicht zwei starke Arme sie aufgefangen hätten.

      »Laßt mich durch!« schrie eine schrille Mädchenstimme.

      »Halt die Klappe, du blöde Gans!« sagte der junge Mann, der Eva noch immer festhielt, mit ungewöhnlicher Ruhe. »Wer will das nicht?«

      Eva, halb betäubt von dem Schlag, den sie abbekommen hatte, nahm alles nur noch wie durch eine Nebelwand wahr. Verzweifelt riß sie die Augen auf, um klarer zu sehen. Gerade als sie dachte, jetzt ist alles aus, wurde sie von den Nachdrängenden weitergeschoben. Sie erreichten die weit geöffnete Tür. Mit einem fast explosionsartigen Druck wurden Eva und ihr Begleiter ins Freie geschleudert.

      Eva stolperte und wäre zu Boden gefallen, wenn der junge Mann sie nicht immer noch gehalten hätte. Er zog sie mit sich und ließ sie erst einige Meter vor der brennenden ›Remise‹ frei. Für einen Moment sah sie in ein Paar ungewöhnlich tiefblaue Augen.

      »Alles in Ordnung?« fragte er.

      »Ich glaube … ja«, erwiderte sie und mußte husten.

      »Dann sieh zu, daß du nach Hause kommst!«

      Ehe Eva ihrem Retter noch danken konnte, war er in der Nacht verschwunden. Unwillkürlich wich sie noch weiter zurück. Ihr Herz klopfte wie wild nach der ausgestandenen Angst, und ihr Mund war ausgetrocknet, ihre Stimme heiser.

      Die Flammen schlugen schon aus dem Dach des einstöckigen Gebäudes. Im Lichterschein sah man dunkle Gestalten hin und her rasen und sich zu Gruppen ballen.

      Eva hatte den Tod so nahe gesehen. Sie brauchte einige Minuten Zeit, um zu begreifen, daß sie noch einmal davongekommen war. Es war wie ein Wunder. Dann erst wurde ihr bewußt, daß sie Regines weiße Lackledertasche immer noch krampfhaft festhielt, und mit dieser Entdekkung kam die Erinnerung an ihre Freundin zurück.

      »Regine!« schrie sie. »Gina!«

      Sie rannte zum Eingang zurück. Aber da kam niemand mehr heraus. Alles war nur noch ein gierig loderndes Flammenmeer.

      Eva lief um die ›Remise‹ herum. Aus dem Notausgang torkelten ein paar rauchgeschwärzte Gestalten. Regine war nicht darunter.

      »Gina!« schrie Eva noch mal verzweifelt. Sie war nahe daran, sich den Weg zur Hölle zurückzubahnen.

      Dann aber dachte sie vernünftig. Wenn Regine noch drinnen war, konnte sie niemand mehr retten. Aber wahrscheinlich hatte sie sich, wie die meisten anderen, ins Freie gekämpft.

      Mit heulenden Martinshörnern fuhren Streifenwagen vor, Feuerwehrautos und Unfallautos folgten. Feuerwehrmänner bildeten eine Kette und drängten die Neugierigen zurück. Sanitäter betteten Bewußtlose und Verwundete auf Tragen. Ärzte vom Rettungsdienst leistetenmit Sauerstoffapparaten Erste Hilfe. Eva sah auch, wie verkohlte Gestalten in Zinksärge gelegt und in Leichenwagen fortgebracht wurden.

      Sie flehte einen Polizisten, der ihr den Weg versperrte, an: »Bitte lassen Sie mich durch! Ich muß meine Freundin finden! Ich muß doch wissen …«

      »Wahrscheinlich ist sie längst zu Hause und wartet auf dich!« sagte der Polizist beruhigend.

      »Aber wenn sie nun tot ist?«

      »Dann kannst du ihr auch nicht mehr helfen.«

      Eva gab auf. Ihr war ein anderer Gedanke gekommen: Regines Auto.

      Auf dem Parkplatz war es sehr dunkel. Nur noch wenige Autos standen dort.

      Eva fand Regines Zweisitzer rasch. Sie hatte so gehofft, daß er nicht mehr dasein würde. Resigniert sank sie neben dem Wagen auf den Boden. Das Vorhandensein des Autos bedeutete, daß Regine bewußtlos, verletzt oder tot war.

      Die Autöschlüssel! Vielleicht waren die Schlüssel in Regines Handtasche. Dann konnte sie ja gar nicht fahren.

      Sie wühlte im Dunkeln in der Tasche herum. Aber die Schlüssel waren nicht drin. Regine hatte sie wohl in der Hosentasche gehabt. Sie hätte also abfahren können.

      Mit einem tiefen Seufzer stand Eva auf. Es hatte keinen Sinn, länger zu warten. Morgen würde sie weiter nach Regine forschen, jetzt mußte sie heim.

      Aber dann dachte sie mit Schaudern an den Empfang, der sie dort erwarten würde. Sie war ausgebüxt, sie kam viel zu spät, und ihr Fahrrad war auch hin!

      Ach, sie sollten ihr doch den Buckel runterrutschen. Nach dem, was sie heute so erlebt hatte, würde sie die elterliche Schimpfkanonade auch noch überstehen.

      3

      Der Anhänger der Linie 6 war fast leer. Eva verlangte einen Fahrschein bis Bilk und zahlte aus ihrem Portemonnaie. Die Schaffnerin sah sie sonderbar an, und Eva wurde klar, daß mit ihrem Aussehen etwas nicht in Ordnung war. Sie öffnete Regines Tasche und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel. Ihr Gesicht war rußgeschwärzt. Mit einigen Tempo-Tüchern und Eau de Cologne gelang es ihr, den gröbsten Schmutz zu entfernen. Sie warf die Tücher in den Papierkorb und wollte den Spiegel zurückstecken, als ihr einfiel, daß sie jetzt, im Hellen, noch einmal nach dem Autoschlüssel suchen könnte.

      Sie fand ihn nicht, statt dessen fiel ihr Regines Paß in die Hände; in der gelben Hülle steckte der Führerschein. Ob Regine beides je noch brauchen würde …?

      Eva blätterte im Paß. Auf dem Foto sah Regine erheblich jünger aus, als Eva sie kannte. Kein Wunder, der Ausweis war am 22. September 1967 ausgestellt worden. Damals war Regine drei Jahre jünger, ihr Gesicht war runder gewesen, und sie hatte die Haare kürzer und mit einem Pony getragen, genau wie Eva heute.

      Plötzlich durchzuckte es sie: Das Foto hatte eine unverkennbare Ähnlichkeit mit ihr selber! Hastig las sie die Angaben auf der linken Seite. Beruf: Sekretärin. Geburtsort: Düsseldorf. Geburtsdatum: 28. September 1951. Wohnort: Düsseldorf. Gesichtsform: rund. Farbe der Augen: blau. Größe: 165 cm. Alles stimmte, alles traf auch auf sie zu — bis auf die Größe, und das war auch kein solcher Unterschied wie in Wirklichkeit. Inzwischen war Regine nämlich 172 cm geworden, und Eva war 169 cm groß. Die drei Zentimeter Unterschied zu damals würden bestimmt nicht auffallen.

      Plötzlich wurde es Eva bewußt, daß sie sich schon als Besitzerin dieses Ausweises fühlte. Sie erschrak über sich selber. Aber wenn Regine nicht mehr lebte, was konnte ihr dieser Paß noch nützen? Aber für sie, Eva, war er ein Schlüssel zur Freiheit und zur großen Welt.

      »Besondere Kennzeichen: keine«, las sie weiter. Auch das stimmte mit ihr überein.

      Eva blätterte um und las: »Dieser Ausweis ist gültig bis 22. September 1972.« Das bedeutete, daß sie ihn mehr als zwei Jahre benützen könnte. Wenn sie ihn behielt! Das war die große Frage. Sollte sie wirklich?

      Trotz

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