Скачать книгу

allem seinem Vermögen auszubreiten. Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählig zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.

       Königsberg in Preußen, den 30. Septemb. 1784.

3. Boëtius von Orlamünde (Ernst Weiß)

      Inhalt

       Teil I

       Teil II

       Teil III

Teil Eins

      Inhalt

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Kapitel 3

       Kapitel 4

       Kapitel 5

       Kapitel 6

       Kapitel 7

       Kapitel 8

       Kapitel 9

       Kapitel 10

       Kapitel 11

       Kapitel 12

       Kapitel 13

       Kapitel 14

      Kapitel Eins

      Ich heiße Boëtius Maria Dagobert von Orlamünde, oder besser gesagt, ich nenne mich Orlamünde. Das historische Geschlecht derer von Orlamünde ist im sechzehnten Jahrhundert ausgestorben. Orlamünde ist also hier bloß ein Name. Ich entstamme einem anderen uradeligen Geschlecht, das ich nicht nennen will. Trotz meines hochklingenden Namens bin ich nicht viel. Auch meine Eltern lebten in den erbärmlichsten Verhältnissen. Wußten sie es? Täuschten sie sich? Sie besaßen noch Reste früheren Glanzes, aber sie hungerten, und unser alter Diener David mit ihnen. Statt nun den Adel abzulegen und einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen und auf diese Weise die einfachste Folgerung aus dem Niedergang der einst mächtigen Herren von Orlamünde zu ziehen, bedachten sie mich, ihr einziges Kind, außer mit den Geschenken der Armut und Genügsamkeit noch mit dem wahrhaft unsinnigen Rufnamen Boëtius. Nicht genug daran. Sie glaubten in ihrer Verblendung, mir eine »fürstliche« Erziehung geben zu müssen. Man erzieht mich erst durch einen alten Abbé daheim, später bringt mich mein geliebter Vater in ein adeliges Knabenstift, wenn ich es so nennen kann, in eine groß angelegte Anstalt, in welcher die Sprossen der reinblütigen Häuser, die man aus irgendeinem Grunde zu Hause nicht erziehen will oder kann, eine standesgemäße Erziehung erhalten. Dieses adelige Knabenstift heißt Onderkuhle und liegt im östlichen Belgien, nicht weit von der Grenze.

      Unter diesen großen Herren verschwinde ich in dem ersten Jahre als der kleinste, der ärmste, der schüchternste und rothaarigste zugleich. Rothaarig – so klar das Wort und so scharf es einen Menschen äußerlich kennzeichnet – ist nicht ganz das rechte Wort. Zwar habe ich die lichtblauen, wie ausgewässerten Augen der meisten Rothaarigen. Wohl habe ich ihre buttercremefarbene, mit rotbraunen Sommersprossen gemusterte Haut, die feinen, langen Hände, die gestreckte, aber innerlich irgendwie verbogene Figur und knochenlose Körpergestalt, wie sie viele sehr blonde oder rothaarige Jünglinge haben, und diese Körperanlage ist es, die mich zum eleganten Tanze, zu jeder netten Verbeugung, zu jeder »adeligen Geste« unfähig macht. Man muß mich nur sehen, wie unbeschreiblich ungeschickt, geziert und unbehilflich ich, zum Staunen des Zeremonienmeisters, an meinem Ehrentage das letzte Jahrgangszeugnis aus der etwas zitternden, roten und weich aufgequollenen Hand des alten Direktors von Onderkuhle entgegennehme, der dabei, um mich nicht zu beschämen, mit seinen ebenfalls zitternden und leicht verglasten Augen wegsieht, während doch gerade sein fest auf mich gerichteter Blick die Kraft gehabt hätte, mir mein Selbstbewußtsein, meine gesunde männliche Haltung, mein Vertrauen auf mich und auf die bei aller Fürchterlichkeit doch wohlwollende Welt wiederzugeben. Nein, er sieht fort, in den Winkel, wo die alten blauen Schulfahnen hängen. Wozu eine Schule Fahnen besitzt, ist mir nie klargeworden. Zieht sie doch ebensowenig in Schlachten, als sie Veteranen, Verwundete und T. in ihren Reihen zählt. Aber die Fahnen sind da und aller Stolz. Der Haushofmeister, Zeremonienmeister und Lehrer der Etikette in einer Person (sein Name ist Garnier), er, der von einem russischen Leibeigenen und einer französischen Kammerzofe abstammen soll und der hier bei uns trotz seiner scheinbar ganz untergeordneten Rangstellung das ganze Heer der Ordonnanzen, Knechte und Verwaltungsorgane befehligt, dieser Mann reinigt sie jeden Morgen, bevor er seinen Inspektionsgang durch die Anstalt und durch unser Gut antritt. Und zwar tut er das in der Weise, daß er die schwarzen Fahnenstöcke mit einem weißen seidenen Lappen abreibt, dann mit der Daumenfläche wischend über die vergoldeten sechseckigen alten Schilder fährt, die an den Stöcken mit goldenen Nägeln befestigt sind. Nur die Fahnentücher reinigt er nicht, weil sie möglichst alt und ehrwürdig aussehen sollen. Er darf keine Bürste gebrauchen, er legt bloß die Falten in eine bessere Ordnung und läßt die blauen Fransen durch seine alten, »fürstlich« schönen, elfenbeinfarbenen, ringgeschmückten Finger rieseln.

      Was sollen diese Fahnen der adeligen Schule? Was soll der unsichere Blick des trunksüchtigen Direktors, des alten Herrn in seiner hochgeschlossenen Uniform, die der eines Kavallerieobersten ähnlich sieht, aber noch mehr Gold angestickt trägt als eine solche? Was soll ich, der auf einem Podium, nein, vor diesem, auf dem spiegelglatt parkettierten Fußboden steht? Ich hebe mein rechtes Bein schon auf den Katheder und nehme in der lächerlichsten Stellung von der Welt mein Zeugnis aus der Hand des störrisch wegblickenden Schulobermeisters entgegen. Wie entbehrt dies alles der Vernunft! Freilich ist es schön und regt bei manchen edlere Gefühle an. Auch findet diese Szene nicht in Deutschland, Österreich oder Schweden statt, den drei vernünftigsten Ländern Europas, sondern im katholischen Belgien, wo man auch dem Schein sein Recht läßt. Und Schein ist auch alles. Ich, der uradelige Aristokrat und Bettler, meine Zeugnisse, die nichts eines Zeugnisses Wertes bekunden (denn Reiten, Fechten, Schwimmen, Turnen beweist man nicht durch gestempelte Zeugnisse), der Direktor in seiner Oberstenuniform, der Pulver nie gerochen hat, die Fahnen, die man nicht abstauben darf, der Haushofmeister, der der eigentliche Meister der Schule ist, denn er beherrscht, wie so viele Dienende in der Welt, die andern, welche die Macht zu besitzen glauben, denen aber der Mut fehlt, sie anzuwenden.

      Ich lernte in der Schule von Onderkuhle (sie ist bei uns so weit berühmt, daß man nur zu sagen braucht, ich bin in Onderkuhle erzogen … ) bei meinen teuren Lehrern herrlich reiten. Es waren zwei Reitlehrer da, Absolvent des Kavalleriekursus in Brüssel war der eine, der andere ein ehemals preisgekrönter Herrenreiter; sie waren recht mit mir zufrieden. Dabei

Скачать книгу